S 10 KR 350/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 KR 350/04
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Der Bescheid vom 13. Juli 2004 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 29. Juli 2004 und des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2004 wird nach Maßgabe des Teilanerkenntnisses der Beklagten vom 16. Juni 2005 aufgehoben und abgeändert.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Beklagte erstattet 5/10 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
IV. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die am 1959 geborene Klägerin wendet sich gegen die Ermittlung der Belastungsgrenze im Zusammenhang mit den zu leistenden Zuzahlungen für das Kalenderjahr 2004 gemäß § 62 des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V).

Mit den streitgegenständlichen Bescheiden vom 13.07.2004 in der Form des Änderungs-Bescheides vom 29.07.2004 sowie in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.09.2004 hat die Beklagte Folgendes ausgeführt: Die Klägerin sei bei ihr als Arbeitnehmerin pflichtversichert. Am 08.07.2004 habe sie einen Antrag auf Befreiung von weiteren Zuzahlungen für das Jahr 2004 gestellt. Sie habe mitgeteilt, dass ihr Ehemann Beamter im vorzeitigen Ruhestand sei und im Jahr 2004 bereits Eigenbeteiligungen in Höhe von 194,98 EUR geleistet habe, sodass zusammen mit den von ihr geleisteten Zuzahlungen für Praxisgebühren in Höhe von 20,00-EUR die zumutbare Belastung bereits überschritten sei. Der zumutbare Eigenanteil sei nur mit 1 % der Einkünfte zu berechnen, nachdem bei ihrem Ehemann eine schwerwiegende chronische Erkrankung im Sinne des § 62 SGB V vorläge. Zum Einkommen aus Gewerbebetrieb sei anzumerken, dass 2002 mit einem Verlust von 1.355,00 EUR zu rechnen sei. Für das Jahr 2003 sei ebenfalls mit einem Verlust zu rechnen. - Aufgrund der Angaben in den eingereichten Unterlagen habe die Beklagte Einnahmen zum Lebensunterhalt in Höhe von 41.735,46 EUR errechnet. Dieser Betrag sei um Freibeträge für den Ehemann um 4.347,00 EUR und für jedes Kind um je 3.648,00 EUR gekürzt worden, sodass sich jährliche Bruttoeinnahmen in Höhe von 30.092,46 EUR ergeben hätten. Als Belastungsgrenze für das Jahr 2004 sei von der Beklagten der Betrag von 300,93 EUR errechnet worden. - Mit Bescheid vom 13.07.2004 habe die Beklagte der Klägerin mitgeteilt, dass sich unter Berücksichtigung des Familieneinkommens eine persönliche Belastungsgrenze von 300,93 EUR ergeben würde; nachdem bisher nur 20,00 EUR für Zuzahlungen nachgewiesen seien, gäbe es zum jetzigen Zeitpunkt keine Möglichkeit einer Befreiung und Erstattung. - Mit Änderungsbescheid vom 29.07.2004 sei die Belastungsgrenze auf 747,77 EUR angehoben worden.

Die hiergegen gerichtete Klageschrift vom 30.09.2004 ging am 04.10.2004 im Sozialgericht Augsburg ein. Zur Begründung hob die Klägerin folgende Gesichtspunkte hervor:

1. Für die beiden von ihrem Ehemann voll unterhaltenen Kinder sei jeweils ein Freibetrag anzusetzen.
2. Die Belastungsgrenze sei wegen der schweren chronischen Erkrankung ihres Ehemannes mit 1 % der jährlichen Bruttoein- nahmen zum Lebensunterhalt festzustellen.
3. Der Freibetrag für die Kinder sei entsprechend den Bestim mungen des § 32 Abs. 6 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) mit 5.808,00 EUR pro Kind und Jahr zu berücksichti gen.
4. Die von ihrem Ehemann bei der Festsetzung der beamtenrechtlichen Beihilfe bereits geleisteten Zuzahlungen seien in voller Höhe in der Errechnung der Belastungsgrenze einzu- beziehen.

