Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Koblenz (RPF)
Aktenzeichen
S 14 SB 315/04 Ko
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 4 SB 224/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht nach dem Schwerbehindertenrecht wegen Harn- und Teilstuhlinkontinenz scheidet bei einem behinderten Menschen aus, wenn er die dafür erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen durch zumutbare Gestaltung seiner Lebensverhältnisse vermeiden kann, etwa durch eine Umstellung der Ernährung, wenn die Umstellung nur vorübergehend erforderlich ist und/oder nicht mit Beeinträchtigung der Gesundheit oder sonstigen erheblichen Nachteilen verbunden ist.
2. Die Grenzen der Zumutbarkeit sind aber überschritten, wenn zuckerkranke behinderte Menschen auf den Verzicht einer Abendmahlzeit verwiesen werden, um am nächsten Morgen – dann auch ohne Frühstück – an einer öffentlichen Veranstaltung teilzunehmen zu können.
2. Die Grenzen der Zumutbarkeit sind aber überschritten, wenn zuckerkranke behinderte Menschen auf den Verzicht einer Abendmahlzeit verwiesen werden, um am nächsten Morgen – dann auch ohne Frühstück – an einer öffentlichen Veranstaltung teilzunehmen zu können.
1. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 27.10.2005 sowie der Bescheid vom 28.05.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2004 abgeändert und der Beklagte verurteilt, bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF festzustellen.
2. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin beider Rechtszüge trägt der Beklagte.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF nach dem Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX).
Zuletzt mit Bescheid vom 10.07.2001 (Bl. 280 SA) stellte das Amt für soziale Angelegenheiten Koblenz in Ausführung eines Urteils des Sozialgerichts Koblenz vom 25.05.2001 (Az.: S 4 Vs 912/98) bei der 1948 geborenen Klägerin als Behinderung mit einem GdB von 80 fest:
Herzleistungsminderung bei Bluthochdruck und Adipositas,
Lungenfunktionsstörung bei chronischer Bronchitis mit Allergie,
degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Bandscheibenschäden, wiederkehrende Nervenwurzelreizerscheinungen,
Harninkontinenz,
Darmschließmuskelschwäche,
psychische Beeinträchtigung mit Somatisierungstendenz,
Funktionsbehinderung der Hüftgelenke und des linken Fußes.
Im Januar 2003 beantragte die Klägerin die Neufeststellung des GdB sowie die Feststellung der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF wegen der Angst, das Haus zu verlassen. Das Amt für soziale Angelegenheiten Koblenz holte Befundberichte der Fachärzte für Innere Medizin Dr. K und S , des Pneumologen und Internisten Dr. R sowie des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. U ein, die zahlreiche weitere Befundunterlagen vorlegten. Der Vertragsarzt W führte in der versorgungsärztlichen Stellungnahme aus, die Behinderung sei nunmehr mit einem GdB von 90 zu bewerten und zu bezeichnen als:
Herzleistungsminderung bei Bluthochruck und Adipositas (GdB 50),
Diabetes mellitus (GdB 40),
Lungenfunktionsstörung bei chronischer Bronchitis mit Allergien (GdB 30),
degenerative Veränderung der Wirbelsäule mit Bandscheibenschäden, wiederkehrende Nervenwurzelreizerscheinung (GdB 30),
Harninkontinenz (GdB 20),
Darmschließmuskelschwäche (GdB 20),
psychische Beeinträchtigung mit Somatisierungstendenz (GdB 30),
Funktionsbehinderung der Hüftgelenke und des linken Fußes (GdB 10).
Daraufhin stellte das Amt für soziale Angelegenheiten Koblenz mit Bescheid vom 28.05.2003 die Behinderung entsprechend dem Vorschlag des Versorgungsarztes mit einem GdB von 90 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "G" fest. Die Feststellung des Nachteilsausgleichs RF wurde abgelehnt, da es der Klägerin trotz ihrer Behinderung durchaus möglich sein müsse, als Zuschauer oder Zuhörer an irgendwelchen öffentlichen Veranstaltungen in zumutbarer Weise teilzunehmen.
