L 7 VG 20/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
7
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 6 VG 24/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 VG 20/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichtes Detmold vom 29.04.2004 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der 1943 geborene Kläger lebt seit 1984 in der Bundesrepublik Deutschland (BRD). Er stellte im Dezember 2000 einen Antrag auf Versorgung. Er fügte den Bericht des Kreiskrankenhauses F bei, worin vermerkt ist: "Am 00.09.1975 gegen 15:00 Uhr sprang der Patient während einer Vernehmung bei der Polizei aus dem Fenster. Die Fallhöhe betrug etwa zehn Meter; ambulante Vorstellung im Schockzustand". Wegen der erlittenen Gesundheitsschäden verwies der Kläger auf den Bericht des Keiskrankenhauses F, den Bescheid über die Feststellung eines Grades der Behinderung von 80, das Gutachten der Pflegekasse und den Entlassungsbericht über die Reha-Maßnahme 1998. Darin ist als "Eigenanamnese" u. a. angegeben: "Am 25.09.1976 (Datum im Bericht falsch) sei er nach einem Verhör durch Beamte des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR aus dem Fenster geworfen worden und danach im Krankenhaus F ... behandelt worden". Zum schädigenden Ereignis gab der Kläger an, er sei am 29.09.1975 durch Beamte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in den Räumen der Kreispolizeibehörde F zu der Frage, wann er die ehemalige Deutsche Demokratische Republik (DDR) verlassen wolle, verhört worden. Er habe eine Vita Cola getrunken, dann sei ihm übel geworden. Er könne sich danach nur noch daran erinnern, dass er - wahrscheinlich von F T (T.) - in das Gesicht geschlagen worden sei.

Mit Bescheid vom 20.02.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17.01.2002 lehnte der Beklagte die Gewährung von Versorgung mit der Begründung ab, die Voraussetzungen des § 1 OEG seien nicht erwiesen. Es könne fast 26 Jahre nach dem Ereignis nicht mehr geklärt werden, ob der Kläger tatsächlich wegen einer Bedrohung, d. h. aufgrund einer direkten Einwirkung auf den Körper, aus dem Fenster gesprungen sei. Unter Berücksichtigung aller vorliegenden objektiven Umstände des Einzelfalles könne nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass ein Angriff stattgefunden habe.

Hiergegen hat der Kläger am 23.01.2002 Klage beim Sozialgericht (SG) Detmold erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, dass die Kriminalpolizei mit geheimpolizeilichen Methoden operiert habe und "es doch auf der Hand liege", dass er nicht "aus freien Stücken" aus dem Fenster aus einer Höhe von zehn Metern gesprungen sei, denn bei so etwas "opfere er doch nicht sein Leben". Ergänzend hat er im Juni 2002 betont, dass die Fenster des abhörsicheren Raumes vergittert gewesen seien. Ein Sprung aus dem Fenster sei somit unmöglich gewesen. Zudem habe er die Unterlagen des Kreiskrankenhauses F sowie Röntgenaufnahmen einem Gerichtsmediziner vorgelegt. Dieser sei der Auffassung, dass die erlittenen Verletzungen nicht auf einen Sprung aus dem Fenster, sondern auf Misshandlungen zurückzuführen seien. Auf Nachfrage erklärte der Kläger, die Röntgenaufnahmen aus 1975 seien vernichtet worden. Er hat die noch vorhandenen Röntgenaufnahmen vorgelegt und ergänzend mitgeteilt, dass er keine näheren Angaben zu den am Verhör beteiligten Personen machen könne. Der Kläger hat Fotografien des Polizeigebäudes in F, in dem seines Erachtens das Verhör stattfand, vorgelegt. Darauf sind die Fenster vergittert.

Der Beklagte hat darauf hingewiesen, dass der Vortrag des Klägers, ein Sturz aus dem Fenster sei wegen der baulichen Gegebenheiten unmöglich gewesen, im Widerspruch zu den Angaben im Reha-Entlassungsbericht von 1998 stehe.

Eine Anfrage des SG beim Einwohnermeldeamt der Stadt F hat ergeben, dass T. im September 1996 verstorben ist. Sodann hat das SG den Kläger in einem Erörterungstermin angehört. Wegen des Ergebnisses wird auf das Sitzungsprotokoll vom 08.05.2003 Bezug genommen. Der Kläger hat nochmals betont, dass er während des Verhörs geschlagen worden sei. Danach sei er erst wieder im Krankenhaus zu sich gekommen, d. h. er sei in einem Schockzustand ohne Bewusstlosigkeit gewesen. Er hat Krankenunterlagen des X-Klinikums F überreicht und als Zeugin für den baulichen Zustand des Polizeigebäudes 1975 Frau G, Inhaberin der Firma T, benannt.

Auf Anfrage des SG hat die Polizeidirektion H, Polizeiinspektion F, mitgeteilt, dass abhörsichere Räume im Gebäude des ehemaligen Volkspolizeikreisamtes nicht existiert hätten, Vernehmungen durch das MfS aber in den Räumen der Polizei erfolgt seien. Die Nachfrage bei ehemaligen Beschäftigten der Volkspolizei habe keine "greifbaren Ergebnisse" gebracht, da sich niemand erinnern könne, ob die vom Kläger auf den Fotos gekennzeichneten Fenster 1975 vergittert gewesen seien. Ein Befragter, der 1971 bei der Volkspolizei beschäftigt gewesen sei, glaubte sich zu erinnern, dass die Fenster erst nach 1975 vergittert worden seien, da zuvor jemand "aus dem Fenster gesprungen sei".

Das Katasteramt H konnte nicht bestätigen, dass die Fenster an der Nordseite des ehemaligen Volkspolizeikreisamtes im September 1975 vergittert waren. Das Thüringer Liegenschaftsmanagement, Eigentümer der ehemaligen Polizeiinspektion in F, hat mitgeteilt, dass die Bilddokumente aus den Bauakten nur für die 60er-Jahre vorliegen und sich daraus keine Hinweise auf Gitter ergeben. Zu welchem Zeitpunkt die Gitter angebracht worden seien, lasse sich anhand der Bauzeichnungen nicht nachvollziehen. - Die vom Kläger benannte Zeugin T T1 konnte zur Beschaffenheit des Gebäudes des ehemaligen Volkspolizeikreisamtes F in den 70er-Jahren keine Angaben machen.

Abschließend hat das SG ein Gutachten nach Aktenlage von Prof. Dr. Dr. C, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums N, eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 19.01.2004 verwiesen.

Der Kläger hat diesem Gutachten widersprochen und insbesondere bemängelt, dass das Gutachten nach Aktenlage erstattet worden sei. Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger Unterlagen der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR vorgelegt.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 29.04.2004 abgewiesen. Auf die Entscheidung wird Bezug genommen.

Gegen das am 07.05.2004 zugestellte Urteil hat der Kläger am 01.06.2004 Berufung eingelegt. Er verfolgt sein Begehren weiter. Er verweist auf die Bescheinigung der Polizeidirektion H, wonach Mitarbeiter, die Anfang der 70er-Jahre in F beschäftigt gewesen seien, mitgeteilt hätten, dass die Gitter deutlich vor 1970 eingebaut worden seien. Unterlagen, die Herstellung oder den Einbau betreffen, seien nicht mehr vorhanden. Der Kläger weist darauf hin, dass es keine Zeugen für das an ihm verübte Verbrechen gebe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichtes Detmold vom 29.04.2004 zu ändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 20.02.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17.01.2002 zu verurteilen, ihm wegen der Folgen der Gewalttat vom 29.09.1975 Versorgung zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Der Senat hat die Schwerbehindertenakte des Klägers beigezogen und sodann ein Gutachten des Orthopäden Dr. W eingeholt. Der Sachverständige gelangt nach ambulanter Untersuchung des Klägers sowie Auswertung aller vorliegenden medizinischen Unterlagen zu der Auffassung, dass sich nicht mit an Sicherheit grenzender, vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit auf die Ursache der 1975 erlittenen Verletzungen schließen lasse. Nach Einschätzung des Dr. W kann weder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass die Verletzungen durch einen Sturz aus dem zweiten Stock des Gebäudes der Polizei verursacht worden sind noch kann festgestellt werden, dass die ausschließliche Ursache der Verletzungen körperliche Misshandlungen waren. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten vom 15.07.2005 verwiesen.

Der Senat hat die Vorgänge der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR des Klägers beigezogen. In einer ergänzenden Stellungnahme bekräftigt Dr. W seine Auffassung. Sodann hat der Senat bei der Polizeidirektion H um Angabe der Namen der Hausmeister gebeten, die bei der Polizei F im Zeitraum von 1965 bis 1985 tätig waren. Die Ermittlungen haben ergeben, dass H I und X L verstorben sind. B I1 war 1975 als Kfz.-Schlosser und I T2 als Hausmeister beschäftigt. Beide konnten keine sachdienlichen Hinweise geben. Abschließend hat der Senat ein Gutachten des Psychiaters Dr. E in Auftrag gegeben. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten vom 13.12.2005 verwiesen.

Der Kläger hat ein Schreiben an den im September 1975 diensthabenden Notarzt Dr. T von Juli 2005 vorgelegt. Danach will der Kläger von dem Arzt erfahren haben, dass der Kläger verletzt im Verhörraum gelegen habe und der Arzt diese Aussage jedoch nie vor Gericht bestätigen würde. Gleichzeitig hat der Kläger mitgeteilt, dass Dr. T verstorben ist.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten vorbereitenden Schriftsätze, den übrigen Akteninhalt sowie auf die Verwaltungsakte des Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger wird durch den angefochtenen Bescheid vom 20.02.2001 nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert. Der Bescheid ist rechtmäßig.

