S 17 VJ 136/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
17
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 17 VJ 136/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 VJ 23/05
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Versorgung wegen eines Impfschadens.

Der am 00.00.1986 geborene Kläger leidet an einer rechtsbetonten spastischen Zerebralparese, einer Störung der Feinmotorik, einer leichtgradigen Intelligenzminderung bei Dyskalkulie (dh erheblicher Rechenschwäche) und Orientierungsproblemen, sowie Skoliose und Beinlängendifferenz. Seit dem 29.03.2001 ist bei ihm ein Grad der Behinderung (GdB) von 90 wegen einer "hirnorganischen Schädigung mit Auswirkungen" festgestellt.

Am 29.09.2003 beantragte er Versorgung als Impfschadensopfer und führte zur Begründung aus, er leide infolge einer (ausweislich des vorgelegten Impfbuchs) am 08.09.1986 erfolgten Schutzimpfung gegen Diptherie, Poliomyelitis und Tetanus an einer zerebralen Parese, Hemiparese rechts und Skoliose. Für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Schutzimpfung und den Behinderungen spreche, dass nach der Impfung sog. BNS-Krämpfe aufgetreten seien. Eine besondere berufliche Betroffenheit liege ebenfalls vor, da eine zukünftige Berufsausbildung fraglich sei.

Der Beklagte holte einen Befundbericht des Kinderarztes Q1 ein, zog die SchwebG-Akte des Versorgungsamts B bei, holte eine Auskunft der Kreisverwaltung I - Gesundheitsamt - ein und ließ ein versorgungsärztliches Gutachten nach Aktenlage durch den Pädiater M erstatten, der einen ursächlichen Zusammenhang der bekannten Behinderungen zur Schutzimpfung mit der Begründung ausschloß, die im Säuglingsalter beobachteten und heute bestehenden Störungen stellten ein Residualsyndrom in Folge eines prä- und perinatal erlittenen hypoxisch-ischiämischen Hirnschadens dar; die Vornahme der Impfungen sei indiziert gewesen.

Mit Bescheid vom 11.03.2004 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Er führte aus, der Kläger leide an einer zerebralen Bewegungsstörung in Form einer rechtsbetonten Diplegie und Störung der Feinmotorik sowie einer Intelligenzminderung, die jedoch beide ausschließlich Folgen der Komplikationen bei der Frühgeburt seien. Insbesondere sei ein Krampfanfall bereits am 5. Lebenstag aufgetreten. Auch hätten sich die Eltern nicht unmittelbar nach den Impfungen (14.06. und 08.09.1986) mit dem Kläger in kinderärztliche Behandlung begeben; Auffrischungsimfpungen seien komplikationslos verlaufen. Schließlich finde sich in der medizinischen Literatur kein Hinweis auf BNS-Krämpfe als durch Impfungen hervorgerufen.

Seinen am 02.04.2004 erhobenen Widerspruch begründete der Kläger damit, die BNS-Krämpfe sowie andere Symptome einer postvakzinaler Enzephalopathie - insbes Apathie - seien noch innerhalb der Inkubationszeit und erst nach der Imfpung aufgetreten, während für die Zeit vor dem Impfereignis demgegenüber eine problemlose Entwicklung dokumentiert sei. Er verwies auf die Untersuchungsprotokolle U 1 - U 6 des Kinderarztes H1 sowie einen Arztbrief von I1 (von 05.11.1986). Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von L wies der Beklagte den Widerspruch mit Bescheid vom 07.07.2004 zurück.

Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 11.03.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2004 zu verurteilen, ihm Versorgung wegen eines Impfschadens am 08.09.1986 zu leisten,

