S 9 AS 11/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 9 AS 11/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AS 3/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1.Die Klage wird abgewiesen. 2.Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt eine höhere Regelleistung der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Der am 00.00.1953 geborene Kläger ist alleinstehend. Auf seinen Antrag vom 15.09.2004 hin bewilligte die Agentur für Arbeit B1 ihm mit Bescheid vom 25.10.2004 ab dem 01.01.2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in Höhe vom monatlich 668,13.- Euro (Regelleistung 345.-; Kosten für Unterkunft und Heizung 323,13 Euro). Den am 23.12.2004 erhobenen, unter dem 14.01.2005 zurückgezogenen, neu eingelegten und mit verfassungsrechtlichen Bedenken begründeten Widerspruch wies die Agentur für Arbeit B2 hinsichtlich der Regelleistung (345,00 EUR) mit Bescheid vom 14.02.2005 als unbegründet zurück ohne sich auf die Versäumung der Widerspruchsfrist zu berufen.

Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage, mit der der Kläger sich nur noch gegen die Höhe der Regelleistung wendet. Seit dem 01.07.2005 ist die Beklagte der zuständige Leistungsträger.

Die Höhe der Regelleistung entspreche nicht den tatsächlichen Lebenshaltungskosten der Referenzgruppe (unterste 20 % der Haushalte) und gewährleiste das Existenzminimum nicht mehr; dies sei ein Verstoß gegen das Gebot zur Achtung der Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip.

Die der Regelsatzbemessung durch den Gesetzgeber vorausgegangene Bedarfsermittlung gehe von falschen Voraussetzungen aus (z. B. Bei den Ausgaben für Kleidung und Schuhe, für Kankenbehandlungskosten, für den Internetzugang und die Pkw-Nutzung).

Der Kläger beantragt schriftlich sinngemäß,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 25.10.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14.02.2005 zu verurteilen, ihm höhere Regelleistung der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie beruft sich auf § 20 II SGB II.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig. Insbesondere fehlt es trotz der rein abstrakten Klagebegründung ohne Darlegung eigener Betroffenheit nicht am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis, da der Kläger aus der von ihm gerügten Verfassungswidrigkeit des SGB II einen höheren Leistungsanspruch ableitet.

Die Klage ist unbegründet. Der Kläger ist durch die angefochtene Entscheidung der Beklagten nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da er keinen Anspruch auf höhere Regelleistung der Grundsicherung für Arbeitsuchende hat.

Ein solcher Anspruch ergibt sich nicht aus den Vorschriften des SGB II. Die Beklagte hat nach § 20 Abs. II SGB II die Regelleistung zutreffend auf 345,00 EUR festgesetzt.

Das Gericht ist aber auch nicht davon überzeugt, dass die Regelsatzhöhe den Kläger in verfassungwidriger Weise benachteiligt. Es braucht deshalb das Verfahren nicht auszusetzen und im Wege der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG) dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen.

Höhere Leistungen stehen dem Kläger auch unter Berücksichtigung seiner verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das SGB II nicht zu, denn die gesetzlichen Vorschriften über die Höhe des Arbeitslosengeldes II (Alg II) und insbesondere die gesetzlich festgeschriebene Begrenzung der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts für alleinstehende Hilfebedürftige auf 345.- Euro monatlich (§ 20 Abs. 2 SGB II) sind nicht verfassungswidrig.

Die gesetzlich festgeschriebene Höhe der Regelleistung (§ 20 Abs. 2 SGB II) und die hiermit verbundene Einschränkung des Leistungsumfangs für ehemalige Bezieher von Alhi, den das Vierte Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 (BGBl. I, 2954, sog. "Hartz IV") vorgenommen hat, beinhalten keinen Eingriff in die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG).