Im Widerspruchsverfahren legte die Klägerin einen Arztbrief des Dr. B , Chefarzt der Klinik für Neurochirurgie, Gesundheitszentrum E S St. M , K , vor. Der Beklagte zog den Entlassungsbericht über eine stationäre Heilbehandlung der Klägerin vom 04.11. bis 10.11.2003 im St. E -Krankhaus, L bei, wo die Klägerin u. a. wegen einer Colitis ulcerosa in Vollremission behandelt worden war. Nach versorgungsärztlicher Beteiligung wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16.04.2004 zurück.
Im vor dem Sozialgericht Koblenz durchgeführten Klageverfahren hat der Beklagte ein Teilanerkenntnis abgegeben und sich zur Feststellung eines GdB von 100 verpflichtet, da nach einer vom Beklagten vorgelegten sozialmedizinischen Stellungnahme der Ärztin für Chirurgie und Sozialmedizin Dr. W -S der Diabetes mellitus Typ II nunmehr mit einem GdB von 30 zu bewerten sei. Da sich die Mastdarm- und Harnblasenteilinkontinenz sicherlich beeinträchtigend im Alltag auswirkten, werde ein GdB von 100 anerkannt.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines fachinternistisch-gastroenterologischen Gutachtens des Internisten, Gastroenterologen und Diabetologen Dr. H , St. E -Krankenhaus, N.
Der Sachverständige hat die Klägerin im Dezember 2004 untersucht und im Wesentlichen in seinem Gutachten abschließend ausgeführt, im täglichen Leben der Klägerin wirke sich gerade die Stuhlinkontinenz erheblich bzgl. des sozialen Verhaltens aus, da die Klägerin nicht mehr in der Lage sei, Winde zurückzuhalten und es regelmäßig zu Stuhlverschmierungen komme, auch wenn sie Pampers trage. Die Abdichtung der Pampers sei nicht so ausreichend, dass Geruchsbelästigungen ausgeschlossen werden könnten. Es bestehe ein Rektumprolaps mit Stuhlinkontinenz mit schwierig gestörten anatomischen Verhältnissen. Die Funktionsstörungen der Klägerin grenzten an einen Funktionsverlust des Afterschließmuskels. Da noch eine Restfunktion vorliege, werde hierfür ein GdB von 40 vorgeschlagen. Der Gesamt-GdB sei mit 90 einzuschätzen. Die Klägerin wirke zumindest abstoßend und störend dadurch auf ihre Umgebung, dass sie unkontrolliert Darmgase von sich gebe und Stuhl absondere, wobei bei Aufregung noch eine Harninkontinenz hinzukomme. Durch die damit verbundene Geruchsbelästigung sei es ihr nicht zumutbar, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.
Der Beklagte ist dem Gutachten durch Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Sozialmediziners W entgegengetreten, wonach ein GdB von 40 für die Funktionsstörung des Enddarms übernommen werden könne, der Nachteilsausgleich RF aber nicht gegeben sei. Dieser werde erst bei schlechter Funktion bzw. Komplikationen mit einem Einzel-GdB von 60 zu diskutieren sein.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Koblenz hat die Klägerin das Teilanerkenntnis des Beklagten angenommen und nur noch die Verurteilung des Beklagten zur Feststellung des Nachteilsausgleichs RF geltend gemacht.
