S 11 AS 84/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AS 84/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Abänderung der Bescheide vom 29.07.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.09.2005 verurteilt, dem Kläger Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende als Beihilfe anstatt als Darlehen zu zahlen. Der Beklagte hat die Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darum, ob dem Kläger Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende als Beihilfe oder lediglich als Darlehen zustehen.

Der Kläger (geboren am 00.00.1950) und seine Ehefrau (geboren am 00.00.1950) bewohnen das Hausgrundstück Lstraße 00 in M, das in ihrem Eigentum steht. Die Wohnfläche beträgt nach Angaben des Klägers 80 qm; die gesamte Grundfläche 948 qm.

Auf Antrag des Klägers vom 13.10.2004 erbrachte der Beklagte mit Bescheid vom 28.12.2004 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zunächst als Beihilfe. Mit Bescheiden vom 29.07.2005 entschied er sodann, dass die Leistungen für die Zeit ab dem 01.05.2005 lediglich als Darlehen zu erbringen seien, da das Grundstück wegen Überschreitung des Grenzwerts von 800 qm für Grundstücke im ländlichen Raum unangemessen groß sei, der Kläger es jedoch nicht sofort verbrauchen oder verwerten könne. In seinem am 10.08.2005 erhobenen Widerspruch rügte der Kläger, der Beklagte habe keine Gesamtwürdigung von Wohnfläche, Zuschnitt und Wert des Hausgrundstücks vorgenommen. Im Übrigen sei der hintere Grundstücksteil mangels Erschließungsmöglichkeit praktisch unverwertbar.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 21.09.2005 mit der Begründung zurück, zur Beurteilung der Angemessenheit für die Größe eines Hausgrundstücks sei auf die Kriterien des bis 31.12.2004 geltenden Sozialhilferechts zurückzugreifen. Der Verweis auf den Grundstückszuschnitt greife schon deswegen nicht durch, weil dem Kläger auch der Verkauf des insgesamt unangemessenen Grundstücks zuzumuten sei und sich eine vergleichsweise geringe Straßenfront nicht wertmindernd auswirke.

Hiergegen richtet sich die am 18.10.2005 erhobene Klage.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 29.07.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.09.2005 zu verurteilen, ihm Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende als Beihilfe anstatt als Darlehen zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er bleibt bei seiner Auffassung.

Das Gericht hat eine Auskunft der Gemeinde M, Baudezernat, zu den baurechtlichen relevanten Gegebenheit eingeholt. Der Kläger hat im Termin zur mündlichen Verhandlung einen Lageplan des Grundstücks vorgelegt.

Hinsichtlich der wesentlichen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen sind rechtswidrig iSd § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Kläger und seine Ehefrau haben Anspruch auf Leistungen in Form der Beihilfe.

Dass der Kläger und seine Ehefrau grundsätzlich Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende haben, ist nicht streitig. Der Beklagte darf die Leistungsgewährung auch nicht auf ein Darlehen nach § 9 Abs. 4 Sozialgesetzbuch - Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) beschränken. Der Tatbestand der Darlehensgewährung nach § 9 Abs. 4 SGB II wäre nur dann erfüllt, wenn das Hausgrundstück zu berücksichtigendes Vermögen im Sinne dieser Vorschrift ist. Hieran fehlt es jedoch, denn das Hausgrundstück bleibt nach § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB II unberücksichtigt.

Nach § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB II ist ein selbst genutztes Hausgrundstück von angemessener Größe als Vermögen nicht zu berücksichtigen. Den Begriff der Angemessenheit definiert das Gesetz (bis auf den Hinweis auf die während des Leistungsbezugs maßgeblichen Lebensumstände, § 12 Abs. 3 Satz 2 SGB II) nicht näher. Da das Gesetz anders als in § 90 Sozialgesetzbuch - Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) nicht von einem angemessenen Hausgrundstück spricht, ist der Verkehrswert des Grundstücks - nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut der Vorschrift - nicht zu berücksichtigen (Zeitler, in: Mergler/Zink, SGB II/SGB XII, § 12 SGB II, Rn 90; Mecke, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, § 12, Rn 70). Dies entspricht auch der Intention der Vorschrift, die angemessen große (nicht: angemessen wertvolle) Wohnung als Lebensmittelpunkt zu schützen (Brühl, in: LPK-SGB II, § 12, Rn 43).

Die Angemessenheit der Wohnung (dh die angemessene Größe der Wohnfläche) selbst wird vom Beklagten nicht angezweifelt und ist angesichts des hier weitgehend für einschlägig gehaltenen Grenzwerts von 130 qm (vgl. hierzu die Nachweise bei Brühl, aaO, Rn 44) auch zu bejahen. Soweit der Beklagte aus der Überschreitung des entsprechenden Grenzwerts für die Grundstücksgröße (800 qm in ländlichen Gebieten, vgl. auch hierzu die Nachweise bei Brühl, aaO, Rn 45) automatisch auf die Unangemessenheit des Hausgrundstücks schließt, folgt das Gericht dem nicht.

