Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 10 RJ 944/03
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid der Beklagten vom 02.06.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.09.2003 wird aufgehoben. 2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Altersrente insbesondere unter Berücksichtigung einer Zeit der Beschäftigung im Ghetto Kielce vom Februar 1940 bis 25.03.1942 und von Ersatzzeiten von Oktober 1939 bis Februar 1940 sowie weiterer Ersatzzeiten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. 3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers. 4. Die Entscheidung ergeht für den Kläger gerichtskostenfrei.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um eine Altersrente unter Anerkennung einer Beitragszeit für eine Beschäftigung im Ghetto.
Der am X.XX.1924 in K., Polen geborene Kläger lebt seit Januar 1950 in den USA und ist amerikanischer Staatsbürger. Er ist als Verfolgter nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) entschädigt worden. Bereits am 30.4.1998 hatte der Kläger bei der Beklagten beantragt, u.a. die Zeit vom 1.10.1939 bis 20.3.1942 als Beitragszeit anzuerkennen. Er gab in seinem damaligen Antrag an, Zwangsarbeit in Kielce, Polen für die H. Granat, H. L., in Steinbrüchen und bei Bauarbeiten in S. geleistet zu haben, bevor er am 25.4.1942 nach Auschwitz und Birkenau deportiert worden sei. Mit Bescheid vom 16.9.1999 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab, weil die Wartezeit für eine Altersrente nicht erfüllt sei. Zur Begründung führte sie aus, Kielce habe nicht zu den eingegliederten Ostgebieten gehört, sondern zum Generalgouvernement. Dort sei auf der Grundlage der Verordnung über die Einführung des Arbeitszwanges für die jüdische Bevölkerung vom 26.10.1939 (Verordnungsblatt für das Generalgouvernement, VOBlGG I, S.6) diese Form der Zwangsarbeit ausdrücklich als Arbeitszwang ohne Entgelt geregelt worden. Eine dem Grunde nach rentenversicherungspflichtige Beschäftigung habe zu keinem Zeitpunkt bestanden.
Am 20.1.2003 beantragte der Kläger erneut über seinen damaligen Bevollmächtigten bei der Beklagten Altersrente unter Anerkennung von Beitragszeiten in einem polnischen Ghetto. Mit Bescheid vom 2.6.2003 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab, weil für die Wartezeit keine Kalendermonate mit anrechenbaren Zeiten zu berücksichtigen seien. Die Zeit von Februar 1940 bis März 1941 könne nicht als Zeit einer Beschäftigung im Ghetto anerkannt werden, weil das Ghetto zu dieser Zeit noch nicht errichtet gewesen sei. Die Zeit von April 1941 bis März 1942 könne nicht als Zeit einer Beschäftigung im Ghetto anerkannt werden, weil weder Entgelt noch Sachbezüge im wesentlichen Umfang gewährt worden seien. Zeiten einer Beschäftigung im Ghetto seien auch nicht ausreichend glaubhaft gemacht. Nach Auswertung der Entschädigungsakte ergäben sich keine Anhaltspunkte für die Annahme einer entgeltlichen Beschäftigung aus freiem Willensentschluss während des Aufenthalts in einem Ghetto. Nach den im Entschädigungsverfahren gemachten Angaben habe es sich um Zwangsarbeit unter Bewachung gehandelt. Den am 10.7.2003 hiergegen ohne Begründung eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.9.2003 zurück. Zur Begründung führte sie aus, nach den Angaben im Entschädigungsverfahren habe der Kläger bis März 1942 Zwangsarbeit ohne Entlohnung bei der H.-Granatenfabrik in Kielce geleistet. Nach den vorhandenen Unterlagen habe zwar vom 31.3.1941 bis 24.8.1942 in Kielce ein Ghetto bestanden, aber auch ein Zwangsarbeitslager, dessen männliche Insassen zu Arbeiten bei der H. Munitionsfabrik herangezogen worden seien. Der Kläger habe sich nicht im Ghetto Kielce aufgehalten, sondern im Zwangsarbeitslager, deshalb lägen keine Ghetto-Beitragszeiten vor.
Mit seiner am 14.10.2003 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Rentenbegehren weiter. Zur Begründung führt er aus, nach Auswertung verschiedener historischer Unterlagen falle die Argumentation der Gleichzeitigkeit des Bestehens eines Ghettos und eines Zwangsarbeitslagers in Kielce auseinander. In der zeitlichen Abfolge habe es erst das Ghetto und dann das Zwangsarbeitslager gegeben. Der geltend gemachte Zeitraum beziehe sich allein auf den Aufenthalt im Ghetto. Die Beschäftigung sei auch gegen Entgelt ausgeübt worden, denn für die im Generalgouvernement beschäftigten Juden habe es einen Lohnanspruch gegeben, der um 20% unter den für Polen zu leistenden Löhnen gelegen habe. Aus der Verordnung vom 15.12.1941 (VOBlGG vom 5.1.1942) und dem Verweis auf die Durchführung der Verordnung über die Beschäftigung von Juden vom 31.10.1941 (RGBl. I S.681) ergäben sich entsprechende Bestimmungen. Allein dieser Entgeltanspruch führe dazu, dass er – der Kläger - für den Bereich der Rentenversicherung so zu stellen sei, als sei ihm sein Monatsgehalt tatsächlich ausgezahlt worden. Bereits das Reichsversicherungsamt habe in seiner Entscheidung vom 29.10.1930 (AN 1931 IV, S. 34) entschieden, dass für die Berechnung des Beitrags nicht lediglich auf das gezahlte Monatsgehalt, sondern das Gehalt abzustellen sei, auf dessen Zahlung bei Fälligkeit ein Rechtsanspruch bestehe, so dass für Versicherte die vollen Pflichtbeiträge zu entrichten seien, ohne Rücksicht darauf, ob er seine Bezüge voll, teilweise oder überhaupt nicht erhalten habe. Dem stehe auch nicht entgegen, dass im Verordnungswege (vgl. Richtlinie vom 5.7.1940) für das Ghetto, die angeordnete Lohnzahlung an den Judenrat gegangen sei, da die Entgeltzahlung an Dritte das Bestehen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses nicht vernichte. Das Sachverständigengutachten von Prof. Dr. G. vom 9.9.2005 unterstütze seinen Sachvortrag.
In der mündlichen Verhandlung hat die Bevollmächtigte des Kläger Auszüge aus verschiedenen Verzeichnissen vorlegt, die belegen sollen, dass es vor dem Zwangsarbeitslager in Kielce auch ein Ghetto gegeben hat.
Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 2.6.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.9.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Altersrente unter Berücksichtigung einer Beschäftigung im Ghetto Kielce von Februar 1940 bis 25.3.1942 und weiterer Ersatzzeiten von Oktober 1939 bis Februar 1940 sowie weiterer Ersatzzeiten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung ihres Antrags nimmt sie Bezug auf ihre Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden und den Inhalt ihrer Verwaltungsakte. Ergänzend trägt sie vor, die Schlußfolgerung des Klägers, das Zwangsarbeitslager sei erst nach der Schließung des Ghettos errichtet worden könne anhand der vorliegenden Unterlagen nicht nachvollzogen werden. Tatsächlich sei für Kielce bereits ab 17./18.10.1940 ein Zwangsarbeitslager dokumentiert (vgl. www.keom.de, Kielce). Aber auch eine Beschäftigung aus eigenem Entschluß sei nicht glaubhaft gemacht worden. Aus der Schilderung des Klägers auf Seite 10/11 der Verwaltungsakte ergebe sich, dass dieser einer Arbeitskolonne zugeteilt gewesen sei. Er habe somit keinen Einfluss auf die ihm zugeteilte Tätigkeit gehabt. Bei diesem Sachverhalt könne die Frage der Entgeltlichkeit nachrangig bleiben.