Mit Urteil vom 27.10.2005 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF lägen nicht vor. Zwar sei bei der Klägerin ein GdB von mindestens 80 festgestellt, die zusätzlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF lägen aber nicht vor. Die bei ihr bestehenden Beeinträchtigungen machten es der Klägerin nicht unmöglich, in nennenswertem Umfang an öffentlichen Veranstaltungen im Sinne des Rundfunkgebührenstaatsvertrages teilzunehmen. Es sei der Klägerin nämlich möglich und zumutbar, durch Anpassung ihrer Lebensgewohnheiten und unter Zuhilfenahme von Hilfsmitteln die Auswirkungen ihrer Behinderung, also die Geruchsbelästigungen aufgrund der Darmschließmuskelschwäche und der Harninkontinenz, so zu begrenzen, dass sie auf die anderen Besucher einer öffentlichen Veranstaltung nicht in hohem Maße abstoßend oder störend wirkten. Dies ergebe sich auch aus dem Gutachten des Dr. H , wonach eine – wenn auch nur geringe – Restkontrolle des Schließmuskels vorhanden sei und damit ein von den Anhaltspunkten beispielhaft als Vergleich vorgeschlagener Zustand "unzureichend verschließbarer Darmausgang" (GdB 60) bei der Klägerin gerade nicht vorliege. Die Klägerin könne zudem nach dem Gutachten unter Beachtung bestimmter Vorsichtsmaßnahmen ihr Haus in einem Zustand verlassen, der ihr auch den Besuch öffentlicher Veranstaltungen ermögliche. Denn nach ihren eigenen Angaben könne sie das Haus in Ausnahmefällen ohne Angst verlassen, wenn sie am Abend vorher nichts mehr zu sich genommen habe. Es sei ihr zuzumuten, ihre Ernährung umzustellen, wenn auf diese Weise der Besuch von Veranstaltungen ermöglicht werde. Ebenso sei auch zu bedenken, dass der Klägerin auch Veranstaltungen unter freiem Himmel möglich seien, bei denen vereinzelt auftretende Blähungen von anderen Teilnehmern völlig unbemerkt blieben. Die Auswirkungen der Harninkontinenz führten nicht dazu, dass die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF bei der Klägerin vorlägen. Auch das gleichzeitige Vorliegen einer Darm- und einer Harninkontinenz hindere die Klägerin nicht, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.
Am 06.12.2005 hat die Klägerin gegen das ihr am 09.11.2005 zugestellte Urteil Berufung eingelegt.
Die Klägerin trägt vor,
das Sozialgericht habe nicht berücksichtigt, dass nach dem Gutachten des Dr. H bei ihr ein Rektumprolaps mit Stuhlinkontinenz vorliege, weshalb ihr eine Teilnahme an einer öffentlichen Veranstaltung nicht möglich sei. Auch bei der Verwendung von Windelvorlagen würden Geruchsbelästigungen auftreten. Insofern sei das Sozialgericht zu Unrecht von einer Schließmuskelschwäche ausgegangen, während bei ihr eine mangelhafte Leistung des Schließmuskels vorliege.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 27.10.2005 sowie den Bescheid des Beklagten vom 28.05.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2004 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei ihr die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte trägt vor,
die Beeinträchtigungen machten es der Klägerin nicht unmöglich, in nennenswertem Umfang an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen und die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten (Az.: ) sowie der Gerichtsakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet, da ihr ein Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF zusteht, so dass sie durch die versagte Feststellung in ihren Rechten verletzt ist.
Nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 der rheinland-pfälzischen Landesverordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 31.01.1980 (GVBl. Seite 30) i.d.F. vom 08.05.2002 (GVBl. S. 248) werden behinderte Menschen mit einem GdB von wenigstens 80 von der Rundfunk- und Fernsehgebühr befreit, wenn sie wegen ihrer Leiden an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Da es sich hierbei um einen Nachteilsausgleich i.S.d. § 126 Abs. 1 Sozialgesetzbuch –Neuntes Buch (SGB IX) handelt, hat die Versorgungsverwaltung die erforderlichen Feststellungen zu treffen und einen entsprechenden Ausweis für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs auszustellen (§ 69 Abs. 4 und 5 S. 1 SGB IX). Nach § 3 Abs. 1 Nr. 5 der SchwbAuswV i.d.F. des Gesetzes vom 19.06.2001 setzt die Eintragung des Merkzeichens RF auf der Rückseite des Schwerbehindertenausweises voraus, dass der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt.
Der Nachteilsausgleich "RF" bezweckt den Schutz des behinderten Menschen vor kultureller Verödung und Vereinsamung. Bei der Teilnahme am öffentlichen und gesellschaftlichen Leben sollen behinderte Menschen nicht auf schriftliche Medien beschränkt werden (BSGE 53, 175 ff). Die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht verfolgt das Ziel, die persönliche und unmittelbare Beteiligung des schwerbehinderten Menschen am Gemeinschaftsleben zu ersetzen, von dem er wegen einer schweren Behinderung ausgeschlossen ist (Urteil des Senats vom 28.02.1989, Az: L 4 Vs 66/88).
Von der Teilnahme im angeführten Sinn ausgeschlossen ist auch der Behinderte, dem das Aufsuchen fast aller öffentlichen Veranstaltungen mit Rücksicht auf die Störung anderer Teilnehmer nicht zugemutet werden kann (BSG,SozR 3870 § 3 Nr. 24). Das ist nach der Rechtsprechung immer dann der Fall, wenn es den anderen Teilnehmern an öffentlichen Veranstaltungen unzumutbar ist, Behinderte wegen der Auswirkungen ihrer Behinderungen zu ertragen, insbesondere, wenn diese durch ihre Behinderungen auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend wirken, z.B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können, oder bei ekelerregenden oder ansteckenden Krankheiten (vgl. BSG, SozR 3-3870 § 48 Nr 2; SozR 3-3870 § 4 Nr. 17).
Die Überzeugung des Senats davon, dass die Klägerin an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann, stützt sich auf das vom Sozialgericht eingeholte Gutachten des Dr. H vom 14.12.2004 sowie die zahlreichen weiteren aktenkundigen Befundunterlagen über den Gesundheitszustand der Klägerin.
Danach steht bei der Klägerin aus gastroenterologischer Sicht im Vordergrund das gestörte Stuhlverhalten mit einer Harn- und Teilstuhlinkontinenz. Die Klägerin leidet an einem Rektumprolaps mit Inkontinenz bei Teilruptur des analen Verschlussapparates, Adipositas permagna, Beckenbodensenkung sowie Inkontinenz der Blase. Aufgrund ihrer Leiden ist sie nicht mehr in der Lage, Winde zurückzuhalten, die ihr unkontrolliert abgehen. Zudem kommt es regelmäßig zu Stuhlverschmierungen, auch wenn sie Pampers trägt. Nach den Feststellungen des Sachverständigen ist eine Abdichtung der Pampers dahin, dass Geruchsbelästigungen ausgeschlossen werden können, nicht möglich. Der bei der Klägerin mehrmals täglich plötzlich auftretende Stuhlgang setzt innerhalb von Sekunden ein, wobei beim Defäkieren bis zu 15 mal in der Stunde Stuhl abgesetzt werden kann, bis der Darm schließlich leer ist. Zudem benötigt die Klägerin eine Hilfsperson, wenn sie eine ausreichende Säuberung vornehmen will.
Aufgrund dieser Umstände ist es für den Senat, wie schon für den Sachverständigen Dr. H , verständlich, dass die Klägerin öffentliche Veranstaltungen, teils aus Rücksichtnahme auf andere Veranstaltungsteilnehmer, teils aus Scham, meidet.
Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts und des Beklagten ist es der Klägerin nicht zumutbar, diese Beeinträchtigungen durch willengesteuertes Verhalten zu beeinflussen. Der allgemeine Mitwirkungsgrundsatz, welcher letztlich auf den auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben zurückzuführen ist, verbietet es auch im Schwerbehindertenrecht, bei einem behinderten Menschen das Vorliegen der Voraussetzungen eines Nachteilsausgleichs zu bejahen, wenn er die dafür erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen durch zumutbare Gestaltung seiner Lebensverhältnisse vermeiden kann (BSG, SozR 3-3870 § 4 Nr. 17).
Deshalb wäre es der Klägerin grundsätzlich zumutbar, ihre Ernährung umzustellen, wenn dies dazu führen könnte, dass dann die Hinderungsgründe zur Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht mehr bestehen, wie das Sozialgericht insoweit zutreffend ausgeführt hat (vgl. auch LSG Essen, Urteil vom 10.07.2003, Az.: L 7 SB 136/00), soweit eine Umstellung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zumutbar erscheint. Dies hat das BSG beispielsweise angenommen, wenn die Umstellung nur vorübergehend erforderlich ist und/oder nicht mit Beeinträchtigungen der Gesundheit oder sonstigen erheblichen Nachteilen verbunden ist (a.a.O.), was bei dem Verzicht auf Flüssigkeitsaufnahme vor einer Veranstaltung und das Benutzen von Windelhosen der Fall sein könne. Aber nicht mehr zumutbar ist es, die Klägerin auf den Verzicht einer Abendmahlzeit zu verweisen, um am nächsten Morgen –dann auch ohne Frühstück– an einer öffentlichen Veranstaltung teilzunehmen. Denn damit würde der Klägerin abverlangt, über Nacht bis zum Abschluss der am nächsten Vormittag zu besuchenden Veranstaltung unter Hungergefühlen zu leiden. Auch leidet die Klägerin an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus, der nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme der Frau Dr. W -Sch vom 18.10.2004 jedenfalls mit einem GdB von 30 einzuschätzen ist und der es nicht ohne weiteres zulässt, auf regelmäßige Ernährung zu verzichten. Der Senat sieht hierin die Grenzen der zumutbaren Mitwirkung als überschritten an.
Der Berufung ist daher stattzugeben.
Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG.
Die Revision wird nicht zugelassen, da Revisionszulassungsgründe (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
2. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin beider Rechtszüge trägt der Beklagte.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF nach dem Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX).
Zuletzt mit Bescheid vom 10.07.2001 (Bl. 280 SA) stellte das Amt für soziale Angelegenheiten Koblenz in Ausführung eines Urteils des Sozialgerichts Koblenz vom 25.05.2001 (Az.: S 4 Vs 912/98) bei der 1948 geborenen Klägerin als Behinderung mit einem GdB von 80 fest:
Herzleistungsminderung bei Bluthochdruck und Adipositas,
Lungenfunktionsstörung bei chronischer Bronchitis mit Allergie,
degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Bandscheibenschäden, wiederkehrende Nervenwurzelreizerscheinungen,
Harninkontinenz,
Darmschließmuskelschwäche,
psychische Beeinträchtigung mit Somatisierungstendenz,
Funktionsbehinderung der Hüftgelenke und des linken Fußes.
Im Januar 2003 beantragte die Klägerin die Neufeststellung des GdB sowie die Feststellung der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF wegen der Angst, das Haus zu verlassen. Das Amt für soziale Angelegenheiten Koblenz holte Befundberichte der Fachärzte für Innere Medizin Dr. K und S , des Pneumologen und Internisten Dr. R sowie des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. U ein, die zahlreiche weitere Befundunterlagen vorlegten. Der Vertragsarzt W führte in der versorgungsärztlichen Stellungnahme aus, die Behinderung sei nunmehr mit einem GdB von 90 zu bewerten und zu bezeichnen als:
Herzleistungsminderung bei Bluthochruck und Adipositas (GdB 50),
Diabetes mellitus (GdB 40),
Lungenfunktionsstörung bei chronischer Bronchitis mit Allergien (GdB 30),
degenerative Veränderung der Wirbelsäule mit Bandscheibenschäden, wiederkehrende Nervenwurzelreizerscheinung (GdB 30),
Harninkontinenz (GdB 20),
Darmschließmuskelschwäche (GdB 20),
psychische Beeinträchtigung mit Somatisierungstendenz (GdB 30),
Funktionsbehinderung der Hüftgelenke und des linken Fußes (GdB 10).
Daraufhin stellte das Amt für soziale Angelegenheiten Koblenz mit Bescheid vom 28.05.2003 die Behinderung entsprechend dem Vorschlag des Versorgungsarztes mit einem GdB von 90 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "G" fest. Die Feststellung des Nachteilsausgleichs RF wurde abgelehnt, da es der Klägerin trotz ihrer Behinderung durchaus möglich sein müsse, als Zuschauer oder Zuhörer an irgendwelchen öffentlichen Veranstaltungen in zumutbarer Weise teilzunehmen.
Im Widerspruchsverfahren legte die Klägerin einen Arztbrief des Dr. B , Chefarzt der Klinik für Neurochirurgie, Gesundheitszentrum E S St. M , K , vor. Der Beklagte zog den Entlassungsbericht über eine stationäre Heilbehandlung der Klägerin vom 04.11. bis 10.11.2003 im St. E -Krankhaus, L bei, wo die Klägerin u. a. wegen einer Colitis ulcerosa in Vollremission behandelt worden war. Nach versorgungsärztlicher Beteiligung wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16.04.2004 zurück.
