S 3 KR 92/05 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 3 KR 92/05 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache eine Behandlung mit dem Arzneimittel Herceptin als Sachleistung zur Verfügung zu stellen, soweit ihr dieses vertragsärztlich verordnet wird. Die Antragstellerin hat an den entstehenden Kosten vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache eine Beteiligung von 500,00 EUR je Quartal, erstmals in voller Höhe für das 1. Quartal 2006, zu erbringen. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe:

I.

Die am 00.00.1948 geborene Antragstellerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie leidet an einem invasiv duktualen Mammakarzinom links, Stadium pT1b (1 cm) C4 und pTis High grade Dcis, C4, pNO (0/22 LK) C4, M0, C2, G2, pR0 Resektion, Hormonrezeptoren ER: 12 und PR: 12, HER-2-neu stark positiv (Score 3+) FISH positiv. Nach Diagnose der Erkrankung wurde die Antragstellerin am 17.02.2005 brusterhaltend operiert und eine Axilladissektion durchgeführt. Am 21.02.2005 und 24.02.2005 erfolgten dann noch 2 Nachresektionen, da der Tumor nicht ausreichend im gesunden Gewebe entfernt werden konnte. Bis zum 06.07.2005 unterzog sich die Antragstellerin einer Chemotherapie. Diese wurde mit 6 Zyklen FEC durchgeführt. Bis zum 14.09.2005 erhielt sie darüber hinaus eine Strahlenbehandlung.

Die Antragstellerin beantragte bei der Antragsgegnerin "die Kostenübernahme für eine Behandlung mit Trastuzumab (Herceptin) in einer adjuvanten Situation".

Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 09.11.2005 lehnte sie den Antrag ab. Hiergegen legte die Antragstellerin Widerspruch ein, über den die Antragsgegnerin noch nicht entschieden hat.

Am 29.12.2005 hat die Antragstellerin einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Sie macht geltend, aufgrund ihrer hohen Risikosituation sei eine adjuvante Therapie mit dem Arzneimittel Herceptin erforderlich, um Rezidive zu vermeiden und ihre Überlebenszeit zu verlängern. Die Kriterien für den zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln (sog. Off-Label-Use) seien erfüllt. Es läge eine schwerwiegende Erkrankung vor, Therapiealternativen bestünden nicht. Der Einsatz von Herceptin in ihrer Behandlungssituation entspreche dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens und dem Konsens der einschlägigen Fachkreise. Es bestehe die begründete Aussicht, dass ein Behandlungserfolg zu erzielen sei. Sie sei nicht in der Lage, die Therapiekosten von durchschnittlich 2.600,00 EUR pro Monat selbst aufzubringen. Nach Abzug der laufenden monatlichen Fixkosten verbleibe ihr derzeit ein Einkommen von ca. 1.150,00 EUR monatlich. Hiervon müsse sie noch die allgemeinen Lebenshaltungskosten und weitere Krankheitskosten bestreiten.

Die Antragstellerin beantragt schriftsätzlich,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr das Arzneimittel Herceptin bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache als Sachleistung zur Verfügung zu stellen, soweit ihr dies vertragsärztlich verordnet wird.

Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich,

den Antrag zurückzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 19.01.2006. Danach liege kein wissenschaftlich geprüfter Wirksamkeitsnachweis für die beantragte Therapie vor. Die Nebenwirkungen seien derzeit nicht ausreichend beurteilbar, so dass eine zuverlässige Risiko-Nutzen-Bewertung auch im Hinblick auf den klinischen Stellenwert eines verlängerten krankheitsfreien Überlebens noch nicht möglich sei. Die individuelle Eignung der Antragstellerin für eine adjuvante Therapie mit Herceptin sei nicht ausreichend nachvollziehbar.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten verwiesen.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. Er ist auch im Umfang des vorstehenden Tenors begründet. Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf vorläufige Gewährung der begehrten Behandlung mit Herceptin.

Nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht in der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts eines Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Für eine einstweilige Anordnung müssen demnach ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund vorliegen.

Ein Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht worden. Grundsätzlich haben Versicherte im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß §§ 27 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 31 Abs. 1 des Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit diese verschreibungspflichtig sind. Zwar besteht ein Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nur für solche Mittel, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Diese Voraussetzungen sind dann nicht erfüllt, wenn das Arzneimittel nicht über die nach dem Arzneimittelrecht erforderliche Zulassung verfügt oder wenn es in einem Anwendungsgebiet eingesetzt wird, für das es grundsätzlich nicht zugelassen ist. Um einen solchen sogen. Off-Label-Use geht es im vorliegenden Fall. Ausnahmsweise kommt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung auch dann in Betracht, wenn bei fehlender Zulassung für das vorgesehene Anwendungsgebiet die in Frage stehende Medikation für die Behandlung der Erkrankung unverzichtbar und erwiesenermaßen wirksam ist. Dabei sind folgende 3 Voraussetzungen kumulativ zu erfüllen:

1. Es liegt eine schwerwiegende Erkrankung vor, dass heißt eine solche, die lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt;

2. es ist keine andere Therapie verfügbar;

3. aufgrund der Datenlage besteht die begründete Aussicht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann.