Zur weiteren Ermittlung des Sachverhalts hat das Gericht die Entschädigungsakte des Klägers vom Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg (Az. ES-22 224, Band I und II) beigezogen. Auf Bl. 58 bis 66 befindet sich das Gutachten des Arztes für Psychiatrie J. G1 vom 6.8.1964. Die von der Beklagten angeführten Bl. 10 und 11 ihrer Verwaltungsakte sind die Kopien der Bl. 59 und 60 dieses Gutachtens. Auf Bl. 59 heißt es: "Nach der deutschen Besetzung seiner Heimatstadt sei er (der Kläger) zunächst zu gelegentlicher Zwangsarbeit beim Kohleladen, in den Steinbrüchen usw. eingesetzt worden. 1940 sei die Familie ins Ghetto überführt und sein Vater verlor die Existenz und Einkommen. Der älteste Bruder, der verheiratet war, hatte versucht, sich der Zwangsarbeit zu entziehen und war zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt worden, ein anderer Bruder war noch in der polnischen Armee und kriegsgefangen, und der dritte Bruder sei sehr scheu und passiv gewesen, so dass damals auf dem Patienten die Last des Unterhalts seiner Familie lag, da der Vater ebenfalls sehr scheu und zurückhaltend beschrieben wird.
Der Patient ernährte die Familie, indem er Brot ins Ghetto schmuggelte, wobei er schließlich gefaßt und zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde. In der Zwischenzeit kehrte der kriegsgefangene Bruder zurück und entkam mit einem anderen Bruder in die russisch besetzte Gegend Polens, wo sie von Russen aufgegriffen und festgesetzt wurden. (Nach der deutschen Besetzung Ostpolens im Jahre 1941 kehrten beide nach Kielce zurück).
Vom Ghetto aus sei er in Arbeitskolonnen zur Arbeit an der Eisenbahn und in Reparaturwerkstätten eingesetzt worden. In einer großen Razzia auf Ärzte, Rechtsanwälte und Leute, die in der russisch besetzten Zone gelebt hatten, sei er an Stelle eines Bruders, der nicht auffindbar war, verhaftet und am 27. März 1942 in das Konzentrationslager Auschwitz eingeliefert worden". In seinem Antrag vom 2.10.1953 hatte der Kläger angegeben, u.a. Zwangsarbeit in Kielce von 10/1939 bis 2/1940 und Ghetto Kielce mit Zwangsarbeit von 2/1940 bis 3/1942.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Prozeßakte der Kammer, der Verwaltungsakten der Beklagten und der Entschädigungsakten des Klägers (Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg, Az. ES-22 224, Band I und II). Diese haben vorgelegen und sind zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden. Das vom Sozialgericht Hamburg eingeholten Gutachten von Prof. Dr. G. vom 9.9.2005 zu den Az. S 20 RJ 674/04 u.a. liegt den Beteiligten ebenfalls vor.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet. Zu Unrecht hat es die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden abgelehnt, dem Kläger eine Altersrente zu gewähren. Die Bescheide waren deshalb aufzuheben. Der Kläger hat Anspruch auf die Gewährung einer Altersrente.
Versicherte haben Anspruch auf Altersrente, wenn sie
1. das 65. Lebensjahr vollendet und 2. die Wartezeit erfüllt haben (§ 35 Sozialgesetzbuch, 6.Buch, SGB VI).
Der Kläger hat das 65. Lebensjahr vollendet und er erfüllt auch die Wartezeit. Auf die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren werden Kalendermonate mit Beitragszeiten und auch Ersatzzeiten angerechnet (§§ 50 Abs. 1 Nr. 1, 51 Abs. 1 SGB VI). Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind (§ 55 Abs. 1 Satz 1 SGB VI). Solche Beitragszeiten liegen beim Kläger nicht vor. Pflichtbeitragszeiten sind aber auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten (§ 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Solche Zeiten liegen beim Kläger vor, denn beim ihm liegen Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto vor, für die Beiträge als gezahlt gelten.
Für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto gelten Beiträge als gezahlt und zwar 1. für die Berechnung der Rente als Beiträge nach den Reichsversicherungsgesetzen für eine Beschäftigung außerhalb des Bundesgebietes sowie 2. für die Erbringung von Leistungen ins Ausland als Beiträge für eine Beschäftigung im Bundesgebiet (Ghetto-Beitragszeiten; § 2 Abs.1 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto, ZRBG).
Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto sind gegeben, wenn sich diese dort zwangsweise aufgehalten haben und wenn
1. die Beschäftigung a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, b) gegen Entgelt ausgeübt wurde, 2. das Ghetto sich einem Gebiet befand, dass vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird (§ 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG).
Zur Überzeugung der Kammer steht fest, dass sich der Kläger im Ghetto Kielce in der Zeit von Februar 1940 bis 25.3.1942 aufgehalten hat. Diesen Aufenthalt hat er bereits in seinem Antrag vom 2.10.1953 im Entschädigungsverfahren angegeben, auch wenn ACR Ghetto Liste (www.deathcamps.org/occupation/ghettolist.htm) und in der dazugehörigen Seite über das Ghetto in Kielce (www.deathcamps.org/occupation/kielce%ghetto.html) angegeben wird, das Ghetto in Kielce sei am 31.3.1941 gegründet wurde. In dem von der Bevollmächtigten des Klägers überreichten Auszug aus Weinmann, NS-Lagersysteme wird angegeben, dass das Ghetto in Kielce bereits im Oktober 1939 erwähnt wurde (mentioned). In dem ebenfalls von der Bevollmächtigten des Klägers vorgelegten Auszug aus der "Ettinger Liste" heißt es, dass das Ghetto im März oder April 1941 geschlossen wurde, was einer Existenz auch vor diesem Zeitpunkt nicht entgegen steht.
Kielce wurde am 4.9.1939 durch die deutschen Truppen besetzt. Schon am 13.1.1940 gab der Generalgouverneur Hans Frank den Befehl, die mit der Verordnung vom 26.10.1939 eingeführte Dienstverpflichtung in Form von Arbeit für alle Juden verstärkt durchzusetzen und zu diesem Zweck allen Juden zwischen 14 und 60 zu registrieren (vgl. Gutman/Jäckel/Longerich/Schoeps, Enzyklopädie des Holocaust, Stichwort: Zwangsarbeit, Juden im besetzten Polen, S.1643). Diese Maßnahme sollte unter Oberaufsicht der Bürgermeister mit den Judenräten durchgesetzt werden (Gutman u.a., a.a.O.). Da auch die Judenräte schon vor dem 31.3.1941 geschaffen wurden, um gerade die Arbeitsverpflichtung durchzusetzen, und die Unterlagen über die Einrichtung eines Ghettos in Kielce widersprüchlich sind, sieht die Kammer es als überwiegend wahrscheinlich an, dass in Kielce das Ghetto bereits im Februar 1940 bestand, so wie es der Kläger schon im Entschädigungsverfahren vorgetragen hat.
Dem steht auch nicht entgegen, dass es in Kielce zumindest ab einem späteren Zeitpunkt Zwangsarbeitslager gab. Aus den vorliegenden Unterlagen ergibt sich, dass frühestens ab Oktober 1940 ein Zwangsarbeitslager in Kielce bestand (Quelle: Stiftungsverzeichnis, andere Haftstätten und unter keom.de). Die Existenz eines solchen Zwangsarbeitslagers auch zu einem Zeitpunkt als sich der Kläger noch in Kielce aufhielt, bedeutet jedoch nicht, dass der Kläger auch in diesem Zwangsarbeitslager inhaftiert war. Für die Kammer überzeugend ergibt sich aus den Angaben des Klägers im Entschädigungsverfahren, dass er gemeinsam mit seiner Familie 1940 nicht in ein Zwangsarbeitslager, sondern Ghetto überführt wurde (vgl. Bl. 59 der Entschädigungsakte). Erst nach der Verhaftung des Klägers wurde nach den Aktionen im August 1942 die verbliebenen 2000 Juden von Kielce in drei Arbeitslager verbracht (vgl. Gutmann u.a., Enzyklopädie des Holocaust, Stichwort: Kielce, S. 757). Ein zwangsweiser Aufenthalt im Ghetto Kielce von Februar 1940 bis zu seiner Verhaftung am 23.3.1942 ist nach alledem für die Kammer vom Kläger glaubhaft gemacht, denn allein die Verpflichtung des Klägers mit seiner Familie im Februar 1940 ins Ghetto überzusiedeln, stellt einen solchen zwangweisen Aufenthalt dar, auch wenn das Ghetto noch nicht geschlossen worden war. Allein die obrigkeitlich verfügte Verpflichtung, seinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt an einem anderen als einem selbstgewählten Ort zu nehmen, ist ein zwangsweiser Aufenthalt.
