L 5 KR 16/05

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Schleswig (SHS)
Aktenzeichen
S 8 KR 119/03
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 16/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein Rollstuhlrückhaltesystem für Behindertentransportkraftwagen (sog. Kraftknoten) ist grundsätzlich kein erforderliches Hilfsmittel im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 15. November 2004 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligen einander für das gesamte Verfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Übernahme der Kosten für ein Rückhaltesystem für seinen Rollstuhl, mit dem dieser während der Beförderung mit Kraftfahrzeugen optimal gesichert werden kann.

Der 1979 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Er ist Rollstuhlfahrer und als Behinderter in den M Werkstätten beschäftigt. Dorthin wird er mit einem Behindertentransportkraftwagen transportiert. Am 27. Juni 2003 erhielt die Beklagte einen Kostenvoranschlag des Sanitätshauses S über die Installation einer Kraftknotenhalterung als Sicherungssystem für den vorhandenen Rollstuhl im Kraftfahrzeug über 581,16 EUR. Weiter lag der Beklagten eine ärztliche Verordnung der Ärztin Dr. R über eine Halterung für Rollstuhltransport, komplettes System, bei spastischer Diplegie bei M.D. vor. Nach der Definition des Kraftknoten durch das Deutsche Institut für Normung in der DIN 75078 Teil 2 handelt es sich dabei um ein Rückhaltesystem, das im Falle eines Unfalls die etwaige Verformung des Rollstuhls und damit schwerwiegende Unfallfolgen für Rollstuhlfahrer verhindert.

Mit Bescheid vom 4. Juli 2003 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme ab. Bei Autofahrten handele es sich nicht um ein Grundbedürfnis. Die behindertengerechte Ausstattung/Umrüstung eines Pkw sei daher kein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung. Den hiergegen erhobenen Widerspruch begründete der Kläger damit, dass der Bus der M Werkstätten den Rollstuhl ohne den Kraftknoten nicht transportieren könne. Bei Nichtvorhandensein treffe den Rollstuhlfahrer eine Mitschuld bei einem eventuellen Unfall. Somit sei auch keine sorgfaltsgemäße Befestigung des Rollstuhls gewährleistet. Die Beklagte blieb bei ihrer Auffassung und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 2003 zurück. Ergänzend führte sie zur Begründung aus, der Kläger sei mit einem Aktivrollstuhl versorgt. Damit sei die Beklagte ihrer Verpflichtung zur Schaffung eines körperlichen Freiraums ausreichend nachgekommen. Es sei nicht Aufgabe der Krankenversicherung, die Bewegungsfreiheit eines gehbehinderten Versicherten zu erweitern, indem der Transport eines Rollstuhls in einem Bus ermöglicht werde. Hierzu seien gegebenenfalls andere Leistungsträger leistungspflichtig. Der Widerspruchsbescheid ist dem Kläger am 13. November 2003 zugestellt worden.

Er hat am 5. Dezember 2003 Klage beim Sozialgericht Schleswig erhoben und zur Begründung vorgetragen: Im Hinblick auf die Beförderung von Rollstuhlfahrern durch die M Werkstätten sei die Anbringung eines Kraftknotensystems aus Sicherheits- und Haftungsgründen erforderlich. Die Beklagte habe zu berücksichtigen, dass der Anspruch nach § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V) nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auch Teile und Zubehörteile umfasse, die nicht den Begriff des wesentlichen Bestandteils erfüllten, wenn sie nur zum Gebrauch des Hilfsmittels erforderlich seien. Der Anspruch auf Hilfsmittel umfasse all das, was erforderlich sei, dem Versicherten den bestimmungsgemäßen Gebrauch des Hilfsmittels zu ermöglichen.