Nach § 1 OEG erhält derjenige, der durch einen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen eine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des BVG.

Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist nicht nachgewiesen, dass der Kläger am 29.09.1975 durch Mitarbeiter des MfS Opfer eines tätlichen Angriffs geworden ist. Ein tätlicher Angriff ist ein gewaltsames Vorgehen gegen eine Person in feindlicher Absicht, d. h. eine unmittelbar auf die körperliche Integrität eines anderen abzielende feindliche Aktion ohne Rücksicht auf ihren Erfolg (BSGE 59, 46; 81, 289; 77, 11). Das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen muss mit an Sicherheit grenzender, d.h. mit ernsten vernünftigen Zweifeln ausschließender Wahrscheinlichkeit erwiesen sein. Daran fehlt es.

Ein tätlicher Angriff, der zu gesundheitlichen Schädigungen, insbesondere den Trümmerfrakturen an den Fersenbeinen mit Luxation im Chopart’schen Gelenk, der Hüftgelenksluxation und den Verletzungen am linken Becken führte, ist nicht nachgewiesen. Aus dem Vorbringen des Klägers ergibt sich, dass er während des Verhörs am 29.09.1975 durch Schläge u. a. in das Gesicht misshandelt wurde. Danach wurde ihm "schummerig, er konnte sich an nichts mehr erinnern und wurde erst wieder im Krankenhaus wach". Der Senat sieht diese Schläge nicht als geeignet an, die erheblichen Verletzungen des Klägers an den Beinen und der Hüfte zu verursachen. Nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme ist nicht nachgewiesen, dass die Verletzungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf die Schläge zurückzuführen sind. Dabei stützt sich der Senat insbesondere auf die Ausführungen des Rechtsmediziners Prof. Dr. Dr. C. Das Gutachten ist in sich schlüssig, nachvollziehbar und stimmt in den Kernaussagen mit dem des Orthopäden Dr. W überein. Nach den Feststellungen des Prof. Dr. Dr. C und den damit weitgehend übereinstimmenden Ausführungen von Dr. W entstehen die Trümmerfrakturen an Fersenbeinen mit Luxation in den Chopart schen Gelenklinien und Fersenbeindurchspießungsverletzungen an den Fußsohlen ausschließlich durch massive axiale Stauchungstraumata. Für den Senat nachvollziehbar ist das von den Sachverständigen beschriebene typische Verletzungsszenario ein Sprung aus großer Höhe, wobei das Opfer bei Bewusstsein sein muss, da ein Aufkommen mit beiden Füßen voran Voraussetzung für die Entstehung der Verletzung ist. Auch die Beckenbrüche sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Folge von Sturz- und nicht von Schlag- bzw. Trittverletzungen. Nach den Ausführungen von Prof. Dr. Dr. C ist es für den Senat nachvollziehbar begründet, dass die Fersenbeinfrakturen, die Hüftgelenksluxation und die Fraktur des linken Speichenköpfchens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Folge eines Sturzes aus großer Höhe mit nachfolgendem Aufprall auf beide Beine, Kippen auf die linke Körperseite und Abstützen mit dem linken Arm waren und damit nicht durch Misshandlungen verursacht werden konnten. Die Fraktur des linken Jochbeines hingegen kann sowohl Folge eines Sturzes als auch von Schlägen sein. Diese Möglichkeit einer Verursachung auch durch eine Misshandlung reicht jedoch nicht aus. Ebenso wenig kann anhand des Reha-Entlassungsberichtes ein tätlicher Angriff nachgewiesen werden. Der Kläger hat 1998 bei der Aufnahmeuntersuchung ausgeführt, dass er nach einem Verhör durch Beamte des MfS aus dem Fenster geworfen wurde. Diese Angaben sind jedoch nicht durch Tatsachen belegt, da der Kläger sich an den Tathergang nicht erinnern kann.

Auch nach dem weiteren Ergebnis der Ermittlungen im gerichtlichen Verfahren ist kein sicherer Rückschluss auf eine Gewalttat möglich. Zum einen ergibt sich aus dem Bericht des Krankenhauses F insoweit nur, dass der Kläger am 29.09.1975 während einer Vernehmung bei der Polizei aus ca. zehn Metern aus dem Fenster gesprungen ist. Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten der Beamten des MfS im Sinne einer auf den Körper wirkenden körperlichen Gewalt, das den Kläger zwang, aus dem Fenster zu springen, ist weder nachgewiesen noch vom Kläger geltend gemacht worden.

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung von § 15 VfG-KOV. Diese Vorschrift ist nicht anwendbar, da der Kläger nach seiner Einlassung im Termin zur mündlichen Verhandlung keine Angaben zu dem Geschehen am 29.09.1975 machen kann (vgl. dazu Rohr/Strässer, Bundesversorgungsrecht mit Verfahrensrecht, Band IV, § 15 VfG-KOV, K 1 ff.)

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved