Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 4 AS 44/05 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 2 B 23/05 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung sind stationäre Einrichtungen im Sinne des SGB II. Erwerbsfähige Personen, die sich voraussichtlich nur vorübergehend, d.h. bis zu sechs Monaten, in einer stationären Einrichtung befinden, können Ansprüche nach dem SGB II haben. Bei der Untersuchungshaft ist im Regelfall davon auszugehen, dass die Unterbringung nur bis zu sechs Monaten dauert. Ab dem siebten Monat der Untersuchungshaft kann der Taschengeldanspruch nicht mehr auf das SGB II gestützt werden. Als leistungspflichtig kommt der Sozialhilfeträger nach dem SGB XII in Betracht.
Der Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 12. April 2005 wird aufgehoben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Beschwerdegegner begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Der am 11. April 1969 geborene Kläger befindet sich seit dem 9. Mai 2004 in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt (JVA) H ... Er bezog bis 31. Dezember 2004 von der Stadt H ... ein Taschengeld in Höhe von 42,75 EUR. Der Betrag entsprach 15 % des Regelsatzes (282 EUR) eines Haushaltsvorstandes in Sachsen-Anhalt.
Der Beschwerdegegner beantragte bei der Beschwerdeführerin die Gewährung von Taschengeld ab 1. Januar 2005. Dieses Begehren lehnte die Beschwerdeführerin mit Bescheid vom 25. Januar 2005 ab und führte zur Begründung aus, das Gesetz über die Grundsicherung für Arbeitsuchende sehe eine derartige Leistung für Untersuchungshäftlinge oder Inhaftierte einer J ... nicht vor. Alle für den Lebensunterhalt erforderlichen Leistungen erhalte ein Häftling von der JVA; er sei deshalb nicht hilfebedürftig. Der Beschwerdegegner legte gegen den Bescheid am 20. Februar 2005 Widerspruch ein.
Am 8. Februar 2005 hat der Beschwerdegegner wegen der vorläufigen Zahlung eines Taschengeldes beim Sozialgericht Halle den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Stadt H ... beantragt (S 13 SO 4/05 ER). Weiterhin hat er am 8. März 2005 beim Sozialgericht Halle einen Antrag auf Zahlung eines monatlichen Taschengeldes in Höhe von 49,65 EUR durch die Beschwerdeführerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Er hat vorgetragen: Die JVA übernehme lediglich die Verpflegung. Die Kosten für Kleidung, Körperpflegemittel und Haarschnitt sowie Stromkosten trage er selbst. Nur während der Strafhaft habe er einen Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch die Vollzugsbehörde. Ein Ende seiner Untersuchungshaft sei aber zur Zeit nicht absehbar. Das Verfahren sei beim Bundesgerichtshof anhängig. Mit einer Entscheidung über die Revision werde frühestens im Februar 2006 gerechnet. In seiner Erwerbsfähigkeit sei er gesundheitlich nicht eingeschränkt. Die rechtliche Einschränkung aufgrund seiner Inhaftierung sei bei der Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bedeutungslos.
Das Sozialgericht Halle hat mit Beschluss vom 12. April 2005 die Beschwerdeführerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, dem Beschwerdegegner für die Zeit vom 8. März bis 31. März 2005 39,72 EUR und für die Monate April und Mai 2005 monatlich 49,65 EUR zu zahlen. Im übrigen hat es den Antrag zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, der Beschwerdegegner sei im Sinne des Gesetzes der Grundsicherung für Arbeitsuchende hilfebedürftig und erwerbsfähig. Die gesetzliche Definition der Erwerbsfähigkeit beziehe sich nur auf die Gesundheit und nicht auf die rechtliche Einschränkung durch die Inhaftierung. Das Gesetz treffe im Fall der rechtlichen Einschränkung nur für Ausländer eine gesonderte Regelung. Eine den Regelungen über die Arbeitslosenhilfe vergleichbare Beschränkung der Erwerbsfähigkeit sei in das Recht über die Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht aufgenommen worden. Dem Beschwerdegegner stünde somit ausgehend von der Regelleistung in Höhe von 331 EUR ein Taschengeld in der beantragten Höhe zu. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass für ihn keine Aufwendungen für Verpflegung anfielen, erreiche der Betrag von 49,65 EUR ungefähr ein Drittel des ihm zustehenden monatlichen Betrages der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Der Wert der als Sachbezug zur Verfügung gestellten Verpflegung betrage monatlich 200,30 EUR. Es verbliebe somit rechnerisch ein Betrag von 130,70 EUR. Die Leistung stünde dem Beschwerdegegner im Monat März 2005 aber nur anteilig zu. Vorläufige Zahlungen könnten nur für die Zeit nach Antragstellung erbracht werden. Sofern über den 31. Mai 2005 hinaus die Voraussetzungen für den Bezug vorliegen, stelle es für den Beschwerdegegner keine unzumutbare Belastung dar, einen neuen Antrag zu stellen. Möglicherweise habe bis dahin die Beschwerdeführerin über den Widerspruch im Sinne des Beschwerdegegners entschieden.