Im vor dem Sozialgericht Koblenz durchgeführten Klageverfahren hat der Beklagte ein Teilanerkenntnis abgegeben und sich zur Feststellung eines GdB von 100 verpflichtet, da nach einer vom Beklagten vorgelegten sozialmedizinischen Stellungnahme der Ärztin für Chirurgie und Sozialmedizin Dr. W -S der Diabetes mellitus Typ II nunmehr mit einem GdB von 30 zu bewerten sei. Da sich die Mastdarm- und Harnblasenteilinkontinenz sicherlich beeinträchtigend im Alltag auswirkten, werde ein GdB von 100 anerkannt.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines fachinternistisch-gastroenterologischen Gutachtens des Internisten, Gastroenterologen und Diabetologen Dr. H , St. E -Krankenhaus, N.
Der Sachverständige hat die Klägerin im Dezember 2004 untersucht und im Wesentlichen in seinem Gutachten abschließend ausgeführt, im täglichen Leben der Klägerin wirke sich gerade die Stuhlinkontinenz erheblich bzgl. des sozialen Verhaltens aus, da die Klägerin nicht mehr in der Lage sei, Winde zurückzuhalten und es regelmäßig zu Stuhlverschmierungen komme, auch wenn sie Pampers trage. Die Abdichtung der Pampers sei nicht so ausreichend, dass Geruchsbelästigungen ausgeschlossen werden könnten. Es bestehe ein Rektumprolaps mit Stuhlinkontinenz mit schwierig gestörten anatomischen Verhältnissen. Die Funktionsstörungen der Klägerin grenzten an einen Funktionsverlust des Afterschließmuskels. Da noch eine Restfunktion vorliege, werde hierfür ein GdB von 40 vorgeschlagen. Der Gesamt-GdB sei mit 90 einzuschätzen. Die Klägerin wirke zumindest abstoßend und störend dadurch auf ihre Umgebung, dass sie unkontrolliert Darmgase von sich gebe und Stuhl absondere, wobei bei Aufregung noch eine Harninkontinenz hinzukomme. Durch die damit verbundene Geruchsbelästigung sei es ihr nicht zumutbar, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.
Der Beklagte ist dem Gutachten durch Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Sozialmediziners W entgegengetreten, wonach ein GdB von 40 für die Funktionsstörung des Enddarms übernommen werden könne, der Nachteilsausgleich RF aber nicht gegeben sei. Dieser werde erst bei schlechter Funktion bzw. Komplikationen mit einem Einzel-GdB von 60 zu diskutieren sein.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Koblenz hat die Klägerin das Teilanerkenntnis des Beklagten angenommen und nur noch die Verurteilung des Beklagten zur Feststellung des Nachteilsausgleichs RF geltend gemacht.
Mit Urteil vom 27.10.2005 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF lägen nicht vor. Zwar sei bei der Klägerin ein GdB von mindestens 80 festgestellt, die zusätzlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF lägen aber nicht vor. Die bei ihr bestehenden Beeinträchtigungen machten es der Klägerin nicht unmöglich, in nennenswertem Umfang an öffentlichen Veranstaltungen im Sinne des Rundfunkgebührenstaatsvertrages teilzunehmen. Es sei der Klägerin nämlich möglich und zumutbar, durch Anpassung ihrer Lebensgewohnheiten und unter Zuhilfenahme von Hilfsmitteln die Auswirkungen ihrer Behinderung, also die Geruchsbelästigungen aufgrund der Darmschließmuskelschwäche und der Harninkontinenz, so zu begrenzen, dass sie auf die anderen Besucher einer öffentlichen Veranstaltung nicht in hohem Maße abstoßend oder störend wirkten. Dies ergebe sich auch aus dem Gutachten des Dr. H , wonach eine – wenn auch nur geringe – Restkontrolle des Schließmuskels vorhanden sei und damit ein von den Anhaltspunkten beispielhaft als Vergleich vorgeschlagener Zustand "unzureichend verschließbarer Darmausgang" (GdB 60) bei der Klägerin gerade nicht vorliege. Die Klägerin könne zudem nach dem Gutachten unter Beachtung bestimmter Vorsichtsmaßnahmen ihr Haus in einem Zustand verlassen, der ihr auch den Besuch öffentlicher Veranstaltungen ermögliche. Denn nach ihren eigenen Angaben könne sie das Haus in Ausnahmefällen ohne Angst verlassen, wenn sie am Abend vorher nichts mehr zu sich genommen habe. Es sei ihr zuzumuten, ihre Ernährung umzustellen, wenn auf diese Weise der Besuch von Veranstaltungen ermöglicht werde. Ebenso sei auch zu bedenken, dass der Klägerin auch Veranstaltungen unter freiem Himmel möglich seien, bei denen vereinzelt auftretende Blähungen von anderen Teilnehmern völlig unbemerkt blieben. Die Auswirkungen der Harninkontinenz führten nicht dazu, dass die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF bei der Klägerin vorlägen. Auch das gleichzeitige Vorliegen einer Darm- und einer Harninkontinenz hindere die Klägerin nicht, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.