Zusammenfassend wies die Klägerin darauf hin, dass § 62 SGB V Grundlage für die Einführung entsprechender Regelungen bei der beamtenrechtlichen Beihilfe im Krankheitsfall gewesen sei und hierbei eine systemkonforme Umsetzung der Vorschriften des SGB vorliege, erfordere dies auch eine entsprechende Anwendung der Härtefallregelungen beim Zusammentreffen von gesetzlicher Krankenversicherung und den Beihilfevorschriften des Bundes, da die bisherige Handhabung gegen maßgebliche Grundrechte der Verfassung verstoße.

Vonseiten des Gerichts wurden die Unterlagen der Beklagten beigezogen. Nach Vertagung vom 06.12.2004 hielten die Beteiligten mit wechselseitigen Schriftsätzen an ihren jeweiligen Auffassungen fest. Der Ehegatte der Klägerin legte mit Schriftsatz vom 09.12.2004 und 10.03.2005 weitere Unterlagen vor, aus denen hervorgeht, dass auch Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages mit der aufgezeigten Problmetik befasst worden sind.

Das Sozialgericht Augsburg machte die Beteiligten mit Nachricht vom 23.03.2005 zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung auf folgende Gesichtspunkte aufmerksam:

1. Die Anrechnung von Zuzahlungen bei der Beihilfe des Ehegatten erscheine im Rahmen von § 62 SGB V nicht möglich.
2. Das chronische Leiden des beihilfeberechtigten Ehegatten sei ebenfalls nicht berücksichtigungsfähig.
3. Dagegen seien die beiden voll unterhaltenen Kinder nach dem Wortlaut in § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V mit einem Freibetrag zu berücksichtigen, auch wenn sie nicht gesetzlich bzw. familienversichert seien.
4. Im Hinblick auf § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG sei der Freibetrag mit 5.808,00 EUR anzusetzen, auch wenn dies von dem Gesetzgeber nicht so gewollt gewesen sei (vgl. BT-Drucksache 15/1525 zu Nr. 40: 3.648,00 EUR).

Während der Ehegatte der Klägerin nochmals seine Rechtsauffassung mit Schriftsatz vom 15.05.2005 bekräftigte, unterbreitete die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vom 16.06.2005 folgendes Teilanerkenntnis:

1. Die beiden voll unterhaltenen Kinder der Klägerin werden mit je einem Freibetrag im Sinne des § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V berücksichtigt.
2. Je Kind wird ein Freibetrag von 5.808,00 EUR angesetzt.
3. Die im Bescheid der Beklagten vom 29.07.2004 in Form des Widerspruchsbescheides vom 22.09.2004 genannten Beträge ändern sich somit wie folgt: Familienabschlag nunmehr 15.963,00 EUR; bereinigtes Einkommen nunmehr 25.772,46 EUR; Belastungsgrenze nunmehr 515,45 EUR.

Dieses Teilanerkenntnis wird von dem Bevollmächtigten der Klägerin wegen der grundsätzlichen Gesamtproblematik nicht angenommen.

Der Bevollmächtigte der Klägerin stellt die Anträge aus der Klageschrift vom 30.09.2004.

Der Bevollmächtigte der Beklagten beantragt, die Klage abzuweisen, soweit sie über das Teilanerkenntnis vom 16.06.2005 hinausgeht.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Akten und den der beigezogenen Unterlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zum örtlich und sachlich zuständigen Sozialgericht Augsburg form- und fristgerecht erhobene Klage ist gemäß §§ 51 ff des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig.

Die Klage erweist sich jedoch nur zum Teil als begründet. Das insoweit vorliegende Teilanerkenntnis der Beklagten vom 16.06.2005 entspricht § 62 Abs. 2 des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V).