Gegen den ihr am 18. April 2005 zugestellten Beschluss hat die Beschwerdeführerin am 4. Mai 2005 Beschwerde eingelegt. Das Sozialgericht Halle hat der Beschwerde mit Beschluss vom 12. Mai 2005 nicht abgeholfen und sie dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt. Die Beschwerdeführerin hat zur Begründung ausgeführt, Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung seien den vollstationären Einrichtungen gleichgestellt. Bei einer länger als sechs Monate andauernden Inhaftierung bestehe kein Anspruch auf Leistungen.
Die Beschwerdeführerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 12. April 2005 aufzuhe- ben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen.
Der Beschwerdegegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend und führt ergänzend aus, dass nur die Unterbringung in Einrichtungen zum Zwecke der Heilbehandlung einem Anspruch entgegenstehe.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakte der Stadt Halle verwiesen. Die Akten haben vorlegen und sind vom Senat bei seiner Entscheidung berücksichtigt worden.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und form- und fristgerecht beim Sozialgericht Halle eingelegt worden (§§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG). Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und diese dem Landessozialgericht Sachsen-Anhalt zur Entscheidung vorgelegt (§ 174 SGG).
Die Beschwerde ist begründet.
Nach § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Ein solcher Antrag ist nach § 86b Abs. 3 SGG auch vor Klageerhebung in der Hauptsache zulässig. Die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen hier aber nicht vor.
Der Senat geht nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage davon aus, dass die Voraussetzungen für einen Anspruch des Beschwerdegegners auf anteilige Gewährung der Regelleistung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegen die Beschwerdeführerin nicht besteht.
Gemäß § 19 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige als Arbeitslosengeld II u.a. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Erwerbsfähige Hilfebedürftige sind nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II Personen, die u.a. hilfebedürftig und erwerbsfähig sind.
Nach § 8 Abs. 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die Erwerbsfähigkeit wird in § 8 Abs. 1 SGB II nur durch das gesundheitliche Können bestimmt. Die amtliche Begründung zu § 8 Abs. 1 SGB II verweist zwar darauf, dass "einerseits die individuelle gesundheitliche Leistungsfähigkeit der Person, andererseits mögliche rechtliche Einschränkungen" zu berücksichtigen seien (vgl. BT-Drucksache 15/1516 S. 52). Dieser gesetzgeberischen Begründung schließen sich aber Ausführungen zu den zeitlichen Beschränkungen wegen Kindererziehung an, die unter Hinweis auf den Programmsatz des § 1 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II nicht von Bedeutung seien (BT-Drucksache a.a.O.). Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit aus rechtlicher Sicht werden dann im Gesetz nur durch den Fall der Ausländerbeschäftigung erfasst. Nach § 8 Abs. 2 SGB II können Ausländer nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Die möglichen rechtlichen Einschränkungen beziehen sich nur auf die Ausländerbeschäftigung. Somit führt der bloße Umstand der Inhaftierung nicht dazu, dass Leistungen nach dem SGB II nicht erbracht werden können. Aufgrund der gesetzlichen Formulierung "wegen" Krankheit oder Behinderung wird zusätzlich deutlich, dass die von einer Krankheit oder Behinderung ausgehenden Funktionseinschränkungen die wesentliche Ursache der Erwerbsunfähigkeit sein müssen. Beruht das Unvermögen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, dagegen auf anderen Faktoren, ist dies regelmäßig rechtlich irrelevant.