Der Kläger hat auch in der Zeit von Februar 1940 bis März 1942 eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt ausgeübt (§ 1 Abs.1 Satz 1 Nr. 1 ZRBG). Es lag in der hier streitigen Zeit keine Zwangsarbeit im Sinne von einer obrigkeitlichen Zuweisung der Arbeit vor. Seine Beschäftigung beschreibt der Kläger für die Zeit seines Aufenthaltes im Ghetto Kielce gegenüber dem Arzt für Psychiatrie G1 im Gutachten vom 6.8.1964 wie folgt: "Vom Ghetto aus sei er in Arbeitskolonnen zur Arbeit an der Eisenbahn und in Reparaturwerkstätten eingesetzt worden". Von einer Beschäftigung bei der H.-Granat, bei der H. L. (Ludwigshütte) oder in S. ist in der Entschädigungsakte des Klägers keine Rede. Selbst wenn der Kläger in Arbeitskolonnen zu diesen Werken der H. gebracht wurde, wäre dies kein Indiz, das ohne weiteres auf eine Zwangsarbeit, also eine Beschäftigung nicht aus eigenem Willensentschluss schließen läßt.
Zwangsarbeit ist die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichem / hoheitlichem bzw. gesetzlichen Zwang, z.B. als Straf- oder Kriegsgefangener. Typischerweise werden dabei die Zwangsarbeiter bestimmten Unternehmen oder auch staatlichen Projekten zugewiesen, ohne dass die Arbeiter selbst Einfluss auf die Zuweisung haben. Ein Entgelt für die individuell geleistete Arbeit wird nicht oder nur in sehr geringem Maße an die Arbeiter ausgezahlt. Die Arbeit wird unter Bewachung geleistet, um zu verhindern, dass sich die Arbeiter aus dem obrigkeitlichen Gewahrsam entfernen können (vgl. Urteil des BSG vom ..., BSGE 38,245). Der hoheitlich angeordnete – zwangsweise – Aufenthalt in einem Ghetto regelte jedoch nur die allgemeinen Lebensumstände der Juden in den besetzten Gebieten. Die Betroffenen wurde zur Kontrolle vom NS-Regime in festgelegten Wohnbezirken (Ghettos) zusammengepfercht. Trotzdem stellt die unter Ghettobedingungen verrichtete Arbeitsleistung keine Zwangsarbeit dar, wenn ein eigener Willensentschluss zur Arbeitsaufnahme vorhanden war und nicht der Betroffene durch staatliche Zwangsmaßnahmen zur Arbeit in bestimmten Unternehmen bzw. bei bestimmten Projekten von der Straße weg durch polizeiliche/obrigkeitliche Aktionen abgefangen wurde.
Die Bewachung bei der Arbeit außerhalb des Ghettos war hierbei nicht Folge eines Arbeitszwanges aufgrund von obrigkeitliche Anordnung, sondern Folge der Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung (so auch Sozialgericht Hamburg, Urteil vom 17.5.2005, Az. S 19 RJ 1061/03, veröffentlicht unter www.juris.de). Das Bundessozialgericht hat gerade zum Kriterium der "Bewachung von Arbeitern während der Arbeit" ausgeführt, dass Zwangsarbeit in solchen Fällen vorliegen könne, wenn die Bewachung aus dem Grunde erfolge, dass sich die Arbeiter nicht aus dem "obrigkeitlichen Gewahrsam" entfernen sollen. Durch die Bewachung auf dem Weg zum und vom Arbeitsplatz soll jedoch nicht der obrigkeitliche Gewahrsam gesichert werden, sondern hier der zwangsweise Aufenthalt im Ghetto. Schon das Bundessozialgericht hat in seinen Entscheidung vom 18.6.1997 (Az. 5 RJ 66/95 und 68/95, veröffentlicht unter www.juris.de) deutlich gemacht, dass damals der Aufenthalt im Ghetto angeordnet und das Verlassen des Ghettos unter Todesstrafe verboten war, dass Leben im Ghetto jedoch – im Rahmen der sonstigen Umstände und Repressalien, die durch den Nazi-Terror an der Tagesordnung waren, trotzdem insoweit frei war, als dass die Entscheidung zur Aufnahme einer Beschäftigung getroffen werden konnte. Die Bewachung eines Ghettos ist deshalb als Element der allgemeinen Lebensumstände zu werten und nicht der Arbeitssituation zuzurechnen. Ähnlich verhält es sich, wenn Arbeit außerhalb des Ghettos verrichtet wird und der Weg dorthin unter Bewachung stattfindet. Wenn die Bewachung einer "Kolonne von Arbeitern" auf dem Weg vom Ghetto zur Arbeitsstelle und zurück unter Bewachung geschah, so ist allein aus dieser Tatsache nicht zwingend zu schließen, dass die Arbeit selbst Zwangsarbeit war (vgl. hierzu Urteil des SG Hamburg vom 17.5.2005, Az. S 19 RJ 1061/03). Es muss sich vielmehr aus dem Gesamtbild der Tätigkeit ergeben, ob obrigkeitlicher Zwang zur Arbeit und zwangsweiser Aufenthalt zusammenfallen oder nicht.
Der Kläger hat sich zwar zwangsweise im Ghetto aufgehalten, er hat jedoch nach Überzeugung der Kammer keine Zwangsarbeit verrichtet, auch wenn er in einer Arbeitskolonne zur Eisenbahn bzw. den Reparaturwerkstätten gebracht worden ist. Für eine Beschäftigung aus freiem Willensentschluss spricht, dass der Kläger selbst im Entschädigungsverfahren angegeben hat, er habe nach der Einweisung ins Ghetto als der Vater seine Existenz und sein Einkommen verloren habe, seine Familie unterhalten müssen. Der Kläger hat gegenüber Herrn Dr. G1 glaubhaft geschildert, dass sein Vater und seine Brüder nicht in der Lage waren, zum Unterhalt der Familie beizutragen. Für einen Jungen im Alter des Klägers, der zu Beginn der Verfolgung noch zur Schule gegangen war und keine Ausbildung hatte, war es die einzige Möglichkeit, sich freiwillig zur Arbeit auch in den Arbeitskolonnen zu melden, um wenigstens eine geringe Summe zu verdienen. Als zusätzlicher Anreiz, sich freiwillig, also aus eigenem Willensentschluss zu dieser Arbeit zu melden, muss beachtet werden, dass sich hier die Möglichkeit für den Kläger bot, dass Ghetto zu verlassen und Brot in das Ghetto hinein zu schmuggeln. Der Kläger hat dies gegenüber dem Herrn Dr. G1 zu einem Zeitpunkt geschildert, in dem es für die Erlangung von Leistungen nach dem BEG lediglich auf den Aufenthalt im Ghetto bzw. auf eine Schaden an Körper oder Gesundheit ankam.
Auch das Gutachten von Prof. Dr. G., welches das Sozialgericht Hamburg zur Situation der Verfolgten und deren Beschäftigungen im Generalgouvernement eingeholt hat, bestätigt, dass gerade junge Männer sich freiwillige z.B. in Warschau zu den Arbeitsbatallionen meldeten, um auf diese Weise zu geringen Geldmitteln zu kommen, auf deren Basis sie überleben zu können meinten (vgl. Seite 5 des Gutachtens vom 9.9.2005). Der Sachverständige zitiert in seinem Gutachten auch eine Quelle, die angibt, dass es nie an Freiwilligen gefehlt habe, die der Arbeitsverpflichtung in den Arbeitsbatallionen nachgekommen seien. Dies Freiwilligen seien auch für andere tätig geworden (vgl. Seite 5 des Gutachtens). Im Übrigen betont Prof. Dr. G., dass das Arbeiten im Ghetto ein Privileg war und die Bewohner sich darum bemühten, weil zum einen die Versorgung besser war, zum anderen aber auch vermutet wurde, dass ein besserer Schutz vor Deportation oder Ermordung vor Ort durch die Arbeitsstelle gegeben gewesen sei (vgl. Seite 12 des Gutachtens).
Der Kläger hat seine Beschäftigung bei der Eisenbahn und in den Reparaturwerkstätten in Kielce auch gegen Entgelt ausgeübt (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b ZRBG). Zwar hat der Kläger an keiner Stelle im Entschädigungsverfahren, aber auch nicht in dem Fragebogen im Rentenverfahren, das mit Bescheid vom 16.9.1999 abgeschlossen wurde, Angaben zu einem Entgelt gemacht. Der Kläger hatte jedoch zumindest einen Entgeltanspruch.