Herceptin als Therapieform ist bei metastasierenden Mammakarzinom zugelassen, nicht jedoch für die adjuvante Therapie. Die Brustkrebserkrankung der Antragstellerin ist einen schwerwiegende Erkrankung, die lebensbedrohlich sein kann oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt. Wirksame Therapiealternativen, die das Auftreten von Rezidiven im gleichen Maße vermeiden und damit die Überlebenschancen der Antragstellerin verbessern würden, sind von der Antragsgegnerin nicht benannt worden. Die Voraussetzungen zu Ziffer 3. können nur dann angenommen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten Prüfung der Phase III veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiko belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinn besteht (vgl. BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 8). Eine abschließende Studie fehlt für die vorliegend umstrittene adjuvante Therapie noch, worauf die Antragsgegnerin zu Recht hinweist. Die von der Antragstellerin zitierten Studien, Stellungnahmen der einschlägigen ärztlichen Fachgesellschaften und das Gutachten von Dr. Untch vom 22.12.2005 begründen jedoch die konkrete Aussicht, dass bei der vorliegenden Erkrankung mit Herceptin ein Behandlungserfolg erzielt werden kann.

Grundsätzlich wäre die Anwendung einer neuen Behandlungsmethode wegen des Wortlauts von § 135 Abs. 1 SGB V von der vorherigen Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss abhängig. Hieran fehlt es. Gleichwohl schließt das eine vorläufige Regelung zur Leistungserbringung nicht aus. Denn bei derartig enger Auslegung des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung wäre die Übernahme von Kosten durch die gesetzlichen Krankenkassen auch in den Fällen einer lebensbedrohlichen oder vorhersehbar tödlich verlaufenden Erkrankung ausgeschlossen, für die (noch) keine dem allgemeinen medizinischen Standard entsprechende Behandlungsmethode existiert, obwohl der behandelnde Arzt eine Methode kennt und zur Anwendung bringen könnte, die nach seiner Einschätzung im Einzelfall den Krankheitsverlauf positiv zu Gunsten des Versicherten beeinflusst. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, die die grundrechtlichen Belange der Antragstellerin umfassend in die Abwägung einbezieht, wenn eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist. In den Beschlüssen vom 12.05.2005 (1 BVR 469/05) und vom 06.12.2005 (1 BVR 347/98) steht nach Auffassung des BVerfG die Wahrung der Würde des Menschen im Vordergrund. Es ist mit Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, den Einzelnen unter bestimmten Voraussetzungen einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu verweisen. Dabei muss allerdings die vom Versicherten gewählte Behandlungsmethode eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen. Von einer solchen Erfolgsaussicht ist unter Berücksichtigung der von der Antragstellerin vorgelegten Studien zur adjuvanten Herceptintherapie auszugehen. Wenn das Risiko einer generell lebensbedrohlichen Krankheit und die Möglichkeit zur deutlichen Erhöhung der Heilungschancen gegen die rein finanziellen Interessen der Versichertengemeinschaft abzuwägen sind, verdient im Sinne der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung das Interesse des Einzelnen den Vorrang. Anderenfalls wäre zu befürchten, dass bei nicht zeitgerechter Aufnahme der Therapie die Heilungschancen der Antragstellerin massiv beeinträchtigt werden.

Dagegen kann die Antragsgegnerin nicht mit Aussicht auf Erfolg einwenden, die mit der Verabreichung von Herceptin verbundenen Risiken sprechen entscheidend gegen den Einsatz dieses Mittels zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Zwar ist einzuräumen, dass die Langzeitwirkungen des Medikaments noch nicht ausreichend bewertet werden können, andererseits lässt das im Verhältnis zu anderen Brustkrebspatientinnen besonders hohe Risiko der Antragstellerin nicht die Möglichkeit offen, auf weitere Erkenntnisse zu warten. Die während der Behandlung mit Herceptin nicht regelmäßig, aber in verschiedenen Fällen auftretenden Folgen für die Herzleistungsfähigkeit lassen sich grundsätzlich durch engmaschige internistisch-kardiologische Mitbetreuung minimieren, im schlimmsten Fall ist es möglich, das Medikament ärztlicherseits abzusetzen.

Einen Anordnungsgrund hat die Antragstellerin im Wesentlichen glaubhaft gemacht. Eilbedürftigkeit ist angesichts des Krankheitsbildes gegeben, da längeres oder gar mehrjähriges Abwarten bis zu einer Hauptsacheentscheidung das Risiko der bestehenden Erkrankung oder die Möglichkeit einer Neuerkrankung an anderen Organen bis zur Lebensgefährdung steigern könnte. Zu einer vollen Vorleistung ist die Antragstellerin nicht in der Lage. Da allerdings der Ausgang eines Hauptsacheverfahrens offen ist und die Antragstellerin nach eigenen Angaben über ein monatliches Einkommen (nach Abzug der Fixkosten) von etwa 1.150,00 EUR verfügt, ist ihr eine Mitbeteiligung an den sehr hohen Therapiekosten im Umfang von 500,00 EUR je Quartal zumutbar.

Die Kostenentscheidung folgt in entsprechender Anwendung von § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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