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Beide Beteiligte wiederholen und vertiefen ihr Vorbringen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Beiziehung von Akten des Knappschaftskrankenhauses X-C (wegen der Geburt des Klägers) und der Agentur für Arbeit B. Zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes hat es ein Gutachten des Chefarztes der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Epileptologie und Neonatologie im Kreiskrankenhaus H2, Q2 vom 18.03.2005 eingeholt. Der Sachverständige hat einen kausalen Zusammenhang zwischen den Impfungen und den beim Kläger vorliegenden Behinderungen für "in höchstem Maße unwahrscheinlich" gehalten. Das Gericht hat sodann auf Antrag des Klägers ein weiteres Gutachten des Internisten, Nephrologe und Umweltmediziner I2 eingeholt. Dieser Sachverständige hat ausgeführt, die bereits zuvor bestehende Schädigung sei durch die Impfung wesentlich verschlimmert worden; der Verschlimmerungsanteil bedinge eine Minderungs der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH. Der Beklagte ist dem Gutachten unter Verweis auf ein Gutachten nach Aktenlage des Arztes für Mikrobiolgie und Kinderheilkunde T1 entgegen getreten. T1 hat ausgeführt, I2 bleibe einen Beweis für eine Verschlimmerung des zuvor bestehenden Hirnschadens durch die Impfung schuldig.

Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der genannten Unterlagen verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger ist durch die angefochtenen Entscheidungen nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da er keinen Anspruch auf Versorgung wegen eines Impfschadens hat.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) erhält, wer durch eine Schutzimpfung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen des Impfschadens auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Impfschaden ist nach § 2 Nr. 11 IfSG die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.

Der Versorgungsanspruch setzt voraus, dass durch schädigende Einwirkungen eine gesundheitliche (Primär-)Schädigung eingetreten ist und dass Gesundheitsstörungen vorliegen, die als deren Folgen zu bewerten sind (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 12.09.2001, L 10 VJ 45/96). Impfung, Primärschädigung und Schädigungsfolgen müssen mit an Sicherheit grenzender, ernste vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit erwiesen sein (BSG, Urteil vom 19.03.1986, 9a RV 2/84 = SozR 3850, § 51 BSeuchG Nr. 9). Lediglich für den Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und der Primärschädigung sowie zwischen dieser und den Schädigungsfolgen genügt es, wenn die Kausalität wahrscheinlich gemacht ist (§ 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlich in diesem Sinne ist die Kausalität dann, wenn wenigstens mehr für als gegen sie spricht d.h. die für den Zusammenhang sprechende Umstände mindestens deutlich überwiegen (vgl. BSG SozR 3850 § 51 Nr 9 mwN, BSG, Urteil vom 15.08.1996, 9 RVi 1/94).

Im vorliegenden Fall ist bereits die Primärschädigung nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwiesen. § 2 Nr. 11 lfSG setzt als unerlässliches Mittelglied in der Ursachenkette zwischen Impfung und verbleibender Gesundheitsstörung (BSG SozR 3850 § 51 Nr 10; BSG, Urteil vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R) einen über die übliche Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsschaden voraus. Es bestehen jedoch ernste und vernünftige Zwiefel daran, dass die Schutzimpfung am 08.09.1986 zum Auftreten der BNS-Krämpfe geführt hat.

Zwar erscheint es erwiesen, dass beim Kläger ungefähr eine Woche nach der zweiten Schutzimpfung am 08.09.1986 sog. BNS-Krämpfe (Blitz-Nick-Salaam-Krämpfe, auch West-Syndrom: androtope Form der Epilepsie im Säuglings- und Kleinkindalter; vgl Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 258. Auflage, 1998, Artikel West-Syndrom) auftraten, die eine stationäre Behandlung erforderlich machten. Jedoch genügt ein rein zeitlicher Zusammenhang nicht, um jeden ernsten und vernünftigen Zweifel an der Schutzimpfung als (Mit-)Ursache der BNS-Krämpfe auszuschließen. Solche ernsten Zweifel begründet der Umstand, dass der Kläger - ausweislich der aus dem betreffenden Zeitraum noch vorhandenen Krankenunterlagen - an postpartaler Asphyxie litt und bei ihm später (und noch vor der Schutzimpfung) ein zerebraler Krampfanfall auftrat. Bei der Geburt des Klägers im Knappschafts-Krankenhaus X wurde festgestellt, dass er nicht spontan atmete und daher reanimiert werden musste (deutliche postpartale Asphyxie und initiale Bradykardie, d.h. Herzrhythmusstörung im Sinne einer Verlangsamung). Nach der anschließenden Verlegung in das Bethelehem-Krankenhaus T2 wurde er dort weiter beatmet und hatte noch 4 Stunden nach der Geburt eine erheblich verringerte (hypotherme) Körpertemperatur. Während der insgesamt 6-tägigen Beatmung traten eine akute Niereninsuffizenz, ein tonisch-klonischer Krampfanfall von 5 Minuten Dauer, gehäufte Bradykardien sowie eine vorübergehende Anämie auf. Die nach nach dem Auftreten der BNS-Krämpfe durchgeführte Diagnostik (dokumentiert im Arztbrief von I1 vom 05.11.1986), bei der diese Entwicklung bereits bekannt war, hat keinen Hinweis auf ein akutes infektiöses Geschehen als Ursache der Krämpfe erbracht; vielmehr heißt es in dem betreffenden Arztbrief, eine "infektiöse Ursache" der Krämpfe sei "sehr unwahrscheinlich".