Die beiden voll unterhaltenen Kinder der Klägerin und ihres Ehegatten sind nach dem Wortlaut in § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V mit einem Freibetrag zu berücksichtigen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Kinder nicht gesetzlich bzw. familienversichert sind. - Eine Einschränkung, wie sie die Beklagte anfänglich vorgenommen hat, kann auch nicht mit einer systemkonformen Interpretation von § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V begründet werden. Denn Kinder belasten das Familieneinkommen erheblich, unabhängig davon, ob sie gesetzlich, privat oder beihilfekonform/privatversichert sind. - Im Hinblick auf den Wortlaut von § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V sind daher die beiden voll unterhaltenen Kinder mit einem Freibetrag zu berücksichtigen.

Im Hinblick auf § 32 Abs. 6 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ist der Freibetrag mit 5.808,00 EUR anzusetzen, auch wenn dies von dem Gesetzgeber nicht so gewollt war (vgl. BT-Drucksache 15/1525 zu Nr. 40: 3.648,00 EUR).

Die Klage erweist sich jedoch in folgenden Punkten als unbegründet: Die Anrechnung von Zuzahlungen bei der Beihilfe des Ehegatten ist im Rahmen von § 62 SGB V nicht möglich. Das chronische Leiden des beihilfeberechtigten Ehegatten ist ebenfalls nicht berücksichtigungsfähig. - Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 136 Abs. 3 SGG auf die Gründe des Widerspruchsbescheides vom 22.09.2004 Bezug genommen.

Das erkennende Gericht teilt die übereinstimmende Auffassung der Klägerin bzw. ihres Ehegatten und der Beklagten, dass die Regelung zur Ermittlung der Belastungsgrenze zwischen dem System der gesetzlichen Krankenversicherung und der Beihilfe nicht harmonisieren. - Dies erscheint jedoch nicht verfassungswidrig, sodass eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Artikel 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) nicht veranlasst gewesen ist.

Insoweit hat das Bundessozialgericht (BSG) bereits mit Urteil vom 19.02.2002 - B 1 KR 20/00 R (SozR 3-2500 § 62 Nr. 1) grundlegend ausgeführt: Bei der Ermittlung der Belastungsgrenze für Fahrkosten und Zuzahlungen (§ 62 SGB V) sind die Einkünfte aller mit dem Versicherten im gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen zusammenzurechnen, unabhängig davon, ob sie gesetzlich krankenversichert sind oder nicht. Als Belastung werden nur die von der gesetzlichen Krankenversicherung erhobenen Eigenanteile berücksichtigt; eine Zusammenrechnung mit beilhilferechtlichen Selbstbehalten bei anderen Haushaltsangehörigen findet nicht statt. Dieses Ergebnis ist im Hinblick auf Artikel 3 Abs. 1 GG hinzunehmen.

Nachdem das vorstehend auszugsweise zitierte Urteil des BSG beiden Beteiligten bekannt ist, wird zur Vermeidung von Wiederholungen in entsprechender Anwendung von § 136 Abs. 3 SGG auch auf die Gründe der vorstehend bezeichneten Entscheidung des BSG Bezug genommen. - Die Nichtberücksichtigung der schweren chronischen Erkrankung des Ehegatten der Klägerin ist vergleichbar der Nichtberücksichtigung der bei der Festsetzung der beamtenrechtlichen Beihilfe bereits geleisteten Zuzahlungen des Ehegatten der Klägerin.

Nach alledem ist der Klage nur insoweit stattzugeben gewesen, als die Beklagte bereits am 16.06.2005 ein Teilanerkenntnis abgegeben hat.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

Im Übrigen ist die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 144 Abs. 2 SGG zuzulassen gewesen. Denn die Klägerin und ihr Ehegatte werden wirtschaftlich spürbar dadurch benachteiligt, dass die Systeme der gesetzlichen Krankenversicherung und der Beihilfe nicht harmonieren.
Rechtskraft
Aus
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