Dieser ergibt sich aus dem damals geltenden Recht, wonach für die jüdischen Arbeitskräfte ein gesetzlicher Lohnanspruch bestand (vgl. Neunte Durchführungsverordnung zur Verordnung vom 31.10.1939 über die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und den Arbeitsschutz im Generalgouvernement vom 15.12.1941, VOBIGG 1942 S. 2). In einer Anordnung des Generalgouverneurs Frank für die besetzten polnischen Gebiete an die Leiter der Abteilung Arbeit bei den Chefs der Distrikte und Leiter der Arbeitsämter im Bereich des Generalgouvernements vom 5.7.1940 zum Arbeitseinsatz der jüdischen Bevölkerung heißt es schon im Juli 1940 unter II. Arbeitseinsatz: "Zweck des Arbeitseinsatzes der Juden ist, wie schon erwähnt, zur Behebung des Mangels an Arbeitskräften im Generalgouvernement beizutragen. Die Beschäftigung von Juden soll grundsätzlich auf der Grundlage der Verordnung vom 26.10.1939 und der Durchführungsvorschrift vom 12.12.1939 erfolgen. Dabei ist jedoch in allen geeigneten Fällen der Versuch der Beschäftigung der Juden in einem freien Arbeitsverhältnis zu unternehmen. Die Beschäftigung der Juden hat zweierlei zum Ziel: 1) die bestmögliche Ausnutzung ihrer Arbeitskraft im Allgemeininteresse und 2) die Sicherung des eigenen und des Lebensunterhaltes der Familie. Demgemäß kann sich der Arbeitseinsatz der Juden in zwei Formen vollziehen: a) durch Beschäftigung der nicht zur Zwangsarbeit aufgerufenen Juden im freien Arbeitsverhältnis; die Arbeitsbedingungen sind in einer besonderen Tarifordnung im einzelnen noch festzulegen (s. Ziffer IV); b) durch die Einberufung von Juden zur Zwangsarbeit auf Grund der Verordnung vom 26.10.1939, die eine Entlohnung nicht vorsieht. Die Form zu b) kommt im allgemeinen nur Frage bei grösseren Projekten, bei denen eine grosse Anzahl von Zwangsarbeitern beschäftigt, lagermässig untergebracht und bewacht werden kann." Weiter heißt es unter IV. Entlohnung: "Bisher fand eine regelrechte Entlohnung der jüdischen Arbeitskräfte meist nicht statt. Man überließ dies vielmehr den Judenräten. Inzwischen sind jedoch langsam die Geldreserven der Judenräte erschöpft. Um die Arbeitsfähigkeit der Juden zu erhalten, den nötigen Lebensunterhalt der Familie sicherzustellen und Krankheiten und Seuchen zu vermeiden, muss mit diesem bisherigen Grundsatz gebrochen und eine ordnungsgemäße Entlohnung gefordert werden. Bei der lagermässigen Unterbringung der zu Zwangsarbeiten einberufenen Juden, findet, wie schon erwähnt, keine Entlohnung, sondern nur eine Gewährung von Leistungsprämien als Anreiz zur Leistungssteigerung, die der Träger der Arbeit im Einvernehmen mit dem Arbeitsamt zu bestimmen hat, statt ..." und weiter wird ausgeführt: "Bei den nicht zur Zwangsarbeit einberufenen, sondern vermittelten Arbeitskräften hat eine ordnungsgemäße Entlohnung auf Grund der noch zu erlassenden Tarifordnung zu erfolgen. Um den Träger der Arbeit einen Anreiz zur Beschäftigung von Juden zu geben, soll die Beschäftigung im allgemeinen auf Akkordbasis erfolgen, wobei der Leistungslohn für Juden etwa 20% unter dem gleichen Lohn für polnische Arbeitskräfte liegt. Falls eine Beschäftigung auf Akkordbasis nicht möglich ist, ist der Stundenlohn nach einer Tarifordnung für polnische Arbeitskräfte – vermindert um 20% zu gewähren. Einzelheiten werden in der in Kürze zu erlassenden Tarifordnung festgelegt. Jedoch kann hiernach schon jetzt verfahren werden. In diesen Fällen ist außerdem zu prüfen, ob der Lohn unmittelbar an den empfangsberechtigten Juden oder an den Judenrat, dem die soziale Betreuung der Juden und ihrer Familien aus Mitteln der Judengemeinde in erster Linie obliegt, zu zahlen ist. Die vermittelten jüdischen Arbeitskräfte sind von den Betriebsführern selbstverständlich zur Sozialversicherung anzumelden."
Da die Kammer aufgrund der Schilderungen des Klägers gegenüber Herrn Dr. G1 im Jahre 1964 es als glaubhaft gemacht ansieht, dass der Kläger nicht lagermäßig untergebracht und zur Zwangsarbeit einberufen war, hatte er einen Lohnanspruch, der 80% des Lohnanspruchs polnischer Arbeitskräfte betrug. Dies reicht aus, um das Tatbestandsmerkmal "gegen Entgelt ausgeübt" im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b ZRBG zu erfüllen. Für die Entgeltlichkeit der vom Kläger aufgenommen Beschäftigung sprechen auch seine eigenen Angaben, wenn er ausführt, dass er für den Unterhalt der Familie habe Sorgen müssen, weil sein Vater und seine Brüder dazu nicht in der Lage gewesen seien. Dem steht nicht die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 7.10.2004 (Az. B 13 RJ 59/03 R, veröffentlicht unter www.juris.de) entgegen, denn in dieser Entscheidung sind keine Feststellungen des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen als Tatsacheninstanz zu der Anordnung des Generalgouverneurs Frank für die besetzten polnischen Gebiete an die Leiter der Abteilung Arbeit bei den Chefs der Distrikte und Leiter der Arbeitsämter im Bereich des Generalgouvernements vom 5.7.1940 zum Arbeitseinsatz der jüdischen Bevölkerung getroffen. Die Kammer geht deshalb davon aus, dass diese Anordnung bei der Entscheidung vom 7.10.2004 nicht bekannt war. Im übrigen ist es auch außerhalb der Beurteilung von Beschäftigungsverhältnissen mit einem zwangsweisen Aufenthalt im Ghetto für die Entstehung rentenrechtlicher Zeiten nicht zwingend notwendig, dass tatsächlich ein Entgelt gezahlt worden ist, so reicht es z.B. bei verlorenen oder untergegangen Versicherungsunterlagen aus, wenn der Betroffene glaubhaft macht, dass er eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt und hiervon Beiträge zur Rentenversicherung einbehalten worden sind (§ 203 Abs. 2 SGB VI bzw. § 1423 Reichsversicherungsordnung, RVO). Schon in der Anordnung vom 5.7.1940 heißt es, dass "die vermittelten jüdischen Arbeitskräfte sind von den Betriebsführern selbstverständlich zur Sozialversicherung anzumelden". Auch damit wird deutlich, dass zumindest auch für die Beschäftigung von jüdischen Arbeitskräften Beiträge zur Sozialversicherung erhoben werden sollten, selbst wenn beabsichtigt war, ihnen später die Leistungen vorzuenthalten. Die vom Kläger im Ghetto Kielce zurückgelegte Zeit, für die Beiträge nach § 2 Abs. 1 ZRBG als gezahlt gelten, ist auch auf die Wartezeit als Beitragszeit anrechenbar im Sinne des § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI, insbesondere scheidet eine solche Anrechnung nicht schon deshalb aus, weil der Kläger nicht zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gehört. Eine Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis ist nicht Tatbestandsmerkmal des ZRBG (so aber Landessozialgericht, LSG, Nordrhein- Westfalen, Urteil vom 13.01.2006, L 4 RJ 113/04 und LSG Hamburg, Urteil vom 15.12.2005 zum Az. L 6 RJ 24/03, das in seinen Gründen auch auf die Entscheidung des LSG Nordrhein-Westfalen vom 13.1.2006 verweist).