Die Beklagte hat zur Begründung ergänzend ausgeführt, für die Nutzung des vorhandenen Rollstuhls im Rahmen der Grundbedürfnisse sei das Kraftknotensystem, welches für den Transport mit privaten und öffentlichen Verkehrsmitteln vorgesehen sei, nicht erforderlich. Entsprechend habe das Sozialgericht Speyer zutreffend im Urteil vom 12. Februar 2004 (S 7 KR 525/03) entschieden.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 15. November 2004 der Klage stattgegeben und zur Begründung ausgeführt: Das beantragte Kraftknotensystem ermögliche dem Kläger als notwendiges Zubehör des Rollstuhls - der wiederum im Rahmen der Kompensation der o.a. Grundbedürfnisse zu gewähren sei - den bestimmungsgemäßen Gebrauch des Hilfsmittels im Rahmen elementarer Grundbedürfnisse bei der Beförderung in Behindertentransportkraftwagen. Damit sei das Kraftknotensystem jedoch notwendiges Zubehör des Rollstuhls und die Beklagte zur Kostenübernahme verpflichtet.

Gegen das ihr am 17. Januar 2005 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten, eingegangen beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht am 14. Februar 2005. Zur Begründung trägt sie ergänzend vor, die zum Behindertenausgleich notwendige Mobilität werde schon durch den zur Verfügung gestellten Rollstuhl erreicht. Bei dem streitgegenständlichen Kraftknotensystem handele es sich nicht um ein notwendiges Zubehör zu diesem Rollstuhl. Die gesetzliche Krankenversicherung habe nur für einen Basisausgleich zu sorgen. Hinsichtlich der Mobilität müsse der Versicherte in die Lage versetzt werden, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang an die frische Luft oder um üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegende Stellen zu erreichen, in denen Alltagsgeschäfte zu erledigen seien. Dafür sei das Kraftknotensystem nicht erforderlich. Solle ein Hilfsmittel eingesetzt werden, um größere Entfernungen zu überwinden, falle es nicht in den Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Daraus folge, dass es sich beim Autofahren, egal ob als selbstständiger Fahrer oder Mitfahrer, nicht um ein Grundbedürfnis handeln könne.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 15. November 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er nimmt zur Begründung auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten und die Gerichtsakten verwiesen. Der Senat hat die Mutter und Betreuerin des Klägers in der mündlichen Verhandlung angehört.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und begründet. Das klagestattgebende Urteil des Sozialgerichts Schleswig ist aufzuheben und die Klage abzuweisen, die angefochtenen Bescheide sind nicht zu beanstanden. Zu Recht hat die Beklagte die Kostenübernahme für das streitgegenständliche Rollstuhlrückhaltesystem abgelehnt. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Leistungsverpflichtung der Beklagten sind nicht erfüllt.

Versicherte haben nach § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V) einen Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit es sich hierbei nicht um allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handelt oder § 34 SGB V einen Ausschluss vorsieht. Für den Hilfsmittelbegriff ist es nicht erforderlich, dass das körperliche Funktionsdefizit unmittelbar überwunden wird; ausreichend ist es, dass ein sächliches Mittel gewährt wird, das die ausgefallene Funktion ersetzt, erleichtert oder ergänzt, auch wenn dies in anderer Wirkungsweise geschieht. Rollstühle sind als Hilfsmittel in diesem Sinne anzusehen. Allerdings ist der Kläger bereits mit einem Rollstuhl versorgt und darum streiten die Beteiligten auch nicht. Er macht vielmehr einen Anspruch auf ein Zubehörteil geltend, mit dem der Rollstuhl bei der Beförderung mit einem (bestimmten) Kraftfahrzeug gesichert wird. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist diese Versorgung jedoch nicht erforderlich im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V.