Allerdings erhält Leistungen nach diesem Buch nicht, wer für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist oder Rente wegen Alters bezieht (§ 7 Abs. 4 SGB II). Wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, ist nicht erwerbsfähig im Sinne des § 8 SGB II und auch nicht mehr leistungsberechtigt nach dem SGB II. In diesem Fall kann aber ein Sozialhilfeanspruch bestehen.
Eine Unterbringung in einer vollstationären Einrichtung liegt vor, wenn der Einrichtungsträger von der Aufnahme bis zur Entlassung des Hilfebedürftigen im Rahmen des Therapiekonzeptes die Gesamtverantwortung für dessen tägliche Lebensführung übernimmt und Gemeinschaftseinrichtungen vorhanden sind (Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 7 Rn. 34). Offensichtlich werden davon Krankenhäuser oder Kliniken erfasst, die medizinische Maßnahmen zur Rehabilitation anbieten. Das Gesetzgebungsverfahren zeigt jedoch, dass über die stationäre Heilbehandlung hinaus auch Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung, wie Strafhaft oder Untersuchungshaft, gemeint sind. Ursprünglich sah der Gesetzesentwurf ohne nähere Begründung überhaupt keine Leistungen nach dem SGB II für erwerbsfähige Hilfebedürftige vor, die stationär untergebracht sind (vgl. BT-Drucksache 15/1516, S. 10). Darauf hin regte u.a der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge an, Personen, die sich vorübergehend z.B. in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, in stationärer Krankenbehandlung oder in Untersuchungshaft befinden, nicht von den Leistungen auszuschließen (NDV 2003, 496, 499). Dieses Anliegen setzte der Gesetzgeber um, indem er den Leistungsausschluss auf Personen beschränkte, die für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht sind.
Der in § 7 Abs. 4 SGB II verwandte Begriff "stationäre Einrichtung" harmoniert mit § 35 Abs. 1 des Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - SGB XII (vgl. BT-Drucksache 15/1749 S. 31). Dort entspricht der notwendige Lebensunterhalt in stationären Einrichtungen dem Umfang der Leistung der Grundsicherung nach § 42 Satz 1 Nr. 1 bis 3 SGB XII. Somit verweist die Bestimmung auf das Vierte Kapitel – Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Dieses Kapitel enthält die bisher im Grundsicherungsgesetz (GSiG) geregelte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Zur "stationären Unterbringung" im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 GSiG gehörte auch die Inhaftierung im Maßregelvollzug einer JVA (vgl. VG Karlsruhe, Beschluss vom 10. Oktober 2003 – 5 K 2580/03, Juris).
Leistungen nach dem SGB II erhält damit nicht, wer für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Nach dem Wortlaut des § 7 Abs. 4 SGB II stellt der Zeitraum von sechs Monaten keine absolute zeitliche Grenze dar, deren Ablauf zunächst abzuwarten wäre, bevor der Leistungsausschluss eintreten könnte (so auch Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 7 Rn. 35; Brühl in LPK-SGB II, § 7 Rn. 60). Die Verwendung des Wortes "für" länger als sechs Monate lässt auf eine Prognoseentscheidung schließen. Eine vergleichbare Konstellation findet sich in § 125 des Sozialgesetzbuches Drittes Buch – Arbeitsförderung – SGB III. Kann prognostiziert werden, dass der Inhaftierte für länger als sechs Monate untergebracht ist, ist er vom ersten Tag des Freiheitsentzuges an vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen. Bei Untersuchungshäftlingen gestaltet sich die Prognose insofern schwierig, als die Dauer des Freiheitsentzuges nicht absehbar ist. Allerdings begrenzt § 121 der Strafprozessordnung (StPO) die Dauer der Untersuchungshaft im Regelfall auf sechs Monate. Nur wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen, kann die Haftfortdauer über sechs Monate hinaus angeordnet werden. Sofern sich im Regelfall nicht diese Gründe aufdrängen, wird unter Beachtung der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Erfolgsaussicht in der Regel prognostisch erwartet werden können, dass der Untersuchungshäftling nicht für länger als sechs Monate stationär untergebracht sein wird. Sobald allerdings erkennbar werden sollte, dass das Ende der Untersuchungshaft nicht mehr innerhalb der sechs Monate liegen wird, sind die Leistungen nach dem SGB II einzustellen.
Der Beschwerdegegner befindet sich seit dem 9. Mai 2004 in Untersuchungshaft. Damit ist er bereits länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II untergebracht. Er hat deshalb keinen Anspruch auf Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Es fehlt mithin für den Erlass einer einstweiligen Anordnung an einem Anordnungsanspruch.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Der Beschluss ist nach § 177 SGG unanfechtbar. Auf § 178a SGG wird ausdrücklich hingewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Beschwerdegegner begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Der am 11. April 1969 geborene Kläger befindet sich seit dem 9. Mai 2004 in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt (JVA) H ... Er bezog bis 31. Dezember 2004 von der Stadt H ... ein Taschengeld in Höhe von 42,75 EUR. Der Betrag entsprach 15 % des Regelsatzes (282 EUR) eines Haushaltsvorstandes in Sachsen-Anhalt.
Der Beschwerdegegner beantragte bei der Beschwerdeführerin die Gewährung von Taschengeld ab 1. Januar 2005. Dieses Begehren lehnte die Beschwerdeführerin mit Bescheid vom 25. Januar 2005 ab und führte zur Begründung aus, das Gesetz über die Grundsicherung für Arbeitsuchende sehe eine derartige Leistung für Untersuchungshäftlinge oder Inhaftierte einer J ... nicht vor. Alle für den Lebensunterhalt erforderlichen Leistungen erhalte ein Häftling von der JVA; er sei deshalb nicht hilfebedürftig. Der Beschwerdegegner legte gegen den Bescheid am 20. Februar 2005 Widerspruch ein.
Am 8. Februar 2005 hat der Beschwerdegegner wegen der vorläufigen Zahlung eines Taschengeldes beim Sozialgericht Halle den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Stadt H ... beantragt (S 13 SO 4/05 ER). Weiterhin hat er am 8. März 2005 beim Sozialgericht Halle einen Antrag auf Zahlung eines monatlichen Taschengeldes in Höhe von 49,65 EUR durch die Beschwerdeführerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Er hat vorgetragen: Die JVA übernehme lediglich die Verpflegung. Die Kosten für Kleidung, Körperpflegemittel und Haarschnitt sowie Stromkosten trage er selbst. Nur während der Strafhaft habe er einen Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch die Vollzugsbehörde. Ein Ende seiner Untersuchungshaft sei aber zur Zeit nicht absehbar. Das Verfahren sei beim Bundesgerichtshof anhängig. Mit einer Entscheidung über die Revision werde frühestens im Februar 2006 gerechnet. In seiner Erwerbsfähigkeit sei er gesundheitlich nicht eingeschränkt. Die rechtliche Einschränkung aufgrund seiner Inhaftierung sei bei der Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bedeutungslos.
Das Sozialgericht Halle hat mit Beschluss vom 12. April 2005 die Beschwerdeführerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, dem Beschwerdegegner für die Zeit vom 8. März bis 31. März 2005 39,72 EUR und für die Monate April und Mai 2005 monatlich 49,65 EUR zu zahlen. Im übrigen hat es den Antrag zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, der Beschwerdegegner sei im Sinne des Gesetzes der Grundsicherung für Arbeitsuchende hilfebedürftig und erwerbsfähig. Die gesetzliche Definition der Erwerbsfähigkeit beziehe sich nur auf die Gesundheit und nicht auf die rechtliche Einschränkung durch die Inhaftierung. Das Gesetz treffe im Fall der rechtlichen Einschränkung nur für Ausländer eine gesonderte Regelung. Eine den Regelungen über die Arbeitslosenhilfe vergleichbare Beschränkung der Erwerbsfähigkeit sei in das Recht über die Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht aufgenommen worden. Dem Beschwerdegegner stünde somit ausgehend von der Regelleistung in Höhe von 331 EUR ein Taschengeld in der beantragten Höhe zu. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass für ihn keine Aufwendungen für Verpflegung anfielen, erreiche der Betrag von 49,65 EUR ungefähr ein Drittel des ihm zustehenden monatlichen Betrages der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Der Wert der als Sachbezug zur Verfügung gestellten Verpflegung betrage monatlich 200,30 EUR. Es verbliebe somit rechnerisch ein Betrag von 130,70 EUR. Die Leistung stünde dem Beschwerdegegner im Monat März 2005 aber nur anteilig zu. Vorläufige Zahlungen könnten nur für die Zeit nach Antragstellung erbracht werden. Sofern über den 31. Mai 2005 hinaus die Voraussetzungen für den Bezug vorliegen, stelle es für den Beschwerdegegner keine unzumutbare Belastung dar, einen neuen Antrag zu stellen. Möglicherweise habe bis dahin die Beschwerdeführerin über den Widerspruch im Sinne des Beschwerdegegners entschieden.
Gegen den ihr am 18. April 2005 zugestellten Beschluss hat die Beschwerdeführerin am 4. Mai 2005 Beschwerde eingelegt. Das Sozialgericht Halle hat der Beschwerde mit Beschluss vom 12. Mai 2005 nicht abgeholfen und sie dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt. Die Beschwerdeführerin hat zur Begründung ausgeführt, Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung seien den vollstationären Einrichtungen gleichgestellt. Bei einer länger als sechs Monate andauernden Inhaftierung bestehe kein Anspruch auf Leistungen.
Die Beschwerdeführerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 12. April 2005 aufzuhe- ben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen.
Der Beschwerdegegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend und führt ergänzend aus, dass nur die Unterbringung in Einrichtungen zum Zwecke der Heilbehandlung einem Anspruch entgegenstehe.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakte der Stadt Halle verwiesen. Die Akten haben vorlegen und sind vom Senat bei seiner Entscheidung berücksichtigt worden.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und form- und fristgerecht beim Sozialgericht Halle eingelegt worden (§§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG). Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und diese dem Landessozialgericht Sachsen-Anhalt zur Entscheidung vorgelegt (§ 174 SGG).
Die Beschwerde ist begründet.
Nach § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Ein solcher Antrag ist nach § 86b Abs. 3 SGG auch vor Klageerhebung in der Hauptsache zulässig. Die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen hier aber nicht vor.
Der Senat geht nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage davon aus, dass die Voraussetzungen für einen Anspruch des Beschwerdegegners auf anteilige Gewährung der Regelleistung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegen die Beschwerdeführerin nicht besteht.
Gemäß § 19 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige als Arbeitslosengeld II u.a. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Erwerbsfähige Hilfebedürftige sind nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II Personen, die u.a. hilfebedürftig und erwerbsfähig sind.
Nach § 8 Abs. 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die Erwerbsfähigkeit wird in § 8 Abs. 1 SGB II nur durch das gesundheitliche Können bestimmt. Die amtliche Begründung zu § 8 Abs. 1 SGB II verweist zwar darauf, dass "einerseits die individuelle gesundheitliche Leistungsfähigkeit der Person, andererseits mögliche rechtliche Einschränkungen" zu berücksichtigen seien (vgl. BT-Drucksache 15/1516 S. 52). Dieser gesetzgeberischen Begründung schließen sich aber Ausführungen zu den zeitlichen Beschränkungen wegen Kindererziehung an, die unter Hinweis auf den Programmsatz des § 1 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II nicht von Bedeutung seien (BT-Drucksache a.a.O.). Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit aus rechtlicher Sicht werden dann im Gesetz nur durch den Fall der Ausländerbeschäftigung erfasst. Nach § 8 Abs. 2 SGB II können Ausländer nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Die möglichen rechtlichen Einschränkungen beziehen sich nur auf die Ausländerbeschäftigung. Somit führt der bloße Umstand der Inhaftierung nicht dazu, dass Leistungen nach dem SGB II nicht erbracht werden können. Aufgrund der gesetzlichen Formulierung "wegen" Krankheit oder Behinderung wird zusätzlich deutlich, dass die von einer Krankheit oder Behinderung ausgehenden Funktionseinschränkungen die wesentliche Ursache der Erwerbsunfähigkeit sein müssen. Beruht das Unvermögen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, dagegen auf anderen Faktoren, ist dies regelmäßig rechtlich irrelevant.
Allerdings erhält Leistungen nach diesem Buch nicht, wer für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist oder Rente wegen Alters bezieht (§ 7 Abs. 4 SGB II). Wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, ist nicht erwerbsfähig im Sinne des § 8 SGB II und auch nicht mehr leistungsberechtigt nach dem SGB II. In diesem Fall kann aber ein Sozialhilfeanspruch bestehen.