Dies ergibt zunächst die Auslegung des ZRBG anhand des Wortlauts. In § 2 Abs. 1 ZRBG wird festgelegt, dass Zeiten, die Verfolgte in Ghettos zurückgelegt haben und die den Anforderungen nach § 1 ZRBG entsprechen, als Beitragszeiten gelten. Weitere Voraussetzungen bestehen nicht. Ebenfalls spricht für diese Auslegung der Wortlaut des § 2 Abs. 1 ZRBG, in dem im Wege einer Legaldefinition eine Ghetto- Beitragszeit definiert wird, für die Beiträge als gezahlt gelten. Wenn jedoch das ZRBG in § 2 Abs. 1 Ziffer 1 festlegt, dass für solche Zeiten Beiträge als "Beiträge nach der Reichsversicherungsordnung" als gezahlt gelten, kommt es weder auf die Anwendbarkeit des Fremdrentengesetzes (FRG) noch auf die Zugehörigkeit der Betroffenen zum Personenkreis nach § 17 a FRG oder § 20 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG), um rentenrechtliche Zeiten begründen zu können. Ähnlich ist die Regelung im ZRBG für die Frage der Zahlbarmachung. Die Voraussetzungen des § 21 WGSVG müssen nicht erfüllt sein. Ghetto- Beitragszeiten gelten ohne Nachentrichtungsnotwendigkeit als Bundesgebietszeiten (§ 1 Abs. 1 Ziffer 2 ZRBG).
Das anhand der Auslegung nach dem Wortlaut gewonnene Ergebnis wird gestützt durch das Ergebnis der systematischen Auslegung. In § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ist geregelt, dass auch solche Zeiten als auf die Wartezeit anrechenbar sind, für die Beiträge als gezahlt gelten. Ferner sprechen für eine durch das ZRBG geschaffene eigenständige Beitragszeit, die zu den bis zum Erlass des ZRBG nach SGB VI bzw. RVO, WGSVG und FRG vorhandenen Möglichkeiten von Beitragszeiten für Verfolgte hinzutritt, die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine solche Zeit nach § 1 ZRBG, insbesondere das Erfordernis einer entgeltlichen Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss. Die Benennung dieser, den früheren Regelungen zwar ähnlichen, mit ihnen aber nicht identischen Voraussetzungen im ZRBG wäre nicht erforderlich gewesen, wenn lediglich, wie die Überschrift des Gesetzes unvollständig ausdrückt, mit dem ZRBG bereits bestehende Rentenansprüche ins Ausland zahlbar gemacht werden sollten. Denn dann hätte die Qualifikation einer Beschäftigung in einem Ghetto nach den bis zum Erlass des ZRBG geltenden Regeln, nämlich einer versicherungspflichtigen Beschäftigung im Sinne der Vorschriften der RVO, des SGB VI mit den Besonderheiten des FRG und des WGSVG ausgereicht, und es hätte lediglich der Regelungen in § 2 Abs. 1 ZRBG für die Zahlbarmachung ins Ausland bedurft.
Dasselbe Ergebnis zeigt sich, wenn man § 1 Abs.1 Satz 1 Ziffer 2 des ZRBG betrachtet, wonach Beschäftigungszeiten in Ghettos in vom Deutschen Reich besetzten Gebieten ebenso behandelt werden wie Zeiten in eingegliederten Gebieten, was nach dem vor Inkrafttreten des ZRBG geltenden Rentenrechts gerade nicht der Fall war. In den eingegliederten Gebieten z.B. Oberschlesien, in denen grundsätzlich Versicherungspflicht nach der RVO (mit bestimmten als nationalsozialistisches Unrecht zu kennzeichnenden Ausnahmen für die jüdische Bevölkerung) bestand, bedurfte es für die Anrechenbarkeit der Zeit in der deutschen Rentenversicherung regelmäßig keiner Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (auch BSG, Urteil vom 20.7.2005, Az: B 13 RJ 37/04 R, veröffentlicht unter www.juris.de, spricht davon, dass in dieser Norm die Anspruchsberechtigung "örtlich ausgeweitet" wird). In den besetzten Gebieten wie dem Generalgouvernement, zu dem auch Kielce gehörte, wo solche Zeiten nur im Rahmen des FRG anrechenbar sein konnten, bedurfte es dagegen zusätzlich zur Glaubhaftmachung der Voraussetzungen einer dem Grunde nach versicherungspflichtigen Beschäftigung einer Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Dadurch, dass der Gesetzgeber mit dem ZRBG jedoch beide Gebiete gleichgestellt hat, ergibt sich schon aus der Systematik, dass der deutsche Sprach- und Kulturkreis kein weiteres, den Kreis der Anspruchsberechtigten einschränkendes Tatbestandsmerkmal ist.
Ebenfalls für die hier vertretene Rechtsauffassung spricht die teleologische Auslegung des ZRBG, denn Sinn und Zweck des ZRBG war es, rentenrechtliches Neuland zu betreten. Dazu führt der Gesetzgeber im Allgemeinen Teil der Gesetzesbegründung (Bundestags- Drucksache 14/8583) aus: "Mit diesem Gesetz wird daher zugunsten von Verfolgten, die alle bereits das für die Regelaltersrente geltende Alter von 65 Jahren – teils erheblich- überschritten haben, im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung Neuland betreten, wobei von bestimmten Grundsätzen sowohl im Bereich der Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten als auch der Erbringung von Leistungen ins Ausland abgewichen wird."
Hieraus ergibt sich eindeutig, dass der Gesetzgeber nicht nur, wie die Gesetzesüberschrift nahe legen könnte, die Regelungen des allgemeinen Auslandsrentenrechts zur Zahlbarmachung von Ansprüchen ins Ausland ergänzen, sondern auch im Bereich der Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten "Neuland betreten" wollte. Nur wenn eine Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht verlangt wird, wird im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung tatsächlich Neuland betreten, weil der Kreis der Anspruchsberechtigten größer wird.
Auch das LSG Nordrhein-Westfalen erwägt die Möglichkeit, dass der Gesetzgeber mit dem ZRBG einen neuen Beitragszeittatbestand schaffen wollte, hält sie jedoch nicht für durchschlagend wegen des Verweises in § 1 Abs. 2 ZRBG auf eine Ergänzung der Vorschriften des WGSVG, das auf Schadensausgleich in der Sozialversicherung ausgerichtet sei. Die Formulierung in der Gesetzesbegründung zum ZRBG, dass bei der Anerkennung rentenrechtlicher Zeiten von bestimmten Grundsätzen des Rentenrechts abgewichen werde, ist jedoch so eindeutig, dass ein anderer Wille des Gesetzgebers als die Schaffung eines neuen Beitragszeittatbestandes nicht erkennbar ist. Hierfür spricht der im Allgemeinen Teil der Gesetzesbegründung zum ZRBG enthaltene Hinweis, dass auch eine Lösung dafür für nötig gehalten worden sei, dass Ansprüche aus Beschäftigungszeiten im Sinne von § 16 FRG nie ins Ausland gezahlt werden konnten. Auch insoweit ergibt sich die vom Gesetzgeber ausdrücklich gewollte Änderung durch das ZRBG nur, wenn wie hier angenommen wird, dass auch für Zeiten, die nach früherem Recht keine Versicherungspflicht begründen würden (auch nicht mit Hilfe des deutschen Sprach- und Kulturkreises) durch das ZRBG neue Beitragszeittatbestände geschaffen wurden.
Das Ergebnis wird weiter gestützt durch die Ausführungen des Gesetzgebers im Besonderen Teil der Begründung zu Artikel 1 Abs. 2 des ZRBG, nämlich zu den Folgen der Anwendbarkeit des WGSVG. Dort heißt es: "Bedeutung hat dies insbesondere für die dort zum Leistungsrecht getroffenen Regelungen über die Anrechnung von Kindererziehungszeiten, Berücksichtigung von Anrechnungszeiten, die besondere Ermittlung von Entgeltpunkten für Beitragszeiten und die Bewertung von Verfolgungsersatzzeiten für pflichtversicherte Verfolgte. Weiterer ergänzender Regelungen bedarf es nicht, zumal die allgemein geltenden Vorschriften des Rentenrechts im SGB VI, insbesondere auch diejenigen über die Ermittlung von Entgeltpunkten (z. B. § 256 b SGB VI) Anwendung finden. Die übrigen Regelungen des rentenrechtlichen Teils des WGSVG über die Nachzahlung von Beiträgen und deren Berücksichtigung im Rahmen des Leistungsrechts brauchen wegen der in § 2 Abs. 1 für die Erbringung von Leistungen ins Ausland fiktiv angenommenen Gleichstellung von Ghetto- Beitragszeiten mit Bundesgebiets- Beitragszeiten nicht angewendet zu werden."
Es ist für die Kammer nicht nachvollziehbar, dass der Gesetzgeber einerseits in der Gesetzesbegründung zum ZRBG sehr detaillierte Ausführungen über einzelne Folgen der Regelung zur Geltung des WGSVG z. B. für Kindererziehungszeiten macht, jedoch eine so gravierende und für einen Großteil der Verfolgten anspruchsausschließende Folge nicht benennen würde, wie dies die Notwendigkeit der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis wäre.
Zum selben Ergebnis führt die Auswertung des "Berichts zur Umsetzung des ZRBG" vom 15.02.2005 des für den damaligen Gesetzesentwurf zuständigen Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung. Dort ist auf Seite 7 ausdrücklich ausgeführt: "Aufgabe des ZRBG ist die Schließung einer letzten, im Zusammenhang mit dem Urteil des BSG aus dem Jahre 1997 entstandenen Lücke im Regelungskomplex der Ausgleichs- und Rentenleistungen an Verfolgte des Nationalsozialismus. Nachdem mit dem WGSVG und dem FRG für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung Regelungen getroffen worden sind, die bei den Betroffenen die verfolgungsbedingt entstandenen Lücken in ihrer Versicherungsbiografie geschlossen haben, und nachdem mit dem Stiftungsgesetz Zwangsarbeitern Entschädigungen für erlittene Zwangsarbeit gewährt wurden, verfolgt das ZRBG zwei Ziele: Die Anerkennung von Beitragszeiten aufgrund einer Beschäftigung in einem Ghetto im sozialversicherungsrechtlichen Sinne unabhängig davon, ob der Verfolgte zum Personenkreis des FRG oder des Deutschen Sprach- und Kulturkreises(DSK) gehört (§ 1 und 17 a FRG, 20 WGSVG) und die Zahlung daraus resultierender Renten auch ins Ausland".
Ebenso eindeutig wird dies von den Rentenversicherungsträgern so gesehen (vgl. "Dienstanweisung zum ZRBG der Deutsche Rentenversicherung Bund vom 4.11.2005, Punkt 2" und "Gemeinsame Arbeitsanweisungen LVA Freie und Hansestadt Hamburg EL N 22 – August 2004 zum ZRBG, R 3.2, Seite 6", wo es heißt: "Im Unterschied zur bisherigen Feststellung von Beitragszeiten von Verfolgten in den eingegliederten und besetzten Gebieten nach der BSG-Rechtsprechung ist nach dem ZRBG einer Anerkennung von Ghettobeitragszeiten unabhängig davon möglich, welches Sozialversicherungsrecht (deutsches Recht oder weiter geltendes Recht des Aufenthaltsstaates) in dem betroffenen Gebiet seinerzeit galt, ob die Beschäftigung nach dem in dem jeweiligen Gebiet geltenden Recht zur Versicherungspflicht geführt hätte und ob gegebenenfalls die Voraussetzungen für die Anwendung des FRG (z. B. Personenkreis §§ 1,17a FRG oder Beitragsübergang nach § 17 Abs. 1 Buchstabe b FRG a.F.) erfüllt sind. Das ZRBG reduziert die Anerkennungsvoraussetzungen auf das Grundelement der "frei gewählten" Beschäftigung gegen Entgelt."
Einziger Ausschlussgrund für Leistungen nach dem ZRBG wäre, wenn für die hier in Streit stehenden Zeiten bereits eine Leistung aus einem anderen System der sozialen Sicherheit erbracht würde (§ 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG). Dies ist hier nicht der Fall. Der Kläger bezieht für diese Zeit nicht bereits eine Leistung aus einem anderen System der sozialen Sicherung. Dies sind nach der Gesetzesbegründung (Bundestagsdrucksache 14/8583) zu § 1 Abs.1 Satz 2 ZRBG ausländische soziale Sicherungssysteme, insbesondere Rentenversicherungen im Herkunfts- bzw. Wohnlandes des Verfolgten. Hier sind keinerlei Gesichtspunkte erkennbar, dass der Kläger aus Polen oder den USA entsprechende Leistungen für dieselben Verfolgungszeiten erhält.
Neben der Ghettobeitragszeit sind auf die allgemeine Wartezeit auch verfolgungsbedingte Ersatzzeiten nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI anzurechnen. Gem. § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI sind Ersatzzeiten u.a. Zeiten vor dem 01.01.1992, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat und in denen Versicherte, die das 14. Lebensjahr vollendet haben und Verfolgte im Sinne des § 1 BEG sind, in ihrer Freiheit eingeschränkt gewesen oder ihnen die Freiheit entzogen worden ist (§§ 43 und 47 BEG). Der Kläger ist Versicherter im Sinne dieser Norm wegen der von ihm zurückgelegten Beitragszeiten für eine Beschäftigung im Ghetto Kielce.
Gem. § 43 Abs. 1 Satz 1 2 BEG hat der Verfolgte Anspruch auf Entschädigung, wenn ihm in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 08. Mai 1945 die Freiheit entzogen worden ist, wobei gemäß § 43 Abs. 2 BEG Freiheitsentziehung im Sinne dieser Vorschrift insbesondere polizeiliche oder militärische Haft, Inhaftnahme durch die NSDAP, Untersuchungshaft, Strafhaft, Konzentrationslagerhaft und Zwangsaufenthalt in einem Ghetto sind. Nach § 43 Abs. 3 BEG ist der Freiheitsentziehung das Leben unter haftähnlichen Bedingungen, Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen und Zugehörigkeit zu einer Straf- oder Bewährungseinheit der Wehrmacht gleichgestellt. Gem. § 47 Abs. 1 BEG hat der Verfolgte Anspruch auf Entschädigung, wenn er in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 08. Mai 1945 den Judenstern getragen oder unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Illegalität gelebt hat.
Die Zeit von Oktober 1939 bis 15.2.1940 ist Zeit der Freiheitsentziehung durch Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen anzusehen, den bis zur Einweisung des Klägers ins Ghetto wurde er – wie viele andere Juden auch – immer wieder zu Zwangsarbeiten herangezogen. So berichtet der Kläger gegenüber Herrn Dr. G1, dass er gelegentlich in Steinbrüchen oder beim Kohleladen tätig sein mußte, bevor er dann vom Ghetto aus in einer Arbeitskolone zur Arbeit in Reparaturwerkstätten und an der Eisenbahn ging. Um einen Ersatzzeittatbestand zu bejahen, reicht es schon aus, dass zumindest ein Tag im Monat mit Zwangsarbeiten belegt war, also Arbeiten, die der Kläger gegen seinen freien Willensentschluss auf obrigkeitliche Anweisung verrichten mußten. Angesichts seiner Schilderung ist die für die Monate zwischen Oktober 1939 und Februar 1940 überwiegend wahrscheinlich, auch wenn der Kläger in diesem Zeitpunkt gerade erst 16 Jahre alt wurde.
Ersatzzeit nach § 250 Abs. 1 Ziffer 4 SGB VI ist im Fall des Klägers auch die von den Entschädigungsbehörden anerkannte Zeit vom Beginn des Zwangs zum Tragen des Judensterns ab Dezember 1939 sowie die Zeit nach dem Aufenthalt im Ghetto, nämlich die Zeit des Aufenthalts im Gefängnis im März 1942 und die Zeit des Aufenthalts in den Konzentrationslagern Auschwitz und Gleiwitz bis zur Befreiung am 28.1.1945. Außerdem liegen im Anschluss an den Aufenthalt in den Konzentrationslagern Auschwitz und Gleiwitz Ersatzzeiten wegen verfolgungsbedingter Arbeitsunfähigkeit bzw. Arbeitslosigkeit bis zur Auswanderung in die USA bzw. bis 31.12.1949 vor, so dass der Kläger auch ohne die bisher nicht geklärten amerikanischen Versicherungszeiten, die aufgrund des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika über Soziale Sicherheit vom 7.1.1976 zur Erfüllung der allgemeinen Wartezeit heranzuziehen sind, wenn mindestens 18 Monate deutscher Versicherungszeiten vorliegen, die allgemeine Wartezeit für den Kläger allein nach deutschem Rentenversicherungsrecht erfüllt ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz. Die Entscheidung ergeht für den Kläger gerichtskostenfrei.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um eine Altersrente unter Anerkennung einer Beitragszeit für eine Beschäftigung im Ghetto.
Der am X.XX.1924 in K., Polen geborene Kläger lebt seit Januar 1950 in den USA und ist amerikanischer Staatsbürger. Er ist als Verfolgter nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) entschädigt worden. Bereits am 30.4.1998 hatte der Kläger bei der Beklagten beantragt, u.a. die Zeit vom 1.10.1939 bis 20.3.1942 als Beitragszeit anzuerkennen. Er gab in seinem damaligen Antrag an, Zwangsarbeit in Kielce, Polen für die H. Granat, H. L., in Steinbrüchen und bei Bauarbeiten in S. geleistet zu haben, bevor er am 25.4.1942 nach Auschwitz und Birkenau deportiert worden sei. Mit Bescheid vom 16.9.1999 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab, weil die Wartezeit für eine Altersrente nicht erfüllt sei. Zur Begründung führte sie aus, Kielce habe nicht zu den eingegliederten Ostgebieten gehört, sondern zum Generalgouvernement. Dort sei auf der Grundlage der Verordnung über die Einführung des Arbeitszwanges für die jüdische Bevölkerung vom 26.10.1939 (Verordnungsblatt für das Generalgouvernement, VOBlGG I, S.6) diese Form der Zwangsarbeit ausdrücklich als Arbeitszwang ohne Entgelt geregelt worden. Eine dem Grunde nach rentenversicherungspflichtige Beschäftigung habe zu keinem Zeitpunkt bestanden.
Am 20.1.2003 beantragte der Kläger erneut über seinen damaligen Bevollmächtigten bei der Beklagten Altersrente unter Anerkennung von Beitragszeiten in einem polnischen Ghetto. Mit Bescheid vom 2.6.2003 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab, weil für die Wartezeit keine Kalendermonate mit anrechenbaren Zeiten zu berücksichtigen seien. Die Zeit von Februar 1940 bis März 1941 könne nicht als Zeit einer Beschäftigung im Ghetto anerkannt werden, weil das Ghetto zu dieser Zeit noch nicht errichtet gewesen sei. Die Zeit von April 1941 bis März 1942 könne nicht als Zeit einer Beschäftigung im Ghetto anerkannt werden, weil weder Entgelt noch Sachbezüge im wesentlichen Umfang gewährt worden seien. Zeiten einer Beschäftigung im Ghetto seien auch nicht ausreichend glaubhaft gemacht. Nach Auswertung der Entschädigungsakte ergäben sich keine Anhaltspunkte für die Annahme einer entgeltlichen Beschäftigung aus freiem Willensentschluss während des Aufenthalts in einem Ghetto. Nach den im Entschädigungsverfahren gemachten Angaben habe es sich um Zwangsarbeit unter Bewachung gehandelt. Den am 10.7.2003 hiergegen ohne Begründung eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.9.2003 zurück. Zur Begründung führte sie aus, nach den Angaben im Entschädigungsverfahren habe der Kläger bis März 1942 Zwangsarbeit ohne Entlohnung bei der H.-Granatenfabrik in Kielce geleistet. Nach den vorhandenen Unterlagen habe zwar vom 31.3.1941 bis 24.8.1942 in Kielce ein Ghetto bestanden, aber auch ein Zwangsarbeitslager, dessen männliche Insassen zu Arbeiten bei der H. Munitionsfabrik herangezogen worden seien. Der Kläger habe sich nicht im Ghetto Kielce aufgehalten, sondern im Zwangsarbeitslager, deshalb lägen keine Ghetto-Beitragszeiten vor.
Mit seiner am 14.10.2003 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Rentenbegehren weiter. Zur Begründung führt er aus, nach Auswertung verschiedener historischer Unterlagen falle die Argumentation der Gleichzeitigkeit des Bestehens eines Ghettos und eines Zwangsarbeitslagers in Kielce auseinander. In der zeitlichen Abfolge habe es erst das Ghetto und dann das Zwangsarbeitslager gegeben. Der geltend gemachte Zeitraum beziehe sich allein auf den Aufenthalt im Ghetto. Die Beschäftigung sei auch gegen Entgelt ausgeübt worden, denn für die im Generalgouvernement beschäftigten Juden habe es einen Lohnanspruch gegeben, der um 20% unter den für Polen zu leistenden Löhnen gelegen habe. Aus der Verordnung vom 15.12.1941 (VOBlGG vom 5.1.1942) und dem Verweis auf die Durchführung der Verordnung über die Beschäftigung von Juden vom 31.10.1941 (RGBl. I S.681) ergäben sich entsprechende Bestimmungen. Allein dieser Entgeltanspruch führe dazu, dass er – der Kläger - für den Bereich der Rentenversicherung so zu stellen sei, als sei ihm sein Monatsgehalt tatsächlich ausgezahlt worden. Bereits das Reichsversicherungsamt habe in seiner Entscheidung vom 29.10.1930 (AN 1931 IV, S. 34) entschieden, dass für die Berechnung des Beitrags nicht lediglich auf das gezahlte Monatsgehalt, sondern das Gehalt abzustellen sei, auf dessen Zahlung bei Fälligkeit ein Rechtsanspruch bestehe, so dass für Versicherte die vollen Pflichtbeiträge zu entrichten seien, ohne Rücksicht darauf, ob er seine Bezüge voll, teilweise oder überhaupt nicht erhalten habe. Dem stehe auch nicht entgegen, dass im Verordnungswege (vgl. Richtlinie vom 5.7.1940) für das Ghetto, die angeordnete Lohnzahlung an den Judenrat gegangen sei, da die Entgeltzahlung an Dritte das Bestehen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses nicht vernichte. Das Sachverständigengutachten von Prof. Dr. G. vom 9.9.2005 unterstütze seinen Sachvortrag.
In der mündlichen Verhandlung hat die Bevollmächtigte des Kläger Auszüge aus verschiedenen Verzeichnissen vorlegt, die belegen sollen, dass es vor dem Zwangsarbeitslager in Kielce auch ein Ghetto gegeben hat.
Der Kläger beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 2.6.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.9.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Altersrente unter Berücksichtigung einer Beschäftigung im Ghetto Kielce von Februar 1940 bis 25.3.1942 und weiterer Ersatzzeiten von Oktober 1939 bis Februar 1940 sowie weiterer Ersatzzeiten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung ihres Antrags nimmt sie Bezug auf ihre Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden und den Inhalt ihrer Verwaltungsakte. Ergänzend trägt sie vor, die Schlußfolgerung des Klägers, das Zwangsarbeitslager sei erst nach der Schließung des Ghettos errichtet worden könne anhand der vorliegenden Unterlagen nicht nachvollzogen werden. Tatsächlich sei für Kielce bereits ab 17./18.10.1940 ein Zwangsarbeitslager dokumentiert (vgl. www.keom.de, Kielce). Aber auch eine Beschäftigung aus eigenem Entschluß sei nicht glaubhaft gemacht worden. Aus der Schilderung des Klägers auf Seite 10/11 der Verwaltungsakte ergebe sich, dass dieser einer Arbeitskolonne zugeteilt gewesen sei. Er habe somit keinen Einfluss auf die ihm zugeteilte Tätigkeit gehabt. Bei diesem Sachverhalt könne die Frage der Entgeltlichkeit nachrangig bleiben.
Zur weiteren Ermittlung des Sachverhalts hat das Gericht die Entschädigungsakte des Klägers vom Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg (Az. ES-22 224, Band I und II) beigezogen. Auf Bl. 58 bis 66 befindet sich das Gutachten des Arztes für Psychiatrie J. G1 vom 6.8.1964. Die von der Beklagten angeführten Bl. 10 und 11 ihrer Verwaltungsakte sind die Kopien der Bl. 59 und 60 dieses Gutachtens. Auf Bl. 59 heißt es: "Nach der deutschen Besetzung seiner Heimatstadt sei er (der Kläger) zunächst zu gelegentlicher Zwangsarbeit beim Kohleladen, in den Steinbrüchen usw. eingesetzt worden. 1940 sei die Familie ins Ghetto überführt und sein Vater verlor die Existenz und Einkommen. Der älteste Bruder, der verheiratet war, hatte versucht, sich der Zwangsarbeit zu entziehen und war zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt worden, ein anderer Bruder war noch in der polnischen Armee und kriegsgefangen, und der dritte Bruder sei sehr scheu und passiv gewesen, so dass damals auf dem Patienten die Last des Unterhalts seiner Familie lag, da der Vater ebenfalls sehr scheu und zurückhaltend beschrieben wird.