Ein Hilfsmittel ist im Sinne dieser Vorschrift nur dann erforderlich, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Dazu gehören einerseits die körperlichen Grundfunktionen wie Gehen, Stehen, Treppensteigen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme oder Ausscheidung und andererseits die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die dazu erforderliche Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, der auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens umfasst. Damit ist die Bewegungsfreiheit als Grundbedürfnis anzuerkennen, begrenzt ist sie jedoch auf die Entfernungen, die notwendig sind, um sich in der eigenen Wohnung zu bewegen oder die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (BSG, SozR 3-2500 § 33 Nr. 31; Urteil des Senats vom 27. April 2004 - L 1 KR 78/03 -). Der Kläger ist auf Grund der Versorgung mit dem Rollstuhl hierzu in der Lage; die Versorgung mit dem Kraftknotensystem verbessert insoweit seine Situation nicht. Vielmehr ermöglicht ihm dieses System, den Rollstuhl auch in Bezug auf die Fortbewegung mit einem (bestimmten) Kraftfahrzeug zu nutzen. Diese Fortbewegungsart gehört jedoch grundsätzlich nicht zu den oben näher bezeichneten Grundbedürfnissen bezogen auf die Mobilität. Damit ist auch das beantragte Kraftknotensystem entgegen der Auffassung des Sozialgerichts nicht notwendiges Zubehör des Rollstuhls zur Kompensation des Grundbedürfnisses (so auch Urteil des LSG Mainz vom 19. August 2005 - L 1 KR 42/05 -). Das Sozialgericht verkennt hier offensichtlich den Umfang des Grundbedürfnisses Mobilität, indem es dieses auf die Fortbewegungsmöglichkeit mit dem Kraftfahrzeug erstreckt.

Besonderheiten des Falles machen es auch nicht notwendig, im Falle des Klägers von einem erweiterten Grundbedürfnis auszugehen und daraus einen Anspruch auf Versorgung mit dem Kraftknotensystem abzuleiten. Soweit die Mutter des Klägers in der mündlichen Verhandlung die Notwendigkeit der Installation des Kraftknotensystems in dem Behindertentransportwagen der M Werkstätten auch damit begründet hat, die häufigen Arzt- und Krankengymnastikbesuche des Klägers zu ermöglichen, führt dies nicht zu einem Versorgungsanspruch. Die Leistungspflicht der Krankenkasse geht nämlich nur so weit, als es die Erfüllung des Grundbedürfnisses notwendig macht. Dem genügt es nicht, wenn lediglich Hilfen in einzelnen Lebensbereichen zu dienen bestimmt sind. Außerdem bestimmen nicht konkrete Umstände des Versicherten die Notwendigkeit einer Versorgung mit einem bestimmten Hilfsmittel. So hat etwa der erkennende Senat in seinem Urteil vom 9. September 1997 (L 1 KR 92/96 und bestätigend das BSG in SozR 3-2500 § 33 Nr. 30) den Anspruch auf Versorgung mit einem Hilfsmittel in Form der Einbau eines Treppenlifts mit der Begründung abgelehnt, dass die Hilfsmitteleigenschaft nicht von den jeweiligen Wohnverhältnissen des Behinderten abhängt bzw. den Anspruch zu begründen in der Lage ist. Ähnlich verhält es sich mit dem hier streitigen Kraftknotensystem. Dieses findet seine Anwendung nur in dem Behindertentransportwagen, wie ihn die M Werkstätten zum Transport einer größeren Anzahl von Behinderten verwendet. Keine Anwendung findet das System hingegen in einem (üblicherweise benutzten) Pkw, in dem der Rollstuhl im Kofferraum transportiert wird. Die Notwendigkeit der Versorgung eines Hilfsmittels kann nicht von den konkreten Umständen abhängig gemacht werden, in denen der Behinderte lebt. Für einen Versicherten mit gleicher Behinderung, der einen üblichen Pkw nutzt, bei dem der Rollstuhl getrennt von dem Behinderten transportiert wird, ergibt sich die Notwendigkeit einer Versorgung nicht.

Der Versorgungsanspruch kann auch nicht daraus abgeleitet werden, dass das Kraftknotensystem die Fahrt zur Tätigkeit in den M Werkstätten ermöglicht. Damit würde nämlich der von der gesetzlichen Krankenversicherung allein abzudeckende Bereich der medizinischern Rehabilitation (vgl. §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6, 40 SGB V) verlassen werden. Berufliche oder/und soziale Rehabilitationen sind ggf. von anderen Sozialleistungsträgern zu erbringen. Sie gehören nicht zur Leistungsverpflichtung der gesetzlichen Krankenkassen. Das ergibt sich aus § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX, in dem der Leistungsbereich der Teilhabe am Arbeitsleben (§ 5 Nr. 2 SGB IX) nicht aufgeführt ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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