Das Gericht stützt sich im Übrigen auf das Gutachten von Q2, das dem Gericht plausibel und in sich widerspruchsfrei erscheint. Der Sachverständige beschreibt die Behinderungen des Klägers als typische Folgen des Sauerstoffmangels während und nach der Geburt und hält einen - über eine gewisse zeitliche Koinzidenz hinausgehenden - Zusammenhang zur Schutzimpfung für "in höchstem Maße unwahrscheinlich".

Soweit der Kläger dem entgegen hält, seine Entwicklung sei bis zur Schutzimpfung problemlos verlaufen, vermag das Gericht dem schon angesichts der Krankenunterlagen betreffend die Geburt des Klägers und die folgenden 6 Tage (deren Inhalt bereits erörtert worden ist) nicht zu folgen. Soweit der Kläger sich demgegenüber auf die Untersuchungsprotokolle U 1 bis einschließlich U 5 des behandelnden Kinderarztes beruft, hält das Gericht diese nicht für hinreichend aussagekräftig, um hieraus den Schluss zu ziehen, der Sauerstoffmangel während und nach Geburt habe zu keinen bleibenden Folgen geführt.

Auch der Auffassung des nach § 109 SGG zum Sachverständigen ernannten I2 ("Es besteht Wahrscheinlichkeit, dass der Gehirnschaden durch die Geburt verursacht wurde und durch die Impfung getriggert wurde. Eine Mitursächlichkeit ist wahrscheinlich.") vermag die Kammer nicht zu folgen. Der Sachverständige stellt verschiedene Diagnosen, die er jedoch nicht mithilfe entsprechender Befunden belegt. Es finden sich breite, beinahe lehrbuchartige Erörterungen zum Impfschaden im Allgemeinen sowie zu Impfschäden nach andersartigen Impfungen als den hier vorgenommenen. Soweit der Sachverständige auf die Schutzimpfungen zu sprechen kommt, denen sich der Kläger tatsächlich untezogen hat, fehlt eine Subsumtion der nachweisbaren Behinderungen unter die vom Sachverständigen ausführlich dargestellten Folgen der Impfung. Wenn I2 schließlich darauf abstellt, die vor der Impfung bestehende reduzierte Abwehrlage habe eine krankhafte Reaktion auf die Impfung ermöglicht, bleibt gerade unklar, wieso nicht die typischen Folgen der betreffenden Schutzimpfungen aufgetreten sein sollen, sondern vielmehr die typischen Folgen des unstreitig nicht schädigungsbedingten Sauerstoffmangels. Nicht plausibel erklären kann I2 weiter, weshalb die Störungen - worauf der von Amts wegen bestellte Sachverständige Q2 abhebt - nicht schon nach der ersten Schutzimpfung und nicht auch nach den weiteren Schutzimpfungen aufgetreten sind.

Es fällt schließlich auf, dass Prof. Dr. I. als Internist, Nephrologe und Umweltmediziner dem hier einschlägigen Fachgebeit am weitesten entfernt steht, während der von Amts wegen bestellte Sachverständige Chefarzt einer Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Epileptologie und Neonatologie ist; der im behördlichen Verfahren eingeschaltete Sachverständige Prof. Dr. M. ist Kinderarzt; der zuletzt vom Beklagten herangezogene Sachverständige Arzt für Kinderheilkunde und Mikrobiologie.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved