L 3 R 23/05

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 15 RJ 1146/01
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 3 R 23/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 24. August 2004 wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligen streiten (ausschließlich) über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI).

Hinsichtlich des Sachverhalts bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens wird auf den Tatbestand des Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 24. August 2004 verwiesen. Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen. Nach den Einschätzungen der medizinischen Sachverständigen Dres. S. und R. bestehe bei der Klägerin noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte Arbeiten mit qualitativen Einschränkungen bei erhaltener Wegefähigkeit und der Fähigkeit, Hemmungen gegenüber der Aufnahme einer leidensgerechten Tätigkeit zu überwinden. Die Klägerin könne daher noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Tätigkeiten ausüben. Es liege weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor. Daher brauche eine konkrete Verweisungstätigkeit nicht benannt zu werden. Das vollschichtige Leistungsvermögen schließe auch einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung gemäß § 43 SGB VI in der ab 1. Januar 2001 geltenden Fassung aus.

Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin Berufung eingelegt. Sie trägt vor, zum Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung seien die Gutachten von Dr. S. und Dr. R. bereits veraltet gewesen. Die Beschwerden hätten sich besonders im psychischen Bereich noch deutlich verstärkt, so dass sie einer geregelten Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen könne.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 24. August 2004 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 30. April 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. September 2001 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung gemäß § 43 SGB VI seit dem 1. März 2001 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, es gebe für die Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch leidensgerechte Tätigkeiten.

Nach Einholung aktualisierter Befundberichte hat der Neurologe/Psychiater Dr. N. im weiteren neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 2. November 2005 dargelegt, bei seiner persönlichen Untersuchung habe die Klägerin angeben, dass sie ihre Arbeit im M.-Krankenhaus, insbesondere das ständige Elend schwerkranker Menschen auf der Intensivstation als psychisch belastend empfunden habe. Sie habe sich aber nicht getraut, sich jemandem mitzuteilen. Schon bei ihrer Einreise 1973 habe sie unter erheblichen Ängsten gelitten, seit Jahren habe sie Kopfschmerzen, Schlafstörungen und ständige Angstzustände. Von einem geplanten Suizidversuch mit Tabletten im Jahre 2003 habe sie der Ehemann abbringen können. Den Tod des Schwiegersohnes habe sie noch immer nicht überwunden, die depressiven Verstimmungen hätten sich seitdem noch verstärkt. Dr. N. hat eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtig mittelgradiger depressiver Episode, anhaltend mit Somatisierungsstörung und anhaltend somatoformer Schmerzstörung sowie ein degeneratives Wirbelsäulenleiden ohne Nachweis neurologischer Ausfälle diagnostiziert. Es zeige sich ein eher leicht bis mittelgradig ausgeprägter depressiver Verstimmungs- und Versagenszustand mit passiven Versorgungswünschen. Verknüpft sei diese Symptomatik mit einer nach wie vor bewusstseinsnah ausgestalteten und intendiert vorgetragenen Beschwerdeschilderung. Unverkennbar sei nach wie vor eine somatoform histrionische Beschwerdeausgestaltung. Die von der Klägerin vorgetragene Notwendigkeit, eine Gehhilfe zu benutzen, lasse sich in der Untersuchung nicht objektivieren. Die Bewegungsabläufe seien, vermeintlich unbeobachtet, hinreichend flüssig. Es zeige sich deutlich, dass die Klägerin nicht ständig in der Schmerzsymptomatik gefangen bleibe, sondern durchaus ihre dargestellten Beschwerden zu nutzen wisse, um sich ihre passiven Versorgungstendenzen zu sichern. Ebenso wie die Vorgutachter hat Dr. N. die Klägerin als vollschichtig erwerbsfähig für leichte Arbeiten einfacher geistiger Art mit geringer Verantwortung, ohne Zwangshaltungen, ohne Akkord-, Nacht-, oder Schichtarbeit und als wegefähig angesehen. Die Klägerin sei auch nicht unfähig, Hemmungen gegenüber einer solchen Tätigkeit zu überwinden.

Vom 18. November 2005 bis zum 19. Dezember 2005 begab sich die Klägerin auf Einweisung von Dr. R1 in die stationär-psychiatrische Behandlung in das Klinikum N1. Sie höre die Stimme ihrer längst verstorbenen Mutter, die sie zum Suizid auffordere. Ein Attest der behandelnden Oberärztin Dr. S1 diagnostizierte eine schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen und Suizidalität sowie diversen somatischen Beschwerden. Aus psychiatrischer Sicht sei die Klägerin bis auf weiteres nicht in Lage mindestens drei Stunden täglich zu arbeiten. Das Landessozialgericht hat die Patientenakte der Klägerin beigezogen. Im Entlassungsbericht vom 17. Januar 2006 gibt Dr. S1 an, dass sich die Patientin unter Medikamentengabe psychopathologisch stabilisiert habe. Die Stimmung sei deutlich aufgehellt, die Stimme der Mutter verschwunden. Arbeitsfähigkeit bestehe aber aus ärztlicher Sicht nicht.

Ein weiterer Aufenthalt im Klinikum N1 erfolgte im März 2006. Auf Veranlassung des Gerichts hat Dr. N. die Klägerin nochmals vor Ort untersucht und ergänzend begutachtet. Er ist ausweislich seiner schriftlichen Ausführungen vom 24. März 2006 zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klägerin an einer rezidivierenden depressiven Störung mit gegenwärtig mittelgradiger bis schwerer depressiver Episode mit latenter Suizidalität und Somatisierung leide. Die Klägerin erlebe sich von der Mutter verfolgt und nehme akustische Halluzinationen (die Stimme der Mutter) wahr. Dennoch sei sie durchaus in der Lage, sich von dieser halluzinatorischen Symptomatik zu distanzieren. Die Leistungsfähigkeit der Klägerin sei durch die rezidivierende depressive Störung deutlich eingeschränkt, jedoch bestehe keine dauerhafte Aufhebung des Leistungsvermögens. Die Klägerin ziehe sich durchaus willensnah gesteuert in eine passive Versorgungshaltung zurück - nachdem sie für sich mit dem Berufsleben abgeschlossen habe. Es bleibe bei den im Gutachten vom 2. November 2005 getätigten Feststellungen und Einschätzungen.

In der mündlichen Verhandlung vom 18. April 2005 ist Dr. N. zur Erläuterung seines Gutachtens gehört worden. Hinsichtlich seiner Ausführungen wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird auf die in der Sitzungsniederschrift vom 18. April 2006 aufgeführten Akten und Unterlagen verwiesen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Über die Berufung konnte die Berichterstatterin an Stelle des Senats entscheiden, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 155 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 3 SGG).

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin (vgl. §§ 143, 144, 151 SGG) ist nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf (die nur noch streitige) Rente wegen Erwerbsminderung gemäß § 43 SGB VI.

Auf den Rechtsstreit sind die Vorschriften des SGB VI in der ab 1. Januar 2001 geltenden Fassung anzuwenden (§ 300 Abs. 1 SGB VI). Da eine Rentengewährung erst ab 1. März 2001 im Streit ist, kommt eine Anwendung des bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Rechts nach § 300 Abs. 2 SGB VI nicht in Betracht.

Gemäß § 43 SGB VI haben Versicherte u.a. Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, wenn sie wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs (teilweise Erwerbsminderung gemäß Abs. 1) bzw. drei (volle Erwerbsminderung gemäß Abs. 2) Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (Abs. 3).

Das Gericht folgt den überzeugenden Ausführungen aller im Verfahren tätig gewordenen medizinischen Sachverständigen. Nicht nur Dr. N., sondern auch die Dres. S. und R. und vorher Dr. F. sowie die Rehabilitationsklinik in Bad B., gehen übereinstimmend von einem vollschichtigen Leistungsvermögen mit qualitativen Einschränkungen bei erhaltener Wegefähigkeit und erhaltener Fähigkeit, Hemmungen gegenüber einer Arbeitsleistung zu überwinden, aus. Zwar mag die Kritik der Klägerin, die medizinischen Feststellungen im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Verhandlung und Entscheidung seien nicht mehr aktuell gewesen und hätten dem Urteil des Sozialgerichts nicht zugrundegelegt werden dürfen, berechtigt sein, aber die Begutachtungen durch Dr. N. haben ergeben, dass entgegen des Vortrags der Klägerin eine relevante Verschlechterung ihrer gesundheitlichen Situation bis heute nicht festgestellt werden kann.

Es soll nicht verkannt werden, dass die Bewältigung des Alltages mit der Klägerin insbesondere für ihre Angehörigen schwierig ist. Das Gericht hält auch den Vortrag zu dem von der Klägerin Zuhause gezeigten Verhaltensweisen für glaubhaft. Dennoch ist es zusammen mit dem Sachverständigen Dr. N. davon überzeugt, dass das gezeigte Verhalten nicht krankheitsbedingt hervorgerufen wird. Neben den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen ist diese Einschätzung auch durch das Verhalten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung bestätigt worden, wobei das Gericht selbst den Eindruck eines demonstrierten, willensgesteuerten Verhaltens gewonnen hat. Nicht nur, dass die Klägerin ihre Äußerungen wie "ich habe es satt", "lassen Sie mich in Ruhe", "ich weiß nichts", "ich will nicht mehr" u.ä. dem Verhandlungsverlauf angepasst hat, sondern selbst der Sturz bei Rückkehr in den Sitzungssaal nach der Besprechung der Klägerin mit ihren Familienmitgliedern und ihrem Anwalt auf dem Gerichtsflur hat eher wohlüberlegt gewirkt. So ist die Klägerin ohne zu Stolpern und ohne einen sichtbaren Anlass genau in dem Moment gestürzt, als ihre direkt neben ihr stehende Tochter die Aufmerksamkeit kurz dem Richtertisch zugewandt hat und exakt zwischen Zuhörerstuhlreihe und Gardarobe zum Liegen gekommen, obwohl dort nur wenig Platz für ein (verletzungsfreies) Fallen ist.

Der Leistungseinschätzung der behandelnden Ärzte P. und R1 wird nicht gefolgt, weil diese die subjektive Selbsteinschätzung der Klägerin übernehmen, ohne eine (nachvollziehbare) Begründung für ihre Auffassung abzugeben, während sie sich in ihren Befunden von den Darlegungen in den Gutachten der Dres. R. und N. nicht unterscheiden. Soweit Dr. S1 im Bericht vom 17. Januar 2006 eine Arbeitsunfähigkeit annimmt, resultiert diese Bewertung aus der seinerzeit zur stationären Behandlung führenden akuten Krankheitssituation. Der Ablauf des stationären Aufenthalts Ende 2005 und noch deutlicher die dortige Behandlung im Frühjahr 2006 haben gezeigt, dass die Krisensituation bei der Klägerin behandelbar ist, auf eine Behandlung sogar gut anspricht und von daher – wie Dr. N. ausführt – nicht zu einer dauerhaften Leistungseinschränkung führt.

Bei der Klägerin liegt auch – wie bereits das Sozialgericht zutreffend dargelegt hat - weder eine Summierung von ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor. Insbesondere ist sie nicht auf das Mitführen eines Gehstockes angewiesen. Hierfür gibt es nach Aussagen sämtlicher Gutachter keinen objektivierbaren Grund.

Die Klägerin kann daher auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiter vollschichtig tätig sein. Es ist davon auszugehen, dass es dort einen offenen Arbeitsmarkt mit einer ausreichenden Anzahl Stellen gibt, die sie trotz ihrer qualitativen Leistungseinschränkungen auszufüllen in der Lage ist. Eine konkrete Verweisungstätigkeit braucht nicht benannt zu werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Ein Grund für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG ist nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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