Wie der Konflikt zwischen Haus- und Grundstücksgröße zu lösen ist, gibt das Gesetz nicht vor. Angesichts des Wortlauts abzulehnen ist jedenfalls die in der Literatur vertretene Auffassung, es komme maßgeblich auf die Größe der Wohneinheit an (so Brühl, aaO). Festzuhalten ist allerdings, dass der Hilfebedürftige nicht zur vollständigen Veräußerung eines Hausgrundstücks gezwungen sein darf, wenn das Grundstück mit einem "an sich" angemessenen Wohnhaus bebaut ist, denn § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB II soll - wie dargelegt - gerade die eigene Wohnung als Lebensmittelpunkt schützen und will es dem Hilfebedürftigen im Zweifel nicht auferlegen, dass er sein Hausgrundstück insgesamt veräußern muss, um es wirtschaftlich gleichsam gegen ein angemessenes einzutauschen (Mecke, aaO, Rn 73; Brühl, aaO, Rn 43; vgl. auch SG Berlin, Urteil vom 30.01.2004, S 58 AL 490/03, info also 2004, 164 ff zur arbeitsförderungsrechtlichen Rechtslage bis zum 31.12.2004). Gleichzeitig sind bei der Auslegung von § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB II die §§ 9 Abs. 1, 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 SGB II mit heranzuziehen. § 9 Abs. 1 SGB II verwirklicht den Grundsatz der Subsidiarität der Grundsicherung für Arbeitsuchende, wonach andere Möglichkeiten zur Sicherstellung des eigenen Lebensunterhalts vorrangig zu nutzen sind. Dieser Verweis auf vorrangig einzusetzendes Vermögen steht indes nach § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 1. Alt SGB II unter einem Wirtschaftlichkeitsvorbehalt. Da es mit § 9 Abs. 1 SGB II wie auch mit dem Wortlaut von § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB II nicht vereinbar ist, dem Hilfebedürftigen auch ein unangemessen großes Hausgrundstück wirtschaftlich ungemindert zu belassen, muss eine prognostische Entscheidung getroffen werden, ob eine Abtrennung oder anderweitige wirtschaftliche Verwertung des unangemessenen Grundstücksanteils rechtlich und tatsächlich möglich und wirtschaftlich erfolgversprechend ist.

In dieser Wirtschaftlichkeitsprognose sind der mit der Verwertung verbundene Aufwand und ihr voraussichtlicher Ertrag gegenüberzustellen. Bereits ein Gleichstand zwischen Gewinn und Verlust reicht nicht aus, denn hiermit wäre dem Hilfebedürftigen lediglich zusätzliche Arbeit aufgebürdet und weder der Hilfebedürftige noch der Leistungsträger hätten irgendeinen konkreten Vorteil davon.

Zu berücksichtigen ist ferner, dass der Hilfebedürftige bei einer Abtrennung und Veräußerung in erheblichem Umfang in Vorleistung treten muss, denn auch nach Abschaffung des bauplanungsrechtlichen Genehmigungserfordernisses für die Teilung eines Grundstücks (jetzt § 19 Baugesetzbuch - BauGB) besteht im Bauordnungsrecht ein grundsätzliches Genehmigungserfordernis nach § 8 Abs. 1 Satz 1 der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (Landesbauordnung - BauO NRW), deren Erteilung insbesondere von der Einhaltung bauordnungsrechtlicher Vorgaben wie Abstandsflächen etc abhängt und bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise mit erheblichen Kosten für die erforderliche Grundstücksvermessung verbunden ist. Es kommt hinzu, dass der Hilfebedürftige - falls er das durch Teilung abgetrennte Grundstück nicht gerade an einen unmittelbaren Anlieger veräußern kann - auf seinem Grundstück den entsprechenden Zugang schaffen sowie eine Grunddienstbarkeit einrichten muss, um die Erschließung des abgetrennten Grundstücks zu sichern.

Im vorliegenden Fall fällt die Prognose zugunsten des Klägers aus. Aus dem in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Lageplan ergibt sich, dass der tatsächliche Zugang zum rückwärtigen Teil des Grundstücks nur durch Abriss der Garage und der daran angrenzenden Stallungen geschaffen werden kann. Ein solcher Abbruch bedarf ebenfalls der behördlichen Genehmigung und ist mit erheblichen Kosten verbunden. Bei der Umgebung des Grundstücks, die zum unbeplanten Innenbereich (§ 34 BauGB) gehört, handelt es sich um eine Mischbebauung aus Wohnbebauung und Gewerbe. Da bereits die Pflicht zur Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Abstandsflächen dazu führt, dass Interessenten für Baugrundstücke das abzutrennende Grundstück nicht ernsthaft in Erwägung ziehen werden, kommt eine wirtschaftlich aussichtsreiche Verwertung nur als Gartengrundstück in Frage. Das Gericht geht jedoch davon aus, dass Interessenten für Gartengrundstücke regelmäßig nicht an Grundstücken interessiert sind, die sich in einem "quasi-Mischgebiet" mit Wohn- und Gewerbebauung befinden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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