S 20 SO 99/05 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 99/05 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, darlehensweise die gegenüber der Fa. FX1W GmbH bestehenden Energie- kostenschulden der Antragsteller in Höhe von 350,24 EUR zu übernehmen und diesen Betrag unmittelbar an das Energieversorgungsunternehmen auszuzahlen. Die Kosten der Antragsteller trägt der Antragsgegner.

Gründe:

I.

Die Antragsteller begehren die darlehensweise Übernahme von Energiekostenschulden durch den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung.

Die 1984 geborene Antragstellerin zu 1) und der 1979 geborene Antragsteller zu 2) sind erwerbsfähige Arbeitslose/Arbeitsuchende. Sie erhalten monatlich Arbeitslosengeld II in Höhe von 1033,00 EUR. Sie haben einen Vertrag mit der Fa. FX1W GmbH (T1) über die Lieferung von Strom und Gas; hieraus sind monatliche Abschläge von 87,- EUR zu leisten; es besteht aktuell ein Zahlungsrückstand in Höhe von 350,24 ¤. Am 12.07.2005 mahnte die Fa. FX1W GmbH die rückständigen Abschläge für April bis Juni an; als keine Zahlung erfolgte, wurden die Antragsteller am 01.08.2005 nochmals gemahnt und am 19.08.2005 ein Sperrauftrag erteilt; über die drohende Sperrung der Energiezufuhr wurden die Antragsteller vorher nochmals informiert. Als wiederum keine Zahlungen eingingen, sperrte die Fa. FX1W GmbH am 31.08.2005 den Strom zur Wohnung der Antragsteller. Die Stromsperre bewirkt zugleich die Unterbrechung der Gaszufuhr; die Antragsteller haben also in ihrer Wohnung seit dem 31.08.2005 weder Strom noch Gas zur Verfügung.

Die Antragsteller wandten sich daraufhin wegen der Übernahme der Energiekostenschulden an die Arbeitsgemeinschaft für die Grundsicherung Arbeitsuchender im Kreis B1 (B1 im Kreis B2). Diese empfahl ihnen am 13.09.2005, sich an das Energieversorgungsunternehmen zu wenden, um eine Ratenzahlung zu erreichen. Die Fa. FX1W GmbH ist jedoch, wie sie auch ausdrücklich gegenüber dem Gericht auf telefonische Anfrage erklärt hat, nicht bereit, eine Tilgung der Schulden in Raten zu akzeptieren; sie ist erst bereit, die Strom-/Gassperre wieder aufzuheben, wenn die Schulden vollständig beglichen sind oder eine verbindliche Zahlungszusage eines Leistungsträgers über die Gesamtschuld vorliegt.

Anteilseigner der Fa. FX1W GmbH sind die

S1, Rheinische Energie AG, L zu 43,40% Stadt T1 zu 14,28% Stadt F2 zu 13,19% RWE Q C1 zu 10,32% Kreis B2 zu 9,25% Kreis I zu 3,79% Stadt B3 zu 2,18% Stadt X2 zu 1,97% Stadt C2 zu 1,00% Kreis E zu 0,58% Gemeinde S3 Gemeinde T2 Stadt N Gemeinde J Gemeinde M1 Stadt M2 Gemeinde O Gemeinde B4 Stadt I Stadt H zu insg. 0,04%

Am 14.09.2005 wandten sich die Antragsteller an den Antragsgegner und setzten ihn über die Sperrung der Strom- und Gaszufuhr in Kenntnis. Sie wurden von ihm darauf hingewiesen, dass eine Übernahme rückständiger Energiekosten durch das Sozialamt nicht in Betracht komme.

Daraufhin haben die Antragsteller am 14.09.2005 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt mit dem Ziel der darlehensweisen Übernahme der Energiekostenrückstände durch den Antragsgegner. Dieser hat durch Bescheid vom 15.09.2005 eine Übernahme der Schulden abgelehnt mit der Begründung, die Antragsteller gehörten zum Kreis der Personen, die nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) als Erwerbsfähige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind und deshalb grundsätzlich keine Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) erhielten. Eine Übernahme der Energiekostenrückstände aus den Mitteln des SGB XII sei nicht möglich, da ein Anspruch auf Übernahme der Schulden nach § 23 Abs. 1 SGB II bestehe.

Die Antragsteller tragen vor, sie benötigten Strom zum Kochen, für das Licht, zur Wasserbereitung (Durchlauferhitzer), den Kühlschrank, die Waschmaschine, den Staubsauger und anderes mehr. Gas sei für die Heizung notwendig. Sie könnten sich zwar tagsüber bei der Oma und der Mutter des Antragstellers zu 2) aufhalten, jedoch nicht dort übernachten, da nicht genügend Platz sei. Sie könnten von diesen auch nicht unterhalten werden, da die Oma selbst nur eine kleine Rente und die Mutter Alg II beziehen. Wenn sie abends in ihrer Wohnung seien, müssen sie sich mit Taschenlampen und Kerzen behelfen; waschen sei nur mit kaltem Wasser möglich. Sie würden jetzt z.B. in einer Frittenbude essen, aber das sei kein Dauerzustand.

Die Antragsteller beantragt,

den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die bei der Fa. FX1W GmbH bestehenden Energiekostenrückstände in Höhe von 350,24 ¤ darlehensweise zu übernehmen und diesen Betrag unmittelbar an die Fa. FX1W GmbH auszuzahlen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Er ist - in Übereinstimmung mit dem Kreis B2 - der Auffassung, dass die Ansprüche von Arbeitslosengeld II-Beziehern abschließend im SGB II geregelt sind. Er meint, ein Anspruch der Antragsteller auf darlehensweise Übernahme von Energiekostenschulden ergebe sich aus § 23 Abs. 1 SGB II. Sollte der Stromversorger trotz einer Einverständniserklärung der Antragsteller, sowohl die laufenden Abschläge als auch die Tilgungsraten aus dem laufenden SGB II-Anspruch abzuzweigen und an den Stromversorger zu überweisen, und der Bereitschaft der B1 im Kreis B2, die Zahlungen im genannten Umfang sicherzustellen, die Strom-/Gaszufuhr sperren, sei diese Vorgehensweise rechtswidrig.

Die Antragsteller haben am 16.09.2005 eine vom Gericht vorgefertigte Erklärung unterzeichnet, in der sie sich damit einverstanden erklären, dass der monatliche Energiekostenabschlag von 87,- ¤ von ihrem laufenden Arbeitslosengeld II unmittelbar von der B1 im Kreis B2 abgezweigt und an die Fa. FX1W GmbH gezahlt wird, für den Fall einer darlehensweisen Übernahme der Energiekostenrückstände dieser Betrag durch den Antragsgegner direkt an die Fa. FX1W GmbH überwiesen wird und zum Zweck der Rückzahlung des Darlehens monatlich 30,- ¤ von der B1 im Kreis B2 unmittelbar an den Antragsgegner gezahlt werden.

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Antragsteller muss glaubhaft machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung &8211; ZPO), dass ihm ein Anspruch auf die geltend gemachte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass das Abwarten einer gerichtlichen Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren für ihn mit unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (Anordnungsgrund). Einstweilige Anordnungen kommen grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Beseitigung einer gegenwärtigen Notlage dringend geboten ist.

Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 34 Abs. 1 SGB VII. Zwar gehören die Antragsteller zum Kreis der Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind und deshalb grundsätzlich keine Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII erhalten. Von diesem in § 21 Satz 1 SGB XII und § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB XII normierten Grundsatz des Vorrangs der SGB II-Leistungen gegenüber den SGB XII-Leistungen sind jedoch ausdrücklich Leistungen nach § 34 SGB XII ausgenommen.

Die hiervon abweichende Auffassung des Antragsgegners und des Kreis B2 ist angesichts des eindeutigen Wortlauts in §§ 21 SGB XII, 5 Abs. 2 SGB II nicht nachvollziehbar. Gerade die in diesen Vorschriften gewählte Formulierung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses der Leistungen macht deutlich, dass der Gesetzgeber auch für Leistungsberechtigte nach dem SGB II die Übernahme von Schulden gemäß § 34 SGB XII zu Lasten der Sozialhilfeträger vorgesehen hat. Dass diesen Vorschriften ein gesetzgeberischer Wille und nicht nur ein bloßes Versehen zugrundeliegt, verdeutlicht auch die Vorschrift des § 22 Abs. 5 SGB II; danach ist die Übernahme von Schulden zu Lasten der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausdrücklich auf Mietschulden beschränkt unter der - im Vergleich zu § 34 SGB XII zusätzlichen - Bedingung, dass ohne Schuldenübernahme die Aufnahme einer konkret in Aussicht stehenden Beschäftigung verhindert würde. Liegt ein Fall des § 22 Abs. 5 SGB II - wie hier - nicht vor, kommt als Anordnungsanspruch § 34 SGB XII auch für SGB II-Leistungsberechtigte wie die Antragsteller in Betracht. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners haben die Antragsteller gegenüber der B1 im Kreis B2 auch keinen Anspruch auf Übernahme der Energiekostenschulden nach § 23 Abs. 1 SGB II. Nach dieser Vorschrift erbringt die Agentur für Arbeit (oder hier: die B1 im Kreis B2), wenn im Einzelfall ein von den Regelleistungen umfasster und nach den Umständen unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts weder durch das Vermögen noch auf andere Weise gedeckt werden kann, bei entsprechendem Nachweis den Bedarf als Sachleistung oder als Geldleistung und gewährt dem Hilfebedürftigen ein entsprechendes Darlehen. Diese Vorschrift ist nicht einschlägig, weil Energiekostenschulden kein von den Regelleistungen umfasster Bedarf ist.

Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB XII können Schulden übernommen werden, wenn dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Eine derartige Notlage ist anzunehmen, wenn die Lebensführung des Leistungsberechtigten in so empfindlicher Weise beeinträchtigt ist, dass der "Interventionspunkt" der Sozialhilfe erreicht wird (OVG Münster FEVS 51,89). Eine solche Notlage ist bei den Antragstellern zu bejahen. Sie haben seit mehr als zwei Wochen weder Strom noch Gas in ihrer Wohnung. Die Versorgung mit Energie gehört nach Lebensverhältnissen in Deutschland zum sozialhilferechtlich anerkannten Mindeststandard (OVG Münster FEVS 35,24; Grube/Wahrendorf, SGB XII-Kommentar 2005, § 34 Rn. 6 m.w.N.). Allerdings haben die Energieversorgungsunternehmen nach § 33 Abs. 2 der Verordnung über allgemeine Bedingungen für die Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden (AVBEltV) das Recht, insbesondere bei Nichterfüllung einer Zahlungsverpflichtung trotz Mahnung die Versorgung zwei Wochen nach Androhung einzustellen. Dies ist auch in der Rechtsprechung anerkannt (vgl. ausführlich: BGH Urteil vom 03.07.1991 &8211; VII ZR 190/90 = BGHZ 115, 99 = NJW 1991, 2645 = MDR 1991, 841 m.w.N.). Die Fa. FX1W GmbH hat die Zahlung der Stromschulden am 12.07.2005 angemahnt. Mit weitere Mahnung vom 01.08.2005 hat sie den Antragstellern eine letzte Frist zur Begleichung der Schulden eingeräumt und für den Fall der Nichtzahlung eine Stromsperre angedroht. Da die Antragsteller dieser Zahlungsaufforderung nicht nachkamen, hat das Stromversor-gungsunternehmen nach § 33 Abs. 2 Satz 1 AVBltV die Stromversorgung zur Wohnung der Antragsteller eingestellt. Unmittelbar damit verbunden ist auch die Einstellung der Gaszufuhr.

Die Antragsteller sind durch die Sperrung der Strom- und Gaszufuhr in ihrer Lebensführung empfindlich beeinträchtigt. Sie können nicht kochen, haben kein Licht, können keine Lebensmittel kühlen, ihre Wäsche nicht waschen und die Wohnung nicht putzen. Auch ist es nicht hinnehmbar, die Wohnung bei Dunkelheit mit Kerzen zu beleuchten; denn dabei besteht die Gefahr eines Wohnungs- bzw. Hausbrandes. Es ist nicht ersichtlich und auch weder von den Antragstellern noch vom Antragsgegner vorgetragen, wie diese Notlage anders als durch die Wiedereröffnung der Stromzufuhr zur Wohnung der Antragsteller behoben werden könnte.

Die Übernahme der Energiekostenschulden durch den Antragsgegner ist auch gerechtfertigt, da nur auf diese Weise die Strom- und Gaszufuhr zur Wohnung der Antragsteller wieder geöffnet werden kann. Denn die Fa. FX1W GmbH hat auf ausdrückliches Befragen des Gerichts erklärt, dass erst wieder Strom und Gas geliefert werde, wenn die gesamten Rückstände beglichen seien; einer Ratenzahlung werde nicht zugestimmt. Es kann dahinstehen, ob die Fa. FX1W GmbH im konkreten Fall der Antragsteller berechtigt ist, ein Zurückbehaltungsrecht auszuüben und eine Strom-/Gassperre zu verhängen, insbesondere ob diese Maßnahme vorliegend unverhältnismäßig ist (vgl. dazu LSG NRW, Beschluss vom 15.07.2005 - L 1 B 7/05 SO ER). Anders als in dem Fall, den das LSG NRW zu entscheiden hatte, sind weder der Antragsgegner noch der Kreis B2 rechtlich in der Lage, einen Eilbeschluss der Gesellschafterversammlung der Fa. FX1W GmbH des Inhalts herbeizuführen, dass die Fa. FX1W GmbH die Antragsteller erneut mit Strom und Gas beliefert und ihnen gegenüber kein Zurückbehahltungsrecht wegen rückständiger Energiekosten geltend macht, solange die laufenden Abschläge bezahlt und die Schulden in Raten getilgt werden. Der Antragsgegner und der Kreis B2 sind nämlich zusammen nur zu 11,43% an dem Energieversorgungsunternehmen beteiligt.

Der Anordnungsgrund für den Erlass einer einstweiligen Anordnung besteht darin, dass die Antragsteller seit mehr als zwei Wochen ohne Strom und Gas sind. Die von ihnen geschilderte Lebenssituation beeinhaltet eine zugespitzte existenzielle Notlage, die den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung rechtfertigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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