L 8 RJ 49/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 11 (12) RJ 227/98
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 RJ 49/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 RJ 246/05 B
Datum
Kategorie
Urteil
Bemerkung
Rev. d. Kl. durch Beschluss des BSG als unzulässig verworfen.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.02.2003 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten, ob bei der Altersrente der Klägerin eine weitere Beitragszeit von März 1940 bis Juli 1942 zu berücksichtigen ist.

Die am 00.00.1925 in L/Polen geborene Klägerin lebt heute in Israel. Sie ist als Verfolgte i.S.d. Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt.

Am 06.04.1992 beantragte sie bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) die Gewährung einer Altersrente. Sie gab an, sie habe von August 1942 bis Februar 1943 im Metallressort des Ghettos Lodz als Arbeiterin gearbeitet, ferner von Februar 1943 bis Juli 1944 als Näherin im dortigen Schneiderressort. Im Fragebogen für Ersatzzeiten gab sie an, sie sei von August 1942 bis Juli 1944 im Ghetto Lodz und von August 1944 bis Mai 1945 in verschiedenen Lagern gewesen. Von September 1939 bis August 1942 sei sie in ihrer Freiheit beschränkt gewesen, und zwar durch Verfolgung und Tragen des Judensterns.

Die BfA gab den Vorgang an die Beklagte ab.

Mit Bescheid vom 26.10.1992 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab, weil keine Beiträge zur deutschen Rentenversicherung nachgewiesen seien. Im Ghetto seien lediglich Zwangsarbeiten verrichtet worden, die nicht der Versicherungspflicht unterlegen hätten.

Die Klägerin legte Widerspruch ein und legte eine als Versicherung an Eides Statt überschriebene schriftliche Erklärung der am 00.07.1914 geborenen T N vom 24.01.1993 vor. Darin ist ausgeführt, die Zeugin habe die Klägerin im Ghetto Lodz kennen gelernt, sich ihrer angenommen, sie beraten und ihr geholfen. So hätten sie sich trotz des Altersunterschiedes angefreundet. Sie könne bezeugen, dass die Klägerin zuerst von August 1942 bis Februar 1943 im Metallressort und anschließend bis Juli 1944 im Schneiderressort gearbeitet habe. Die Klägerin habe wie sie alle Ghettomarken als Entgelt erhalten, und es sei ihnen auch gesagt worden, dass die Sozialabgaben für sie bezahlt würden.

Die Klägerin legte ferner eine als Versicherung an Eides Statt überschriebene Erklärung der am 00.08.1924 geborenen H L vom 18.01.1993 vor. Danach ist die Zeugin zusammen mit der Klägerin ins Ghetto gekommen und dort mit ihr bis zur Aussiedlung verblieben. Sie seien in dieser Zeit sehr viel zusammen gewesen und bis heute gute Freundinnen geblieben. Ihr sei aus eigener Wahrnehmung bekannt, dass die Klägerin von August 1942 bis Februar 1943 im Metallressort und anschließend bis Juli 1944 im Schneiderressort gearbeitet habe. Wie sie alle habe auch die Klägerin als Entgelt Ghettomarken erhalten. Man habe ihnen gesagt, dass auch die Sozialabgaben für sie bezahlt würden.

Die Beklagte zog die Entschädigungsakte der Klägerin bei und nahm daraus Kopien zu ihrer Akte:

Die am 00.07.1912 geborene E1 E, geb. U, hatte unter dem 07.07.1953 eidesstattlich u.a. versichert (zweifach in verschiedener Abschrift), sie habe die Klägerin im Oktober 1939 kennen gelernt. Die Klägerin habe damals in dem selben Schneidershop in der Stadt Lask/Polen zu arbeiten begonnen, in dem sie - die Zeugin - nach dem Einmarsch der Deutschen zu unentgeltlichen Arbeit gezwungen worden sei. Sie hätten sich täglich bei der Arbeit gesehen und hätten bis August 1942 zusammen gearbeitet. Im August 1942 seien die Insassen des Ghettos (Lask) in das Ghetto Lodz überführt worden. Sie - die Zeugin - habe im August 1942 dort in einem Schneidershop zu arbeiten begonnen und die Klägerin dort täglich gesehen, weil sie in der Küche gearbeitet habe, welche die Arbeiter ihrer Werkstätte mit Essen versorgt habe. Sie habe sie dort bis August 1944 bei der Arbeit gesehen, als beide zusammen nach Auschwitz abtransportiert worden seien. Von dort seien sie zusammen nach Bergen-Belsen und im Oktober 1944 nach Buchenwald gekommen. Später seien sie ins Kommando Elsnig überstellt worden, wo sie zusammen bis März 1945 in der dortigen Munitionsfabrik gearbeitet hätten. Sie seien dann zusammen in einen Evakuierungstransport geraten und Ende April 1945 in Sedin bei Berlin befreit worden.

Die am 00.12.1925 geborene S C geb. K hatte unter dem 07.07.1953 eidesstattlich u.a. versichert (zweifach in verschiedener Abschrift), sie habe ab Oktober 1939 zusammen mit der Klägerin in einem Schneidershop in Lask zwangsweise und unentgeltlich gearbeitet und sich täglich gesehen. Sie hätten bis August 1942 zusammen gearbeitet und seien dann nach dem Ghetto Lodz übergesiedelt. Sie - die Zeugin - habe dort in einem Schneidershop gearbeitet und die Klägerin täglich gesehen, weil sie in der Küche gearbeitet habe, welche die Arbeiter dieser Werkstätte mit Essen versorgt habe. Sie habe die Klägerin bis August 1944 bei der Arbeit gesehen, dann sei sie - die Zeugin - nach Auschwitz abtransportiert worden.

Die Klägerin hatte am 07.09.1958 im Entschädigungsantrag wegen Freiheitsschadens u.a. angegeben, sie habe seit dem 01.12.1939 das vorgeschriebene Judenkennzeichen tragen und Zwangsarbeit verrichten müssen. Im März 1940 habe sie ins Ghetto Lask ziehen und dort Zwangsarbeit leisten müssen. Im März 1942 sei sie in das Ghetto Lodz überstellt worden, wo sie ebenfalls Zwangsarbeit verrichtet habe. Unter dem 07.07.1953 hatte die Klägerin eidesstattlich u.a. versichert, sie habe nach dem deutschen Einzug 1939 im Ghetto Lask gewohnt. Im März 1940 sei sie zur unentgeltlichen Arbeit in einem Schneidershop gezwungen worden, wo sie bis August 1942 gearbeitet habe. Dann sei sie ins Ghetto Lodz übersiedelt worden. Ende August 1942 habe sie in der Küche zu arbeiten begonnen, die sich bei einem Schneidershop befunden und Essen für die dort Tätigen gekocht habe. Sie habe dort bis August 1944 gearbeitet, als sie nach Auschwitz abtransportiert worden sei. Nach einigen Tagen sei sie nach Bergen-Belsen weitergeleitet worden, von dort im Oktober 1944 ins Konzentrationslager Buchenwald, Kommando Elsnig. Dort habe sie bis März 1945 in einer Munitionsfabrik gearbeitet. Im März 1945 sei sie in einen Evakuierungstransport geraten, habe sich einige Wochen unterwegs befunden und sei am 25.04.1945 in Sedin bei Berlin befreit worden. Diese Angaben hatte die Klägerin in einer insoweit inhaltsgleichen eidlichen Erklärung vom 31.05.1956 nochmals gemacht (u.a. betr. die Zeit von März 1940 bis August 1942 " ... wurde ich gezwungen zur unentgeltlichen Arbeit in einem Schneidershop ..."). In einer weiteren eidlichen Erklärung vom 07.09.1958 hatte die Klägerin u.a. angegeben, seit dem 01.12.1939 habe sie zwei gelbe Judensterne an Brust und Rücken tragen müssen. Gleichzeitig sei sie zur täglichen, unentgeltlichen Zwangsarbeit eingesetzt worden, bei der sie sehr oft von den Deutschen misshandelt worden sei. Sie sei auch in ihrer Bewegungsfreiheit sehr beschränkt worden. Im März 1940 habe sie ins Ghetto Lask ziehen und dort Zwangsarbeit in einem Schneidershop verrichten müssen. Im August 1942 sei sie in das Ghetto Lodz überstellt worden, wo sie in der Küche zwangsbeschäftigt gewesen sei. Im August 1944 sei sie nach Auschwitz abtransportiert, nach einigen Tagen dann nach Bergen-Belsen weitergeleitet worden. Anschließend sei sie ins KZ Buchenwald, Kommando Elsnig gekommen, wo sie in einer Munitionsfabrik Zwangsarbeit geleistet habe. Im März 1945 sei sie in einen Evakuierungstransport eingereiht worden, habe sich einige Wochen unterwegs befunden und sei endlich am 25.04.1945 in Sedin bei Berlin befreit worden.

Der am 00.07.1919 geborene E M hatte am 07.09.1958 eidlich u.a. erklärt, er kenne die Klägerin noch aus der Vorkriegszeit. Im März 1940 sei in Lask das dortige Ghetto errichtet worden, wo er mit der Klägerin zusammen inhaftiert gewesen sei. Sie hätten dort (weiterhin) zwei gelbe Judensterne getragen und Zwangsarbeit verrichtet. Er sei im März 1942 ins Zwangsarbeitslager Nekla bei Posen verschickt worden; damals seien ihre Wege auseinander gegangen.

Die am 00.05.1924 geborene H L geb. L1 hatte unter dem 14.05.1954 u.a. erklärt, sie kenne die Klägerin seit ihrer Jugendzeit und sei seither mit ihr befreundet. Sie hätten vor der Verfolgung beide in Lask gelebt. Etwa im Frühjahr 1940 hätten sie ins Ghetto Lask ziehen müssen. Die Klägerin habe, wie sie selbst, seit Dezember 1939 Zwangsarbeiten geleistet, die sich auch im Ghetto Lask fortgesetzt hätten. Im Sommer 1942 seien sie zusammen in das Ghetto Lodz überstellt worden. Im Sommer 1944 hätten sich ihre Wege getrennt.

Mit Schreiben vom 28.01.1998 teilte die Beklagte den Bevollmächtigten der Klägerin mit, Arbeitszeiten im Ghetto Lodz vom 01.08.1942 bis 31.07.1944 würden als glaubhaft gemachte Beitragszeiten, Zeiten vom 18.11.1939 bis 31.07.1942 und vom 01.08.1944 bis 15.04.1945 als Verfolgungsersatzzeiten anerkannt. Die Klägerin möge mitteilen, ob der Widerspruch zurückgenommen werde. Die Klägerin nahm daraufhin mit Schriftsatz vom 13.02.1998 den Widerspruch zurück.

Mit Bescheid vom 08.04.1998 bewilligte die Beklagte "aufgrund des Anerkenntnisses vom 28.01.1998" der Klägerin Regelaltersrente ab dem 01.04.1992. Die laufende Zahlung betrage ab 01.05.1998 monatlich 119,87 DM.

Die Klägerin legte hiergegen Widerspruch ein und legte zur Begründung einzig eine als "wahrheitsgemäße Erklärung" überschriebene maschinenschriftliche, von der Klägerin unterzeichnete Erklärung vom 16.06.1998 vor. Darin ist ausgeführt, sie sei bald nach Kriegsausbruch im September 1939 mit ihren Eltern von L nach Lask geflohen. Dort habe sie wie alle Juden ins Ghetto ziehen müssen. Sie habe dort im Schneiderressort als Näherin gearbeitet. Dies sei ab Anfang 1940 bis August 1942 gewesen, bis das Ghetto Lask liquidiert worden sei und sie ins Ghetto Lodz hätten ziehen müssen. Das Entgelt dort hätten sie in deutscher Währung bekommen, und vom Entgelt seien verschiedene Abzüge gemacht worden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 01.09.1998 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 08.04.1998 zurück. Eine weitere Beitragszeit von 1940 bis August 1942 sei nicht zu berücksichtigen. Im Gegensatz zur jetzt vorgelegten Erklärung vom 16.06.1998 hätten die Klägerin und ihre Zeugen im Entschädigungsverfahren angegeben, im Ghetto Lask zu einer unentgeltlichen Arbeit zwangsweise herangezogen worden zu sein. Dies sei nicht mit einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis vereinbar.

Hiergegen hat die Klägerin am 24.09.1998 Klage erhoben und vorgetragen, bereits aus der Entschädigungsakte ergebe sich, dass sie nicht nur im Ghetto Lodz, sondern auch im Ghetto Lask beschäftigt gewesen sei. Es dürfe davon ausgegangen werden, dass die Juden dort Tariflöhne unter Berücksichtigung eines bestimmten Abzuges erhalten hätten. Die Zeugen H L, E M und E1 E hätten auch keineswegs in ihren Aussagen von unentgeltlicher Tätigkeit gesprochen. In den damaligen Entschädigungsverfahren sei überdies nicht sehr genau gearbeitet worden. Die Erklärungen seien vielfach von damaligen Prozessvertretern vorformuliert worden; Einwände der Antragsteller, dass der Sachverhalt nicht ganz den Tatsachen entspreche, seien mit dem Argument nicht berücksichtigt worden, die eine oder andere Formulierung könne anspruchsschädlich sein. Die Antragsteller hätten damals auch nicht immer großes Interesse daran gehabt, den Sachverhalt vollständig vorzutragen, da sie sich in Israel aus den Entschädigungsleistungen eine neue Existenz hätten aufbauen wollen. Diese Vorgehensweise könne man allenfalls den damaligen Bevollmächtigten, nicht aber den Antragstellern vorwerfen, da sie nach schwerem Verfolgungsschicksal nicht mehr allzu viel mit deutschen Behörden hätten zu tun haben wollen. Die damaligen Prozessvertreter hätten "also weitgehend eigenverantwortlich" gehandelt, so dass etwaige Widersprüche in den Aussagen nur ihnen, nicht den Antragstellern zugeschrieben werden könnten. Sie könne sich nicht mehr entsinnen, weshalb sie seinerzeit eine Unentgeltlichkeit angegeben habe. Später hat sie vorgetragen, ihre Erklärung vom 07.09.1958, in der sie von unentgeltlicher Zwangsarbeit gesprochen habe, beziehe sich insoweit auf den Zeitraum von Dezember 1939 bis Februar 1940, nicht aber auf die Zeit von März 1940 bis Juli 1942. Sie hat eine weitere als wahrheitsgemäß bezeichnete maschinenschriftliche, von ihr unterschriebene Erklärung vom 03.10.1999 vorgelegt. Danach habe sie im Ghetto Lask ihre Arbeit von der Jüdischen Verwaltung zugeteilt bekommen, und zwar im Schneiderressort. Zu Mittag habe man einen Teller Suppe und ein Stück Brot erhalten, am Wochenende einen kleinen Auszahlbetrag, nach bereits vorgenommenen Abzügen. Es werde die Vernehmung der Zeugin L beantragt, die als einzige Zeugin noch zur Verfügung stehe.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 08.04.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 01.09.1998 zu verurteilen, der Klägerin höheres Altersruhegeld unter Berücksichtigung einer weiteren Beitragszeit von März 1940 bis Juli 1942 zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat auf ihren Widerspruchsbescheid Bezug genommen. Zwar sei eine Tätigkeit der Klägerin im Schneidershop des Ghettos Lask von März 1940 bis Juli 1942 unabhängig von ihrer rechtlichen Einordnung als glaubhaft gemacht anzusehen. Die Klägerin habe im Ghetto Lask jedoch lediglich unentgeltliche Zwangsarbeit geleistet. Jetzige Erklärungen könnten die Widersprüche zu den Angaben im Entschädigungsverfahren nicht ausräumen. Die Zeugin L habe in ihrer eigenen Entschädigungsangelegenheit von schwerster Zwangsarbeit bei elender Ernährung (eigene Erklärung vom 24.05.1961) gesprochen. Ein Bericht eines Dr. H vom 21.01.1963 beinhalte die Redewendung "zwangsweise in einem Schneidershop gearbeitet". Aus der gesamten Entschädigungsakte gehe nicht hervor, dass in irgendeiner Form Entgelt gezahlt worden sei. In diesem Punkt sei der Vortrag mit dem der Klägerin deckungsgleich. Die Beklagte hat eine anonymisierte Zeugenerklärung aus einem dritten Verfahren vom 27.07.1992 vorgelegt. Darin ist über die Tätigkeit im Schneiderressort des Ghettos Lask die Rede von Zwangsarbeit, wobei die Arbeit unentgeltlich und die erhaltene Verpflegung eine Hungerverpflegung gewesen sei.

Das Sozialgericht hat mit schriftlichem Einverständnis der Zeugin die Verwaltungsakte der Beklagten betreffend H L beigezogen, ferner die für sie geführte Entschädigungsakte.

Das Sozialgericht hat die Zeugin H L im Wege der Rechtshilfe in Israel vernehmen lassen. Die Zeugin hat dabei u.a. ausgesagt, soweit sie wisse, habe die Klägerin im Schneiderressort des Ghettos Lask gearbeitet; sie habe Uniformen fertiggestellt. Soweit sie sich erinnere, habe die Klägerin in der Schneiderei ab dem Jahre 1940 angefangen zu arbeiten, der Monat sei ihr nicht erinnerlich. Sie habe dort bis zur Umsiedlung ins Ghetto Lodz gearbeitet, das sei im August 1942 gewesen. Die Klägerin habe nicht aus Zwang gearbeitet, aber wie alle seien sie daran interessiert gewesen zu arbeiten, weil es nichts anderes zu tun gegeben habe. Es sei ihr nicht in Erinnerung, dass auf die Klägerin Druck ausgeübt worden sei. Auf dem Weg zur Arbeit habe es jüdische Polizisten als Begleiter gegeben; eine Bewachung während der Arbeitszeit sei ihr nicht erinnerlich, aber die Arbeitgeber hätten schon geguckt und beobachtet. Druck und Zwang sei dadurch zum Ausdruck gekommen, dass es verboten gewesen sei, das Ghetto zu verlassen. Die Klägerin habe einen Lohn bekommen. Sie - die Zeugin - glaube, dass dies Lohn in Geld gewesen sei, aber sie erinnere sich nicht genau. Der Lohn sei in polnischer Währung gezahlt worden. Die Höhe des Lohnes sei ihr nicht erinnerlich. Essen sei ins Ghetto gebracht worden, und die Familien hätten mit dem Geld Essen gekauft. Wegen des weiteren Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Übersetzung des Vernehmungsprotokolls vom 16.07.2002 Bezug genommen.