Am 06.12.2005 hat die Klägerin gegen das ihr am 09.11.2005 zugestellte Urteil Berufung eingelegt.
Die Klägerin trägt vor,
das Sozialgericht habe nicht berücksichtigt, dass nach dem Gutachten des Dr. H bei ihr ein Rektumprolaps mit Stuhlinkontinenz vorliege, weshalb ihr eine Teilnahme an einer öffentlichen Veranstaltung nicht möglich sei. Auch bei der Verwendung von Windelvorlagen würden Geruchsbelästigungen auftreten. Insofern sei das Sozialgericht zu Unrecht von einer Schließmuskelschwäche ausgegangen, während bei ihr eine mangelhafte Leistung des Schließmuskels vorliege.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 27.10.2005 sowie den Bescheid des Beklagten vom 28.05.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2004 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei ihr die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte trägt vor,
die Beeinträchtigungen machten es der Klägerin nicht unmöglich, in nennenswertem Umfang an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen und die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten (Az.: ) sowie der Gerichtsakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet, da ihr ein Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs RF zusteht, so dass sie durch die versagte Feststellung in ihren Rechten verletzt ist.
Nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 der rheinland-pfälzischen Landesverordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 31.01.1980 (GVBl. Seite 30) i.d.F. vom 08.05.2002 (GVBl. S. 248) werden behinderte Menschen mit einem GdB von wenigstens 80 von der Rundfunk- und Fernsehgebühr befreit, wenn sie wegen ihrer Leiden an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Da es sich hierbei um einen Nachteilsausgleich i.S.d. § 126 Abs. 1 Sozialgesetzbuch –Neuntes Buch (SGB IX) handelt, hat die Versorgungsverwaltung die erforderlichen Feststellungen zu treffen und einen entsprechenden Ausweis für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs auszustellen (§ 69 Abs. 4 und 5 S. 1 SGB IX). Nach § 3 Abs. 1 Nr. 5 der SchwbAuswV i.d.F. des Gesetzes vom 19.06.2001 setzt die Eintragung des Merkzeichens RF auf der Rückseite des Schwerbehindertenausweises voraus, dass der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt.
Der Nachteilsausgleich "RF" bezweckt den Schutz des behinderten Menschen vor kultureller Verödung und Vereinsamung. Bei der Teilnahme am öffentlichen und gesellschaftlichen Leben sollen behinderte Menschen nicht auf schriftliche Medien beschränkt werden (BSGE 53, 175 ff). Die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht verfolgt das Ziel, die persönliche und unmittelbare Beteiligung des schwerbehinderten Menschen am Gemeinschaftsleben zu ersetzen, von dem er wegen einer schweren Behinderung ausgeschlossen ist (Urteil des Senats vom 28.02.1989, Az: L 4 Vs 66/88).
Von der Teilnahme im angeführten Sinn ausgeschlossen ist auch der Behinderte, dem das Aufsuchen fast aller öffentlichen Veranstaltungen mit Rücksicht auf die Störung anderer Teilnehmer nicht zugemutet werden kann (BSG,SozR 3870 § 3 Nr. 24). Das ist nach der Rechtsprechung immer dann der Fall, wenn es den anderen Teilnehmern an öffentlichen Veranstaltungen unzumutbar ist, Behinderte wegen der Auswirkungen ihrer Behinderungen zu ertragen, insbesondere, wenn diese durch ihre Behinderungen auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend wirken, z.B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können, oder bei ekelerregenden oder ansteckenden Krankheiten (vgl. BSG, SozR 3-3870 § 48 Nr 2; SozR 3-3870 § 4 Nr. 17).
