L 2 U 42/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 U 274/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 42/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 16. Januar 2004 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Ablehnung eines Antrags auf Rücknahme eines Verwaltungsaktes und die Gewährung von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund eines Arbeitsunfalls vom 15. September 1998.

Der Kläger stürzte am 15. September 1998 während der Arbeit beim Tragen einer Öldruckspeicherpumpe auf einer Treppe und fiel auf den Kopf. Der Durchgangsarzt diagnostizierte nach dem Bericht vom 17. September 1998 eine Gehirnerschütterung (commotio cerebri) sowie multiple Prellungen und Schürfwunden. Vom Unfall unabhängig bestehe ein bekanntes Halswirbelsäulen- (HWS-), Brustwirbelsäulen- (BWS-) und Lendenwirbelsäulen- (LWS-)Syndrom. Ein Hinweis auf frische Knochenverletzungen ergab sich nicht. Es erfolgte eine stationäre Behandlung vom 16. bis 21. September 1998.

Im Anschluss gab der Kläger noch Schmerzen im Nacken- und LWS-Bereich sowie im Bereich des rechten Schultergelenks mit Einschränkung der Beweglichkeit an. Röntgenologisch wurde eine Arthrose des Acromioclaviculargelenkes festgestellt. Ab 2. November 1998 wurde der Kläger wieder arbeitsfähig geschrieben.

Am 29. November 1998 begab sich der Kläger in erneute ärztliche Behandlung; er berichtete von Schmerzen im gesamten LWS-Bereich mit Ausstrahlung in die rechte Gesäßregion und in den Oberschenkel sowie Sensibilitätsstörungen an den Zehenspitzen. Eine Computertomographie (CT) der LWS vom 1. Dezember 1998 ergab einen Bandscheibenprolaps mit kranial (kopfwärts) gerichtetem, rechtsseitigem Sequester im Bereich der LWK 4/3 sowie eine geringgradige breitbasige Bandscheibenprotrusion LWK 4/5 und eine mediale Bandscheibenvorwölbung nach dorsal (rückseitig) im Sinne eines kleinen, medialen Bandscheibenprolapses LWK 5/S1. Es fanden sich jeweils deutliche Spondylarthrosen bzw. eine massive Osteochondrose. Der Kläger wurde vom 29. November bis zum 15. Dezember 1998 konservativ stationär behandelt. Während eines erneuten stationären Aufenthaltes wurde am 17. März 1999 ein Bandscheibenvorfall LWK 3/4 rechts operiert.

Nach dem Bericht des Dr. G. (St. B.-Krankenhaus) vom 12. Juli 1999 habe der Kläger während des früheren stationären Aufenthaltes vom 16. bis 21. September 1998 über keine wesentlichen Beschwerden im Bereich der LWS geklagt. Bei der stationären Aufnahme seien keine neurologischen Ausfälle festgestellt worden. Aus der früheren Anamnese sei bekannt, dass zumindest seit 1990 rezidivierende Lumboischialgien bestanden und behandelt wurden. Aufgrund der Vorgeschichte und der röntgenologisch sowie computertomographisch gesicherten, erheblichen degenerativen Veränderungen im Bereich der HWS und LWS sowie wegen fehlendem Trauma der LWS am 15. September 1998 sei die stationäre Behandlung vom 29. November bis zum 15. Dezember 1998 unfallunabhängig durchgeführt worden. Alle Veränderungen im Bereich der gesamten Wirbelsäule und die gegenwärtig durchgeführten Behandlungsmaßnahmen seien keine unfallbedingten Erkrankungen.

Nach einem Bericht des Klinikums der Universität R. vom 16. Juli 1999 bestand ein Zustand nach Bandscheibenoperation in Höhe LWK 3/4 rechts, ein Verdacht auf eine Facettensyndrom LWK 3/4 rechts sowie ein Verdacht auf Instabilität im Segment LWK 3/4. Auf die bekannten degenerativen Veränderungen in Höhe LWK 5/S1 und LWK 4/5 wurde verwiesen.

Die Beklagte holte ein Gutachten des Chirurgen Dr. T. vom 17. August 1999 ein. Danach erlitt der Beschwerdeführer durch den Unfall eine Gehirnerschütterung, zahlreiche Prellungen und Schürfungen sowie eine Zerrung der HWS. Das Unfallereignis habe eine vorgeschädigte Wirbelsäule getroffen. Es sei mit Wahrscheinlichkeit lediglich geeignet gewesen, die Gesundheitsstörungen im Bereich der LWS vorübergehend bis Oktober 1998 zu verschlimmern. Vor allem die degenerativen Veränderungen der gesamten Wirbelsäule, der Zustand nach Bandscheibenoperation L 3/4, neurologische Ausfälle am rechten Bein, degenerative Veränderungen des rechten Schultereckgelenks und eine Bewegungseinschränkung im rechten Schultergelenk seien als unfallunabhängig zu werten. Unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit habe bis 1. November 1998 bestanden. Es sei keine MdE anzuerkennen.

Mit Bescheid vom 2. September 1999 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente ab, weil der Versicherungsfall keine messbare MdE hinterlassen habe. Unfallbedingt seien eine Zerrung der HWS, zahlreiche Prellungen und Schürfungen, eine Gehirnerschütterung sowie der Verlust einer Zahnprothese. Unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit hätten vom 16. September bis 1. November 1998 bestanden. Die übrigen beklagten Beschwerden "verschleißbedingte Aufbrauchsveränderungen der gesamten Wirbelsäule, Zustand nach Bandscheibenoperation L 3/4, neurologische Ausfälle am rechten Bein, Aufbrauchsveränderungen des rechten Schultereckgelenks, Bewegungseinschränkung des rechten Schultergelenks, O-Beinstellung beidseits" wurden nicht als Folgen des Versicherungsfalls anerkannt. Den Widerspruch wies die Beklagte mit bestandskräftigem Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2000 zurück.

Einen Antrag auf Überprüfung gemäß § 44 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X) vom 25. Juli 2000 wies die Beklagte mit Bescheid vom 7. August 2000 zurück. Ein vom Schmerzzentrum am Krankenhaus der M. von T. e.V. attestiertes chronifiziertes Lumbalsyndrom sei bereits im Bescheid vom 2. September 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 2000 als unfallunabhängig festgestellt worden. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23. August 2001 zurück.

Dagegen erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Regensburg. Das Sozialgericht holte auf den klägerischen Antrag gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten des Orthopäden Dr. S. ein. Dieser gelangte am 10. Juli 2002 zu dem Ergebnis, als Unfallfolgen seien ein Lumbalsyndrom bei Zustand nach einer Bandscheibenoperation L 3/4 rechts mit Restparesen und ein Zustand nach LWS-Kontusion anzuerkennen. Zwar sei der Nachweis einer degenerativen Vorschädigung überzeugend geführt. Der Unfall sei jedoch eine wesentliche Teilursache gewesen. Dafür spreche, dass der Beschwerdeführer trotz vorbestandener Verschleißerkrankungen bis zum Unfallereignis seine teilweise auch schwere berufliche Tätigkeit ausgeübt habe. Es müsse von einer erheblichen Gewalteinwirkung auf das Achsenorgan infolge des Treppensturzes ausgegangen werden. Die MdE betrage vom Unfalltag bis 14. April 1999 100 v.H., bis 14. Juni 1999 50 v.H., bis 14. September 1999 20 v.H., bis 14. Oktober 2000 10 v.H.

In einer ergänzenden Stellungnahme vom 26. Mai 2003 führte Dr. S. aus, es spreche mehr für als dagegen, dass es aufgrund des Unfallereignisses zu einer weiteren Verschlechterung vormals bestehender Einschränkungen im Sinne einer Ruptur einer vorgeschädigten Bandscheibe gekommen sei.

Das Sozialgericht wies die Klage mit Urteil vom 16. Januar 2004 ab. Das Gericht folgte dabei dem von der Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten des Dr. T ... Das Unfallereignis sei auf eine erheblich vorgeschädigte Wirbelsäule getroffen. Entgegen der Ansicht des Dr. S. sei das angeschuldigte Ereignis nicht geeignet gewesen, die bekannten vorliegenden Veränderungen zu verschlimmern oder hervorzurufen. Dr. S. habe keine Abwägung zwischen dem Ausmaß des Vorschadens und dem Beitrag des Unfallereignisses zu den bestehenden gesundheitlichen Verhältnissen getroffen; er habe die nachgewiesenen Vorschäden nicht entsprechend ihrer Gewichtigkeit gewertet.

Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt und zur Begründung auf das Gutachten des Dr. S. sowie auf dessen ergänzende Stellungnahme verwiesen. Außerdem sei der Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt worden. Das Sozialgericht hätte den Sachverhalt in medizinischer Hinsicht durch die Einholung eines Obergutachtens weiter aufklären müssen. Das Gericht hätte nicht selbst eine Wertung treffen dürfen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Regensburg vom 16. Januar 2004 sowie des Bescheides der Beklagten vom 7. August 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. August 2001 zu verurteilen, ihm unter Rücknahme des Bescheides vom 2. September 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 2000 Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung aufgrund des Unfalls vom 15. September 1998 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 16. Januar 2004 zurückzuweisen.

Im Übrigen wird gemäß § 136 Abs. 2 SGG auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie der Klage-, Berufungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), aber unbegründet.

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 S. 1 SGB X). Der Bescheid der Beklagten vom 2. September 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 2000 ist jedoch nicht rechtswidrig im Sinne des § 44 Abs. 1 SGB X, da er zutreffend im Ergebnis die Gewährung einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen eines Arbeitsunfalls ablehnte. Zu Recht lehnte es die Beklagte ab, vor allem die Beeinträchtigungen der Wirbelsäule als Unfallfolge anzuerkennen.

Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) begründenden Tätigkeit, § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII. Dabei muss die Gesundheitsbeeinträchtigung in einem notwendigen ursächlichen Zusammenhang mit der schädigenden Einwirkung stehen. Die Beurteilung, ob und in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet. Dabei ist allerdings die Beurteilung der Kausalität im Ergebnis eine Frage der richterlichen Würdigung. Verursacht sind die Gesundheitsstörungen, wenn der Unfall gegenüber sonstigen schädigungsfremden Faktoren wie z.B. Vorerkrankungen nach der medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung von überragender Bedeutung für die Entstehung der Gesundheitsstörung war oder zumindest von annähernd gleichwertiger Bedeutung (wesentliche Mitursache). Eine wesentliche Mitursache liegt dann nicht vor, wenn beim Versicherten eine Anlage so stark und leicht ansprechbar war, dass es zur Auslösung akuter Erscheinungen keiner besonderen, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern jedes andere alltäglich vorkommende ähnlich gelagerte Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinungen ausgelöst hätte. Die für die Bejahung des Zusammenhangs der Gesundheitsstörungen mit dem Arbeitsunfall notwendige Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn nach der medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt.

Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage demgemäß abgewiesen. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird abgesehen, da der Senat die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§ 153 Abs. 2 SGG).

Der medizinische Sachverhalt war im Übrigen auch umfassend durch die Beklagte sowie durch das Sozialgericht aufgeklärt. Zwar gelangen die Gutachter Dr. T. und Dr. S. zu einer unterschiedlichen Bewertung der Frage, ob die Wirbelsäulenbeschwerden als wesentlich durch den Unfall bedingt anzusehen sind, doch ist es gerade die Aufgabe des Gerichts, die Schlüssigkeit der Gutachten zu werten, wie dies vom Sozialgericht vorgenommen wurde. Die Einholung eines weiteren Gutachtens im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes kann hieraus nicht abgeleitet werden, insbesondere kennt die sozialgerichtliche Rechtsordnung nicht die Einholung eines "Obergutachtens". Eine verfahrensrechtliche Pflicht zur Einholung eines weiteren Gutachtens besteht nur dann, wenn ein vorliegendes Gutachten schwere Mängel aufweist, in sich widersprüchlich ist oder von unzutreffenden Voraussetzungen ausgeht (BSG, Beschluss vom 24. März 2005, Az.: B 2 U 368/04 B). Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Die Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes war auch umfassend. Insbesondere lagen auch dem Gutachter Dr. T. im Rahmen seiner Begutachtung die einschlägigen Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule vor. Er wertete die Aufnahmen der LWS in zwei Ebenen des St. B. Krankenhauses vom 6. Juni 1988 sowie der HWS in vier Ebenen vom 16. September 1998 in dem Gutachten aus und bewertete den Befund und die Beurteilung der CT der LWS vom 1. Dezember 1998. Damit war eine vergleichende Betrachtung der Wirbelsäule vor und nach dem Unfallereignis möglich. Dr. T. ging ferner aufgrund der damaligen Weigerung des Klägers, weitere Röntgenaufnahmen anfertigen zu lassen, davon aus, dass aufgrund der durch die vorliegenden Röntgenbilder bekannten Vorgeschichte keine weiteren, aktuellen Röntgenaufnahmen erforderlich sind. Da im Ergebnis von einer erheblich vorgeschädigten Wirbelsäule auszugehen ist und keine unfallbedingten Folgen mehr anzuerkennen sind, ist die Einholung weiterer Röntgenaufnahmen nach dem Unfalltag nicht mehr angezeigt.

Der Kläger erlitt nach eigenen Angaben am 6. Dezember 2000 einen weiteren Arbeitsunfall. Der Senat hatte jedoch nicht zu prüfen, ob die Voraussetzungen einer Stützrente vorliegen, weil nach dem Ergebnis der medizinischen Sachaufklärung aufgrund des Arbeitsunfalls vom 15. September 1998 keine MdE mehr verblieben ist (BSG vom 18. März 1993 - 8 RKn U 4/92).

Die Kostenfolge stützt sich auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Gründe nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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