Mit Urteil vom 11.02.2003 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Kammer glaube nicht, dass das Beschäftigungsverhältnis der Klägerin im Ghetto Lask ein entgeltliches gewesen sei. Zwar trage die Klägerin jetzt vor, sie habe neben Lebensmitteln auch eine Barvergütung erhalten. Dies habe auch die Zeugin L bei ihrer Vernehmung bestätigt. Der Wahrheitsgehalt dieser Erklärungen werde jedoch wegen anderslautender Angaben im Entschädigungsverfahren angezweifelt. Damals habe die Klägerin, gestützt durch Zeugenerklärungen, vorgetragen, im Ghetto Lask unentgeltliche Zwangsarbeit ausüben gemusst zu haben. Die Zeugin L habe in ihrem Entschädigungsverfahren gleichfalls eine unentgeltliche Zwangsarbeit im Ghetto Lask angegeben. Diese Widersprüche habe die Klägerin nicht nachvollziehbar erklärt. Insbesondere überzeuge es nicht, wenn es sich um Angaben ihres seinerzeitigen Bevollmächtigten gehandelt haben solle. Denn die eidesstattliche Versicherung sei von der Klägerin persönlich unterzeichnet worden. Hinsichtlich der Angaben der Zeugin L beständen Bedenken, da diese nicht frei von eigenem Interesse hätten gemacht werden können. Im Verfahren der Zeugin gegen die Beklagte sei gleichfalls streitig, ob sie im Ghetto Lask eine entgeltliche Beschäftigung ausgeübt habe. Sowohl das Verhalten der Klägerin als auch das der Zeugin L im Rentenverfahren spreche dagegen, dass die Beschäftigung in Lask unter ähnlichen Bedingungen erfolgt sei wie in Lodz. Klägerin und Zeugin hätten den Rentenanspruch zunächst nur auf die Beschäftigung im Ghetto Lodz gestützt. Dies sei nicht erklärlich, wenn die Beschäftigung im Ghetto Lask zu ähnlichen Bedingungen - insbesondere mit Barentlohnung - erfolgt sei. Gerade der Umstand, dass die Tätigkeit im Ghetto Lask im Rentenverfahren zunächst nicht erwähnt worden sei, spreche dafür, dass auch in den Augen der Klägerin und der Zeugin L ein wesentlicher Unterschied zwischen den in den verschiedenen Ghettos ausgeübten Beschäftigungen bestanden habe.

Gegen das am 26.03.2003 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 07.04.2003 Berufung eingelegt.

Mit Bescheid vom 18.02.2004 hat die Beklagte einen im Berufungsverfahren gestellten Antrag der Klägerin auf Anerkennung der Zeiten im Ghetto Lask nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) abgelehnt; die Angaben der Zeugen im früheren Entschädigungsverfahren ließen den Schluss zu, dass es sich im Ghetto Lask nicht um eine aus eigenem Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung gegen Entgelt gehandelt habe. Vielmehr habe es sich um Zwangsarbeit gehandelt.

Die Klägerin trägt vor, sie gehöre zu den 760 von 3500 Beschäftigten des Ghettos Lask, die nach Mogilanski (The Ghetto Anthology, Los Angeles: American Congress of Jews from Poland, 1985) bei Liquidation des Ghettos Lask eine Selektion überlebt hätten. Zwar spreche diese Veröffentlichung nicht von Entgeltlichkeit der Beschäftigung; aus ihr gehe jedoch hervor, dass Juden in Werkstätten beschäftigt gewesen seien und eine Gruppe von 760 Beschäftigten nach Lodz transferiert worden sei, während die übrige Ghettobevölkerung ermordet worden sei. In Provinzghettos seien Juden auch nicht derart dem Hunger ausgesetzt gewesen wie im Ghetto Lodz. Wenn sie im Entschädigungsverfahren den Ausdruck "Zwangsarbeit" benutzt habe, so sei damit nicht Zwangsarbeit im Rechtssinne gemeint gewesen. Wenn sie von Unentgeltlichkeit gesprochen habe, so sei dem keine besondere Bedeutung beizumessen, zumal auch im Ghetto Lodz die Rede von Zwangsbeschäftigung und Zwangsarbeit, nicht jedoch von Bezahlung gewesen sei. Für Lask habe sie unentgeltliche Arbeit angegeben, für Lodz fehlten hierzu Angaben. Im Gesamtzusammenhang solcher Erklärungen müsse jedoch gesehen werden, dass das Entgelt in den Ghettos so niedrig gewesen sei, dass es praktisch nicht wahrgenommen worden sei. Wären die Verhältnisse in Lodz grundsätzlich andere gewesen, hätte sie sehr wohl ausgeführt, im dortigen Ghetto endlich den ersehnten Arbeitslohn für ihre Beschäftigung erhalten zu haben. Das habe sie aber gerade nicht gemacht. Diesen Aspekt habe das Sozialgericht übersehen, wenn es aus der Angabe "unentgeltlich" geschlossen habe, dass tatsächlich ein Entgelt nicht gezahlt worden sei. Auch die Rentenversicherungsträger verträten in einem Ergebnispapier zum ZRBG die Auffassung, es sei verständlich, wenn Beschäftigungen aufgrund der allgemeinen Bedingungen in einem Ghetto subjektiv als Zwangsarbeit empfunden worden seien, auch zur Frage der Entlohnung sei es verständlich, wenn geringe Bezüge nicht als angemessene Entlohnung für geleistete Arbeit empfunden würden und daher früher verneint worden seien. Im Übrigen sei die Beklagte im Fall der Zeugin H L durch rechtskräftiges Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 29.07.2004 - S 15 RJ 123/02 verurteilt worden, eine Beitragszeit der Zeugin im Ghetto Lask von Januar 1940 bis August 1942 als Beitragszeit zu berücksichtigen. Die Beklagte habe das Urteil mit Bescheid vom 05.11.2004 ausgeführt.