Aus der staatlichen Verpflichtung zu Schutz und Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsgrundsatz (Art. 20 Abs. 1 GG) folgt ein Anspruch des Einzelnen auf Gewährleistung der (wirtschaftlichen) Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein (BVerfG, Beschluss vom 29.05.1990, 1 BvL 20/84 = E 82, 60, 80 = SozR 3-5870 § 10 Nr. 1), d.h. auf Gewährleistung einer Lage, in der die "persönlichkeitsessentiellen Außenweltgüter" beschafft werden können (Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 44; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, 10. Aufl., 2004, Art. 1, Rn. 42). Einen Anspruch auf eine hierüber hinausgehende "angemessene" Versorgung des Einzelnen durch den Staat ergibt sich weder aus Art. 1 Abs. 1 GG noch aus einem anderen Grundrecht (Hofmann, a.a.O.). Daher obliegen alle sozialen Hilfen, die über die Gewährleistung der absolut unerlässlichen Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein hinausgehen, der Entscheidung des Gesetzgebers. Dem Gesetzgeber kommt hierbei ein weiter sozialpolitischer Gestaltungsspielraum zu (vgl. BVerfG a.a.O., ferner Beschluss vom 25.09.1992, 2 BvL 5/91 = E 87, 153, 170; Urteil vom 08.10.1985, 1 BvL 17/83 = E 70, 278, 288; Beschluss vom 13.01.1982, 1 BvR 848/77 = E 59, 231, 263; Beschluss vom 18.06. 1975, 1 BvL 4/74 = E 40, 121, 133; aus der Literatur Rothkegel, in: ders., Handbuch Sozialhilferecht – Existenzsicherung – Grundsicherung, 2005, Teil V, Kap. 4, Rn. 4 ff.); die Gerichte dürfen die Zielsetzungen und Wertungen des Gesetzgebers bereits aus Gründen der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht durch eigene ersetzen. Aufgrund dieses Gestaltungsspielraums ist der Gesetzgeber gerade nicht an ein bestimmtes Konzept und ein bestimmtes System von Sozialleistungen gebunden (vgl. ausführlich SG Schleswig, Beschluss vom 08.03.2005, S 6 AS 70/05 ER), solange Hilfsbedürftige nur in der Lage sind, ihren allernotwendigsten Lebensunterhalt aus den erbrachten Leistungen zu decken. Der Gesetzgeber ist insoweit nicht gehalten, einen einmal gewählten Mindeststandard der Fürsorge beizubehalten, solange die vorgenannten Vorgaben beachtet werden.

Angesichts dieses gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums greift auch der Einwand nicht durch, der Gesetzgeber habe sich bei der Festsetzung der Regelsätze nach § 20 Abs. 2 SGB II eines fehlerhaften Verfahrens bedient (so z. B. Sartorius, info also 2005, 56, 57 f. m.w.N.; einschränkend Däubler, NZS 2005, 225, 227 ff.) und seine Entscheidung nicht hinreichend transparent gemacht (ausdrücklich für eine Darlegungslast des Gesetzgebers bei Neustrukturierungen im Sozialleistungsrecht: Lang, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2005, § 20, Rn. 111): Ob ein Eingriff in die die Menschenwürde und ein Verstoß gegen den Sozialstaatsgrundsatz vorliegen, bemisst sich nicht danach, ob die dem Gesetzeserlass vorgelagerte politische Entscheidung konsistent und mit der erlassenen Vorschrift konsequent umgesetzt ist. Maßgeblich ist vielmehr allein, ob es zu einer Unterschreitung des von Artt. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG vorgegebenen Leistungsniveaus kommt. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zum Gestaltungsspielraum bei Erlass der Regelsatzverordnungen nach § 22 Abs. 2 Satz 1 des aufgehobenen Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), wonach die der Regelsatzfestsetzung zugrundeliegenden Wertungen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben vertretbar sein und die Regelsatzfestsetzung selbst auf ausreichenden Erfahrungswerten beruhen musste (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 18.12.1996, 5 C 47/95 = E 102, 366 ff. = ZFSH/SGB 1997, 609 ff), lässt sich auf die verfassungsrechtliche Würdigung von § 20 Abs. 2 SGB II nicht übertragen. Denn im SGB II erfolgt die Regelsatzbemessung druch gesetzliche Regelung während nach altem Recht die Vereinbarkeit einer Verordnung mit der generalklauselartigen gesetzlichen Vorgabe in § 12 Abs. 1 BSHG zu beurteilen war, die – anders als nun § 20 Abs. 2 SGB II – gerade keine bezifferte Vorgabe enthielt.