Eine Unterbringung in einer vollstationären Einrichtung liegt vor, wenn der Einrichtungsträger von der Aufnahme bis zur Entlassung des Hilfebedürftigen im Rahmen des Therapiekonzeptes die Gesamtverantwortung für dessen tägliche Lebensführung übernimmt und Gemeinschaftseinrichtungen vorhanden sind (Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 7 Rn. 34). Offensichtlich werden davon Krankenhäuser oder Kliniken erfasst, die medizinische Maßnahmen zur Rehabilitation anbieten. Das Gesetzgebungsverfahren zeigt jedoch, dass über die stationäre Heilbehandlung hinaus auch Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung, wie Strafhaft oder Untersuchungshaft, gemeint sind. Ursprünglich sah der Gesetzesentwurf ohne nähere Begründung überhaupt keine Leistungen nach dem SGB II für erwerbsfähige Hilfebedürftige vor, die stationär untergebracht sind (vgl. BT-Drucksache 15/1516, S. 10). Darauf hin regte u.a der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge an, Personen, die sich vorübergehend z.B. in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, in stationärer Krankenbehandlung oder in Untersuchungshaft befinden, nicht von den Leistungen auszuschließen (NDV 2003, 496, 499). Dieses Anliegen setzte der Gesetzgeber um, indem er den Leistungsausschluss auf Personen beschränkte, die für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht sind.
Der in § 7 Abs. 4 SGB II verwandte Begriff "stationäre Einrichtung" harmoniert mit § 35 Abs. 1 des Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - SGB XII (vgl. BT-Drucksache 15/1749 S. 31). Dort entspricht der notwendige Lebensunterhalt in stationären Einrichtungen dem Umfang der Leistung der Grundsicherung nach § 42 Satz 1 Nr. 1 bis 3 SGB XII. Somit verweist die Bestimmung auf das Vierte Kapitel – Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Dieses Kapitel enthält die bisher im Grundsicherungsgesetz (GSiG) geregelte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Zur "stationären Unterbringung" im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 GSiG gehörte auch die Inhaftierung im Maßregelvollzug einer JVA (vgl. VG Karlsruhe, Beschluss vom 10. Oktober 2003 – 5 K 2580/03, Juris).
Leistungen nach dem SGB II erhält damit nicht, wer für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Nach dem Wortlaut des § 7 Abs. 4 SGB II stellt der Zeitraum von sechs Monaten keine absolute zeitliche Grenze dar, deren Ablauf zunächst abzuwarten wäre, bevor der Leistungsausschluss eintreten könnte (so auch Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 7 Rn. 35; Brühl in LPK-SGB II, § 7 Rn. 60). Die Verwendung des Wortes "für" länger als sechs Monate lässt auf eine Prognoseentscheidung schließen. Eine vergleichbare Konstellation findet sich in § 125 des Sozialgesetzbuches Drittes Buch – Arbeitsförderung – SGB III. Kann prognostiziert werden, dass der Inhaftierte für länger als sechs Monate untergebracht ist, ist er vom ersten Tag des Freiheitsentzuges an vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen. Bei Untersuchungshäftlingen gestaltet sich die Prognose insofern schwierig, als die Dauer des Freiheitsentzuges nicht absehbar ist. Allerdings begrenzt § 121 der Strafprozessordnung (StPO) die Dauer der Untersuchungshaft im Regelfall auf sechs Monate. Nur wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen, kann die Haftfortdauer über sechs Monate hinaus angeordnet werden. Sofern sich im Regelfall nicht diese Gründe aufdrängen, wird unter Beachtung der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Erfolgsaussicht in der Regel prognostisch erwartet werden können, dass der Untersuchungshäftling nicht für länger als sechs Monate stationär untergebracht sein wird. Sobald allerdings erkennbar werden sollte, dass das Ende der Untersuchungshaft nicht mehr innerhalb der sechs Monate liegen wird, sind die Leistungen nach dem SGB II einzustellen.
Der Beschwerdegegner befindet sich seit dem 9. Mai 2004 in Untersuchungshaft. Damit ist er bereits länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 SGB II untergebracht. Er hat deshalb keinen Anspruch auf Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Es fehlt mithin für den Erlass einer einstweiligen Anordnung an einem Anordnungsanspruch.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Der Beschluss ist nach § 177 SGG unanfechtbar. Auf § 178a SGG wird ausdrücklich hingewiesen.
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