Mit Schriftsatz vom 22.08.2005 trägt die Klägerin unter Beifügung zahlreicher Anlagen vor, Juden seien seinerzeit keineswegs nach Belieben und ohne rechtliche Grundlage fernab jeder Tarifregelung bezahlt worden. Die Höhe des von der Klägerin damals zu beanspruchenden Lohnes richte sich nach den für die Uniformmaßschneiderei bzw. ab dem 02.03.1941 für die Uniformindustrie geltenden Tarifordnungen i.V.m. einer die Lohnhöhe der Juden abschließend bestimmenden Anordnung vom 15.09.1940. Die Klägerin legt insoweit in Kopie u.a. die Tarifordnung für die Uniformmaßschneiderei im Reichsgau Wartheland vom 06.06.1940 sowie die Tarifordnung für die Uniformindustrie im Reichsgau Wartheland vom 23.12.1940 vor. Hinsichtlich der Anordnung vom 15.09.1940 bezieht sie sich auf einen ebenfalls vorgelegten Aktenvermerk der "Hauptabteilung Wirtschaft" vom 09.05.1941, der eine vom Reichstreuhänder der Arbeit in Posen erlassene Anordnung von diesem Tag erwähnt, nach der jüdischen Beschäftigten 35% des Tariflohnes auszuzahlen seien, während der Restbetrag von 65% an eine andere (näher beschriebene) deutsche Stelle überwiesen werden solle. Betroffene würden heute um so schlechter gestellt, je schlechter es ihnen damals bei ihrer Arbeit ergangen sei. Für juristische Laien müsse dies gespenstisch anmuten. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 22.08.2005 nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.02.2003 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 08.04.1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.09.1998 sowie unter Aufhebung des Bescheides vom 18.02.2004 zu verurteilen, die Regelaltersrente unter Berücksichtigung einer Beitragszeit im Ghetto Lask von 1940 bis August 1942 neu zu berechnen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Sie ist bei ihrer Ansicht verblieben. Auf Anfrage des Senats hat sie mitgeteilt, es möge dahinstehen, ob ihre Entscheidung, im Fall der Zeugin L gegen das der Klage stattgebende Urteil keine Berufung einzulegen, zutreffend gewesen sei. Immer sei jedoch die Entscheidung von der Sach- und Beweislage im Einzelfall und der Sicht des Beurteilers abhängig. Aus der Verfahrensweise im Falle der Zeugin könnten jedenfalls keine Rückschlüsse auf den Fall der Klägerin gezogen werden. Immerhin liege bei der Klägerin ein klageabweisenden Urteil vor, und die Klägerin trage die Beweislast.

Der Senat hat die Entschädigungsakte der Klägerin beigezogen. Weitere als die bereits genannten Erkenntnisse ergeben sich daraus nicht.

Der Senat hat die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Gerichtsakte S 15 RJ 123/02 betreffend die Zeugin H L beigezogen:

In der Gerichtsakte findet sich eine Kopie der Vernehmung der Zeugin vom 16.07.2002 im jetzigen Verfahren der Klägerin, ferner Kopien der Erklärungen der Zeugin vom 18.01.1993 im jetzigen Rentenverfahren der Klägerin und vom 17.09.1958 im Entschädigungsverfahren der Klägerin.

Es findet sich ferner in Übersetzung eine Vernehmung der Zeugin (in ihrer Eigenschaft als Klägerin) vom 21.05.2003. Die Zeugin hat u.a. ausgesagt, sie habe sich in Lask die Tätigkeit in der Schneiderei durch dortige eigene Nachfrage besorgt; es sei keine Zwangsarbeit gewesen, sondern sie habe dort freiwillig gearbeitet. Sie sei auf den Arbeitswegen nicht von Polizisten oder Soldaten bewacht worden; die Schneiderei sei innerhalb des Ghettos gewesen. Auch in der Schneiderei habe es keine Bewachung gegeben; nur am Eingang sei eine Wache der jüdischen Polizei gewesen. In der Schneiderei sei kein Zwang ausgeübt worden. Sie sei in deutscher Währung bezahlt worden. An die Höhe des Lohnes könne sie sich nicht erinnern. Er sei wöchentlich gezahlt worden; weitere Vergünstigungen wie Essen oder Kleidung habe es nicht gegeben. Nach Konfrontation mit ihrer Aussage vom 16.07.2002 hat die Zeugin (als Klägerin) ausgesagt, sie erinnere sich jetzt, dass die Schneiderei außerhalb des Ghettos gelegen habe.

Ferner wurde am 21.05.2003 im Verfahren der Zeugin L die jetzige Klägerin J M1 als Zeugin vernommen. Sie hat u.a. bekundet, die Zeugin und sie hätten in der Schneiderei des Ghettos mit Ausnahme eines Ruhetages pro Woche täglich mindestens acht Stunden gearbeitet. Sie wisse nicht, wie sich die Zeugin die Arbeit besorgt habe. Im allgemeinen und auch in ihrem eigenen Fall habe der Judenrat zur Meldung in seinem Büro aufgerufen, und dort seien die verschiedenen Arbeiten eingeteilt worden. Sie selbst habe man an die Schneiderei vermittelt. Es sei eine Zwangsarbeit gewesen, da sie Angst und keine andere Wahl gehabt habe. Sie habe auch etwas Geld verdienen und nicht an unbekannte Orte deportiert werden wollen. Die Schneiderei selbst habe außerhalb des Ghettos gelegen. Die Arbeitswege seien von jüdischen Ghettopolizisten begleitet worden. Auch außerhalb des Gebäudes mit der Schneiderei habe es einige unbewaffnete jüdische Wächter gegeben. Bei der Arbeit sei kein Zwang ausgeübt worden. Sie habe als Gegenleistung für die Arbeit niedrigen Lohn erhalten, mit dem man die zur Verfügung gestellten Lebensmittel habe kaufen können. Darüber hinaus hätten die Arbeiter Lebensmittelcoupons erhalten, "die in der Ration waren". Personen ohne Coupons hätten an den Verkaufsstellen keine Lebensmittel kaufen können. Lohn und Coupons seien in den Räumen des Judenrates ausgegeben worden. An die Höhe des Lohnes könne sie sich nicht mehr erinnern, auch nicht an die Währung. Sie glaube, dass es sich um Mark gehandelt habe.