Die Überzeugung des Senats davon, dass die Klägerin an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen kann, stützt sich auf das vom Sozialgericht eingeholte Gutachten des Dr. H vom 14.12.2004 sowie die zahlreichen weiteren aktenkundigen Befundunterlagen über den Gesundheitszustand der Klägerin.
Danach steht bei der Klägerin aus gastroenterologischer Sicht im Vordergrund das gestörte Stuhlverhalten mit einer Harn- und Teilstuhlinkontinenz. Die Klägerin leidet an einem Rektumprolaps mit Inkontinenz bei Teilruptur des analen Verschlussapparates, Adipositas permagna, Beckenbodensenkung sowie Inkontinenz der Blase. Aufgrund ihrer Leiden ist sie nicht mehr in der Lage, Winde zurückzuhalten, die ihr unkontrolliert abgehen. Zudem kommt es regelmäßig zu Stuhlverschmierungen, auch wenn sie Pampers trägt. Nach den Feststellungen des Sachverständigen ist eine Abdichtung der Pampers dahin, dass Geruchsbelästigungen ausgeschlossen werden können, nicht möglich. Der bei der Klägerin mehrmals täglich plötzlich auftretende Stuhlgang setzt innerhalb von Sekunden ein, wobei beim Defäkieren bis zu 15 mal in der Stunde Stuhl abgesetzt werden kann, bis der Darm schließlich leer ist. Zudem benötigt die Klägerin eine Hilfsperson, wenn sie eine ausreichende Säuberung vornehmen will.
Aufgrund dieser Umstände ist es für den Senat, wie schon für den Sachverständigen Dr. H , verständlich, dass die Klägerin öffentliche Veranstaltungen, teils aus Rücksichtnahme auf andere Veranstaltungsteilnehmer, teils aus Scham, meidet.
Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts und des Beklagten ist es der Klägerin nicht zumutbar, diese Beeinträchtigungen durch willengesteuertes Verhalten zu beeinflussen. Der allgemeine Mitwirkungsgrundsatz, welcher letztlich auf den auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben zurückzuführen ist, verbietet es auch im Schwerbehindertenrecht, bei einem behinderten Menschen das Vorliegen der Voraussetzungen eines Nachteilsausgleichs zu bejahen, wenn er die dafür erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen durch zumutbare Gestaltung seiner Lebensverhältnisse vermeiden kann (BSG, SozR 3-3870 § 4 Nr. 17).
Deshalb wäre es der Klägerin grundsätzlich zumutbar, ihre Ernährung umzustellen, wenn dies dazu führen könnte, dass dann die Hinderungsgründe zur Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht mehr bestehen, wie das Sozialgericht insoweit zutreffend ausgeführt hat (vgl. auch LSG Essen, Urteil vom 10.07.2003, Az.: L 7 SB 136/00), soweit eine Umstellung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zumutbar erscheint. Dies hat das BSG beispielsweise angenommen, wenn die Umstellung nur vorübergehend erforderlich ist und/oder nicht mit Beeinträchtigungen der Gesundheit oder sonstigen erheblichen Nachteilen verbunden ist (a.a.O.), was bei dem Verzicht auf Flüssigkeitsaufnahme vor einer Veranstaltung und das Benutzen von Windelhosen der Fall sein könne. Aber nicht mehr zumutbar ist es, die Klägerin auf den Verzicht einer Abendmahlzeit zu verweisen, um am nächsten Morgen –dann auch ohne Frühstück– an einer öffentlichen Veranstaltung teilzunehmen. Denn damit würde der Klägerin abverlangt, über Nacht bis zum Abschluss der am nächsten Vormittag zu besuchenden Veranstaltung unter Hungergefühlen zu leiden. Auch leidet die Klägerin an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus, der nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme der Frau Dr. W -Sch vom 18.10.2004 jedenfalls mit einem GdB von 30 einzuschätzen ist und der es nicht ohne weiteres zulässt, auf regelmäßige Ernährung zu verzichten. Der Senat sieht hierin die Grenzen der zumutbaren Mitwirkung als überschritten an.
Der Berufung ist daher stattzugeben.
Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG.
Die Revision wird nicht zugelassen, da Revisionszulassungsgründe (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
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