§ 20 Abs. 2 SGB II unterschreitet das verfassungsrechtlich vorgegebene Mindestleistungsniveau nicht.

Die genaue Bestimmung der Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins lässt sich nur unter Würdigung der Umstände des Einzelfalls beantworten (vgl. Lang, a.a.O., Rn. 113). Umstände des Einzelfalls sind vorliegend nicht dargelegt, so dass das Gericht schon in tatsächlicher Hinsicht nicht feststellen kann, dass dem Kläger mit dem Regelsatz des § 20 Abs. II SGB II ein menschwürdiges Dasein verwehrt ist. Hierzu fehlt jeder Vortrag, da sich der Kläger auf allgemeine Erwägungen beschränkt.

Allgemein ist zu sagen, dass sich die staatliche Gewährleistungspflicht nicht auf die bloße Sicherung der körperlichen Existenz ("das physiologisch Nortwendige") beschränkt (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 13.12.1990, 5 C 17/88 = E 87, 212, 214; Urteil vom 22.04.1970, V C 98.69 = E 35, 178, 180; aus der Literatur etwa Höfling, in: Sachs, GG, 2. Aufl., 1999, Art. 1, Rn. 25; Däubler, a.a.O., S. 226; Waltermann, Sozialrecht, 4. Aufl., 2004, Rn. 470) und auch die Gewährleistung eines "soziokulturellen Existenzminimums" (Rothkegel, a.a.O., Teil II, Kap. 3, Rn. 28) sowie einen Schutz vor öffentlicher Stigmatisierung und solzialer Ausgrenzung (BVerwG, Urteil vom 25.11.1993, 5 C 8/90 = E 94, 326, 333; Urteil vom 11.11.1970, V C 32.70 = E 36, 256, 258) beinhaltet. Bei der hierzu erforderlichen materiellen Ausstattung ist allerdings eine Beschränkung auf die niedrigste Ausstattungskategorie (und im Regelfall auf Gebrauchtware) zumutbar (BVerwG, Urteil vom 01.10.1998, 5 C 19/97 = E 107, 234, 239 m.w.N.; Däubler, a.a.O.).

Der Gesetzgeber hat in § 20 Abs. 2 SGB II beiden Komponenten des verfassungsrechtlich garantierten Leistungsniveaus Rechnung getragen; er hat insbesondere in § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II die verfassungsrechtliche Garantie auch der soziokulturellen Existenz berücksichtigt. Ergänzt wird § 20 Abs. 2 SGB II um eine Reihe von Handlungsinstrumenten, mit denen die Sozialverwaltung einer sozialen Stigmatisierung und Ausgrenzung der Hilfebedürftigen entgegen wirken kann. So sind zumindest manche der Fälle, in denen bereits unter Geltung des BSHG eine drohende soziale Ausgrenzung bei Leistungsverweigerung angenommen worden ist, im SGB II durch Leistungen außerhalb der Regelleistung abgedeckt: Dies gilt etwa für die Teilnahme an Klassenfahrten (§ 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II; vgl. BVerwG, Urteil vom 09.02.1995, 5 C 2/93 = E 97, 376, 378), für die Ausstattung mit Haushaltsgeräten (§ 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 a.E. SGB II, vgl. BVerwG, Urteil vom 01.10.1998, 5 C 19/97 = E 107, 234, 236) und für die Leistungen für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II). Individuellen Bedürfnissen des Hilfebedürftigen trägt das Gesetz etwa in § 21 Abs. 5 SGB II Rechnung. Auch wenn nach alledem Einzelfallkonstellationen theoretisch denkbar erscheinen, in denen einem Hilfebedürftigen auch unter Ausnutzung sämtlicher gesetzlicher Ansprüche kein menschenwürdiges Dasein mehr möglich ist, so ist im vorliegenden Fall doch weder dargetan noch ersichtlich, dass der Kläger seinen allernotwendigsten Lebensunterhalt nicht auch mit der Regelleistung decken kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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