Vernommen worden ist ferner eine Zeugin T O (geb. 00.12.1922). Diese hat nach ihrem Bekunden damals in den Büros der jüdischen Gemeinde gearbeitet. Sie könne sich noch entsinnen, dass die Juden gekommen seien, um sich zur Arbeit registrieren zu lassen aufgrund eines Aufrufes des Judenrates. Sie seien von dort zu verschiedenen Arbeiten eingeteilt worden. Die Eingetragenen hätten keine große Wahl gehabt. Die Deutschen hätten die Gemeinde angehalten, ihnen Personen zur Arbeit zu liefern. Diejenigen, die gearbeitet hätten, hätten allerdings eine Arbeitskarte gehabt und seien zunächst nicht deportiert worden. An Fragen der Entlohnung könne sie sich nicht mehr entsinnen. Sie glaube, dass die Zeugin (L) mit Hilfe finanzieller Reserven und des Vermögens ihrer wohlhabenden Eltern habe überleben können.

In den Verwaltungsakten der Beklagten betr. die Zeugin L finden sich Kopien aus deren Entschädigungsakte. In einer eidlichen Erklärung vom 24.05.1961 hatte sie u.a. angeben, als die Deutschen ihre Heimatstadt Lask besetzt gehabt hätten, habe sie bald darauf schwerste Zwangsarbeit bei elender Ernährung verrichten müssen. Sie habe im Shop, in Kälte, in zugigen Räumen gearbeitet.

Die am 00.10.1919 geborene T1 O hatte am 29.05.1961 u.a. eidlich erklärt, nach dem Einmarsch der Deutschen in Lask seien alle zur Zwangsarbeit herangezogen worden, die unter sehr schlechten Bedingungen hätten geleistet werden müssen.

Die am 00.12.1992 geborene K O1 geb. L1 hatte am 06.10.1957 in einer eidlichen Erklärung u.a. angegeben, sie sei mit H L im Ghetto Lask gewesen. Zur dort verrichteten Arbeit sind keine Angaben gemacht worden.

Die jetzige Klägerin J M1 hatte am 06.10.1957 in einer eidlichen Erklärung u.a. angegeben, seit Herbst 1939 hätten alle Juden in Lask Zwangsarbeiten verrichten müssen. Im März 1940 sei sie ins Ghetto gekommen. Angaben über die dort verrichtete Arbeit wurden nicht gemacht.

Gleiches gilt für eine eidliche Erklärung der H L vom 06.10.1957.

In einem Antrag vom 16.05.1961 hatte H L angegeben, sie habe in sehr jugendlichem Alter bei elender vitaminloser Ernährung schwere Zwangsarbeit verrichten müssen, in ungeheizten, kalten Räumen.

Die am 00.01.1920 geborene S1l H hatte in einer eidlichen Erklärung vom 28.05.1961 u.a. angegeben, nach der Besetzung Lasks durch die Deutschen seien sie zur Zwangsarbeit verpflichtet worden. Die Bedingungen seien äußerst schlecht gewesen und sie wisse, das H L damals oft krank geworden sei auch mit hohem Fieber weitergearbeitet habe, um einer Deportierung zu entgehen. Sie habe auch an Gelenkentzündungen und Rückenschmerzen gelitten.

In einem ärztlichen Gutachten vom 21.01.1963 ist u.a. vermerkt, H L habe im Ghetto Lask zwangsweise in einem Schneidershop arbeiten, später auch in deutschen Wohnhäusern Reinigungsarbeiten leisten müssen.

Versicherungen an Eides Statt im Rentenverfahren der Zeugin L vom 17.01.1993 der K O1 (geb. 00.12.1922) und der jetzigen Klägerin J M1 betreffen allein Tätigkeiten im Ghetto Lodz.

H L hat in einer "wahrheitsgemäßen Erklärung" vom 10.02.2000 angegeben, sie habe ab Anfang 1940 bis August 1942 im Ghetto Lask im Schneiderressort gearbeitet durch Vermittlung des Arbeitsamts im Ghetto. Sie habe Entgelt in deutscher Währung erhalten, von dem Verschiedenes abgezogen worden sei.

Die jetzige Klägerin J M1 hat in einer Versicherung an Eides Statt vom 15.02.2000 erklärt, sie habe mit H L im Schneiderressort des Ghettos Lask gearbeitet. Die Arbeit sei durch das Jüdische Komitee/Arbeitsamt im Ghetto vermittelt worden. Es sei Entgelt gezahlt worden, von dem Verschiedenes abgezogen worden sei.

K O1 hat am 15.02.2000 erklärt, die Arbeit im Ghetto Lask sei durch das Jüdische Kommitee/Arbeitsamt des Ghettos vermittelt worden. Man habe Entgelt für die Arbeit erhalten, von dem Verschiedenes abgezogen worden sei.

Der Senat hat die Klägerin auf die bisher vorliegende Beweissituation hingewiesen, so auch auf ihre Ausführungen, das Entgelt in den Ghettos sei so niedrig gewesen, dass es praktisch nicht als solches wahrgenommen worden sei. Selbst wenn man die jetzigen Erklärungen der Klägerin und der Zeugin L als wahr unterstelle, bestünden Zweifel, ob das Merkmal der "Entgeltlichkeit" bei ihrer Beschäftigung im Ghetto Lask vorgelegen habe. Insofern werde auf das Urteil des BSG vom 07.10.2004 - B 13 RJ 59/03 R mit der Bitte um Stellungnahme hingewiesen. Die Klägerin hat hierzu mit Schriftsatz vom 30.06.2005 Stellung genommen, auf den Bezug genommen wird.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Akten (Verwaltungsakte der Beklagten, Entschädigungsakte der Klägerin, Gerichts- und Verwaltungsakten betreffend die Zeugin H L) Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Der ZRGB-Bescheid vom 18.02.2004 ist nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Selbst wenn die Beklagte einen Bescheid nach dem ZRBG nicht erlassen hätte, hätte das LSG über die neue Rechtslage nach Verkündung des ZRBG mitentscheiden müssen (vgl. BSG vom 20.07.2005 B 13 RJ 37/04 R und 23/04 R).

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet.

Der angefochtene Bescheid verletzt die Klägerin nicht i.S.d. § 54 Abs. 2 SGG in ihren Rechten. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Berücksichtigung einer weiteren Beitragszeit von März 1940 bis August 1942 bei der Berechnung ihrer Rente.

Nach § 55 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) sind Beitragszeiten Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind (Satz 1). Pflichtbeitragszeiten sind auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten (Satz 2).

Die Stadt Lask/Polen liegt auf dem Gebiet des ehemaligen sog. Reichsgau Wartheland, in dem die Reichsversicherungsordnung (erst) durch die Verordnung über die Einführung der Reichsversicherung in den eingegliederten Ostgebieten (OstgebieteVO) vom 22.12.1941 (RGBl. I, S. 771) mit Wirkung vom 01.01.1942 an eingeführt wurde (vgl. BSG vom 14.07.1999 - B 14 RJ 71/98 R). Nach Maßgabe der §§ 15 Abs. 3 i.V.m. § 17a FRG wären jedoch auch vorherige polnische Beschäftigungszeiten der Klägerin, welche in Deutschland zur Beitragspflicht geführt hätten, ggf. als Beitragszeiten anzusehen.

Ebenso wie das Sozialgericht sieht der Senat es jedoch nicht als glaubhaft gemacht an, dass die Klägerin während ihres Aufenthaltes im Ghetto Lask ein rentenversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ausgeübt hat.

Der Begriff der versicherungspflichtigen Beschäftigung ist für Fälle von Tätigkeiten in einem Ghetto durch die sog. Ghetto-Rechtsprechung des Bundessozialgerichts näher konkretisiert worden (z.B. BSG vom 23.08.2001 - B 13 RJ 59/00 R m.w.N.). Danach ist eine von den Merkmalen der Freiwilligkeit und Entgeltlichkeit bestimmte Beschäftigung, die grundsätzlich der Versicherungspflicht unterliegt, von nichtversicherungspflichtiger Zwangsarbeit abzugrenzen. Eine Beschäftigung, die aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist und gegen Entgelt ausgeübt wurde, fordert auch § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG.

Schon die Entgeltlichkeit der Tätigkeiten der Klägerin im Ghetto Lask ist jedoch nicht glaubhaft gemacht.

Die Klägerin selbst hat vielmehr - wesentlich zeitnäher als im heutigen Rentenverfahren - in ihrem Entschädigungsverfahren in ihren Erklärungen vom 07.07.1953, 31.05.1956 und 07.09.1958 jeweils ausdrücklich angegeben, in Lask zu unentgeltlicher Arbeit gezwungen worden zu sein. Auch die Zeugenerklärungen der E1 Deutsch und der S C vom 07.07.1953 sprachen ausdrücklich von unentgeltlicher und zwangsweise verrichteter Arbeit in einem Schneidershop des Ghettos, wobei die Klägerin in einer Küche gearbeitet habe, die die Arbeiter des Shops mit Essen versorgt habe.

Keiner der Zeugen, die im Entschädigungsverfahren für die Klägerin Angaben gemacht haben, spricht von einer entgeltlichen Tätigkeit, auch wenn der Zeuge E M in seiner Erklärung vom 07.09.1958 und die Zeugin H L in ihrer Erklärung vom 14.05.1954 zwar von Zwangsarbeit, nicht aber - wie die Zeuginnen E und C sowie die Klägerin selbst - ausdrücklich von unentgeltlicher Arbeit gesprochen haben.

Zwar folgt der Senat der Klägerin dahin, dass der Gebrauch des Begriffes "Zwangsarbeit" im Zusammenhang mit Angaben im Entschädigungsverfahren in Ansehung der allgemeinen Lebenumstände eines von den nationalsozialistischen Gewaltherrschern errichteten Ghettos nicht notwendig gegen ein "freiwilliges" und "entgeltliches" Beschäftigungsverhältnis spricht. Anderes gilt jedoch für den Begriff "unentgeltlich": Er ist semantisch eindeutig und meint schon im Alltagssinne "ohne Entgelt". Wenn die Klägerin hiergegen vorträgt, das Entgelt sei seinerzeit so niedrig gewesen, dass es praktisch nicht wahrgenommen worden sei, so übersieht sie, dass der Entgeltbegriff bei Beschäftigungsverhältnissen im sozialversicherungsrechtlichen Sinne nicht völlig von der Angemessenheit des für geleistete Arbeit Erlangten gelöst werden darf (BSG vom 07.10.2004 - B 13 RJ 59/03 R). Ein wegen seiner niedrigen Höhe praktisch nicht mehr wahrgenommenes "Entgelt" erscheint jedoch auch im weitesten Sinne nicht mehr als angemessene Gegenleistung für eine erbrachte Arbeit.

Sofern die Klägerin Angaben aus dem Entschädigungsverfahren allein dem Verantwortungsbereich damaliger unlauterer Bevollmächtigter zugeordnet wissen will, so ist dem entgegen zu halten, dass die damaligen Erklärungen jedenfalls von Klägerin und Zeugen an Eides Statt unterschrieben worden sind. Dies weckt Ungewissheit hinsichtlich der Wahrhaftigkeit des Inhalts der jetzigen, entgegenstehenden Angaben jedenfalls in einem Umfang, dass die jetzigen Angaben für eine Glaubhaftmachung nicht ausreichen. Es ist im Übrigen nicht ersichtlich, dass heutige, mit Hilfe von Bevollmächtigten erhobene Angaben eine höhere Lauterkeitsvermutung in sich tragen als entsprechende Angaben aus dem Entschädigungsverfahren.

Auch heutige Angaben der Zeugin L sowohl im jetzigen Verfahren der Klägerin als auch in ihrem eigenen, auf Gewährung einer Rente aus der deutschen Rentenversicherung gerichteten Klageverfahren, reichen angesichts der deutlichen Widersprüche zu früheren Angaben für eine Glaubhaftmachung nicht aus. Die Zeugin L hatte bei den jetzigen Angaben ein erhebliches Eigeninteresse, ebenso wie die für die als Zeugin in deren Verfahren aussagende jetzige Klägerin. Dass die Zeugin L mit ihrem Rentenantrag letztlich erfolgreich war und ihr Verfahren eine Parallelität zum Verfahren der Klägerin aufweist, kann den Senat, der den Einzelfall der Klägerin in eigener Verantwortung zu bewerten hat, nicht binden.

Einer Glaubhaftmachung steht schließlich ergänzend der nicht nachvollziehbare Umstand entgegen, dass die Klägerin im jetzigen Rentenverfahren zunächst allein Beitragszeiten im Ghetto Lodz geltend gemacht hat. Es ist kein triftiger Grund ersichtlich, weshalb sie Tätigkeiten im Ghetto Lask im Rahmen der Rentenantragstellung nicht ebenfalls schon hätte angeben können.

Ist eine entgeltliche Beschäftigung der Klägerin im Ghetto nicht glaubhaft gemacht, so können auch damalige, im sog. Reichsgau Wartheland geltende tarifrechtliche Regelungen nicht dazu führen, von einer Entgeltlichkeit dieser Beschäftigung auszugehen. Die Existenz entsprechender tarif- und entlohnungsrechtlicher Regelungen macht zum Einen eine tatsächliche erfolgte, tarifrechtlich vorgesehene Entlohnung (entsprechend dem Vortrag der Kläger zu 35% des Normaltarifes) nicht glaubhaft, da die Klägerin, gestützt durch Zeugen, im Entschädigungsverfahren gerade eine Unentgeltlichkeit ausdrücklich angegeben hat. Zum Anderen spräche ein Nichteinhalten solcher tarifrechtlicher Regelungen durch die damaligen NS-Gewaltherrscher gerade gegen eine freiwillige und entgeltliche Beschäftigung im Sinne des "Typus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung" (vgl. zu diesem Begriff BSG vom 07.10.2004 - B 13 RJ 59/03) und für eine Beschäftigung in Zwangsarbeit. Eine fiktive Unterstellung einer tatsächlich nicht erfolgten Entlohnung allein aufgrund des Vorhandenseins ggf. anwendbar gewesener tarif- und entlohnungsrechtlicher Vorschriften kommt zur Begründung eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses auch unter Ghetto-Bedingungen nicht in Betracht. Nur am Rande sei im Übrigen bemerkt, dass jedenfalls die Zeuginnen E und C im Entschädigungsverfahren keine Tätigkeit der Klägerin im Schneiderressort selbst, sondern in einer Küche bezeugt haben, welche die Arbeiter des Schneiderressorts mit Essen versorgt habe.

Der Klägerin ist zuzugeben, dass das Abstellen auf eine freiwillige und entgeltliche Beschäftigung im Ghetto es um so schwieriger macht, Rentenleistungen aus Beschäftigungen in einem Ghetto zu erlangen, je schlechter es den Verfolgten im Ghetto ergangen ist. Ihr ist auch zuzugeben, dass dies zumindest für einen sozialrechtlichen Laien (und damit für so gut wie jeden Betroffenen) befremdlich anmuten muss. Die Anerkennung einer rentenrechtlichen Beitragszeit beruht jedoch auch bei Beschäftigungen in einem Ghetto im Kern nicht auf entschädigungsrechtlichen Gründen, sondern auf der Ausübung einer "normalen" rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung, wenn auch unter den besonderen, schweren Bedingungen eines Ghettos. Dass die Einbeziehung solcher Beschäftigungen unter den "Typus" eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses durch die sog. Ghettorechtsprechung des BSG (Gagel, Rentenversicherung von Ghettoarbeitsverhältnissen, NZW 2000, 231, 235, spricht vom "Modell eines Normalarbeitsverhältnisses") bei seinerzeit Verfolgten Hoffnungen auf eine Rentenberechtigung geweckt haben kann, deren jetzige Enttäuschung kaum vermittelbar erscheinen mag, mag als rechtspolitische Frage sowie als Frage einer möglicherweise ungünstigen Außenwirkung im Verhältnis zu Israel (vgl. hierzu Schult, Freiwilliger Zwang, Der Spiegel 22/2005, 60) jeder Diskussion wert sein. Als nicht sozialrechtliches Kriterium handelt es sich jedoch nicht um eine Frage, die die gerichtliche Entscheidung über die Richtigkeit der Anwendung des der Beklagten und dem Gericht vorgegebenen Rechts beeinflussen dürfte. Gleiches gilt für den Umstand, dass Zweifel berechtigt sein mögen, ob den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die dem ZRBG (worauf die Kläger im Schriftsatz vom 30.06.2005 unter Bezugnahme auf das Plenarprotokoll hinweist) - und damit letzlich der Ghettorechtsprechung des BSG (im Sinne einer erleichterten Zahlbarmachung) - mit "großer Begeisterung" zugestimmt haben, die im Kern fehlende entschädigungsrechtliche Komponente des ZRBG überhaupt bewusst war.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Anlass zur Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG bestand nicht.
Rechtskraft
Aus
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