Der Patient ernährte die Familie, indem er Brot ins Ghetto schmuggelte, wobei er schließlich gefaßt und zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde. In der Zwischenzeit kehrte der kriegsgefangene Bruder zurück und entkam mit einem anderen Bruder in die russisch besetzte Gegend Polens, wo sie von Russen aufgegriffen und festgesetzt wurden. (Nach der deutschen Besetzung Ostpolens im Jahre 1941 kehrten beide nach Kielce zurück).
Vom Ghetto aus sei er in Arbeitskolonnen zur Arbeit an der Eisenbahn und in Reparaturwerkstätten eingesetzt worden. In einer großen Razzia auf Ärzte, Rechtsanwälte und Leute, die in der russisch besetzten Zone gelebt hatten, sei er an Stelle eines Bruders, der nicht auffindbar war, verhaftet und am 27. März 1942 in das Konzentrationslager Auschwitz eingeliefert worden". In seinem Antrag vom 2.10.1953 hatte der Kläger angegeben, u.a. Zwangsarbeit in Kielce von 10/1939 bis 2/1940 und Ghetto Kielce mit Zwangsarbeit von 2/1940 bis 3/1942.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Prozeßakte der Kammer, der Verwaltungsakten der Beklagten und der Entschädigungsakten des Klägers (Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg, Az. ES-22 224, Band I und II). Diese haben vorgelegen und sind zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden. Das vom Sozialgericht Hamburg eingeholten Gutachten von Prof. Dr. G. vom 9.9.2005 zu den Az. S 20 RJ 674/04 u.a. liegt den Beteiligten ebenfalls vor.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet. Zu Unrecht hat es die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden abgelehnt, dem Kläger eine Altersrente zu gewähren. Die Bescheide waren deshalb aufzuheben. Der Kläger hat Anspruch auf die Gewährung einer Altersrente.
Versicherte haben Anspruch auf Altersrente, wenn sie
1. das 65. Lebensjahr vollendet und 2. die Wartezeit erfüllt haben (§ 35 Sozialgesetzbuch, 6.Buch, SGB VI).
Der Kläger hat das 65. Lebensjahr vollendet und er erfüllt auch die Wartezeit. Auf die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren werden Kalendermonate mit Beitragszeiten und auch Ersatzzeiten angerechnet (§§ 50 Abs. 1 Nr. 1, 51 Abs. 1 SGB VI). Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind (§ 55 Abs. 1 Satz 1 SGB VI). Solche Beitragszeiten liegen beim Kläger nicht vor. Pflichtbeitragszeiten sind aber auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten (§ 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Solche Zeiten liegen beim Kläger vor, denn beim ihm liegen Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto vor, für die Beiträge als gezahlt gelten.
Für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto gelten Beiträge als gezahlt und zwar 1. für die Berechnung der Rente als Beiträge nach den Reichsversicherungsgesetzen für eine Beschäftigung außerhalb des Bundesgebietes sowie 2. für die Erbringung von Leistungen ins Ausland als Beiträge für eine Beschäftigung im Bundesgebiet (Ghetto-Beitragszeiten; § 2 Abs.1 des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto, ZRBG).
Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto sind gegeben, wenn sich diese dort zwangsweise aufgehalten haben und wenn
1. die Beschäftigung a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, b) gegen Entgelt ausgeübt wurde, 2. das Ghetto sich einem Gebiet befand, dass vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeiten nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird (§ 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG).
Zur Überzeugung der Kammer steht fest, dass sich der Kläger im Ghetto Kielce in der Zeit von Februar 1940 bis 25.3.1942 aufgehalten hat. Diesen Aufenthalt hat er bereits in seinem Antrag vom 2.10.1953 im Entschädigungsverfahren angegeben, auch wenn ACR Ghetto Liste (www.deathcamps.org/occupation/ghettolist.htm) und in der dazugehörigen Seite über das Ghetto in Kielce (www.deathcamps.org/occupation/kielce%ghetto.html) angegeben wird, das Ghetto in Kielce sei am 31.3.1941 gegründet wurde. In dem von der Bevollmächtigten des Klägers überreichten Auszug aus Weinmann, NS-Lagersysteme wird angegeben, dass das Ghetto in Kielce bereits im Oktober 1939 erwähnt wurde (mentioned). In dem ebenfalls von der Bevollmächtigten des Klägers vorgelegten Auszug aus der "Ettinger Liste" heißt es, dass das Ghetto im März oder April 1941 geschlossen wurde, was einer Existenz auch vor diesem Zeitpunkt nicht entgegen steht.
Kielce wurde am 4.9.1939 durch die deutschen Truppen besetzt. Schon am 13.1.1940 gab der Generalgouverneur Hans Frank den Befehl, die mit der Verordnung vom 26.10.1939 eingeführte Dienstverpflichtung in Form von Arbeit für alle Juden verstärkt durchzusetzen und zu diesem Zweck allen Juden zwischen 14 und 60 zu registrieren (vgl. Gutman/Jäckel/Longerich/Schoeps, Enzyklopädie des Holocaust, Stichwort: Zwangsarbeit, Juden im besetzten Polen, S.1643). Diese Maßnahme sollte unter Oberaufsicht der Bürgermeister mit den Judenräten durchgesetzt werden (Gutman u.a., a.a.O.). Da auch die Judenräte schon vor dem 31.3.1941 geschaffen wurden, um gerade die Arbeitsverpflichtung durchzusetzen, und die Unterlagen über die Einrichtung eines Ghettos in Kielce widersprüchlich sind, sieht die Kammer es als überwiegend wahrscheinlich an, dass in Kielce das Ghetto bereits im Februar 1940 bestand, so wie es der Kläger schon im Entschädigungsverfahren vorgetragen hat.
Dem steht auch nicht entgegen, dass es in Kielce zumindest ab einem späteren Zeitpunkt Zwangsarbeitslager gab. Aus den vorliegenden Unterlagen ergibt sich, dass frühestens ab Oktober 1940 ein Zwangsarbeitslager in Kielce bestand (Quelle: Stiftungsverzeichnis, andere Haftstätten und unter keom.de). Die Existenz eines solchen Zwangsarbeitslagers auch zu einem Zeitpunkt als sich der Kläger noch in Kielce aufhielt, bedeutet jedoch nicht, dass der Kläger auch in diesem Zwangsarbeitslager inhaftiert war. Für die Kammer überzeugend ergibt sich aus den Angaben des Klägers im Entschädigungsverfahren, dass er gemeinsam mit seiner Familie 1940 nicht in ein Zwangsarbeitslager, sondern Ghetto überführt wurde (vgl. Bl. 59 der Entschädigungsakte). Erst nach der Verhaftung des Klägers wurde nach den Aktionen im August 1942 die verbliebenen 2000 Juden von Kielce in drei Arbeitslager verbracht (vgl. Gutmann u.a., Enzyklopädie des Holocaust, Stichwort: Kielce, S. 757). Ein zwangsweiser Aufenthalt im Ghetto Kielce von Februar 1940 bis zu seiner Verhaftung am 23.3.1942 ist nach alledem für die Kammer vom Kläger glaubhaft gemacht, denn allein die Verpflichtung des Klägers mit seiner Familie im Februar 1940 ins Ghetto überzusiedeln, stellt einen solchen zwangweisen Aufenthalt dar, auch wenn das Ghetto noch nicht geschlossen worden war. Allein die obrigkeitlich verfügte Verpflichtung, seinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt an einem anderen als einem selbstgewählten Ort zu nehmen, ist ein zwangsweiser Aufenthalt.
Der Kläger hat auch in der Zeit von Februar 1940 bis März 1942 eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss gegen Entgelt ausgeübt (§ 1 Abs.1 Satz 1 Nr. 1 ZRBG). Es lag in der hier streitigen Zeit keine Zwangsarbeit im Sinne von einer obrigkeitlichen Zuweisung der Arbeit vor. Seine Beschäftigung beschreibt der Kläger für die Zeit seines Aufenthaltes im Ghetto Kielce gegenüber dem Arzt für Psychiatrie G1 im Gutachten vom 6.8.1964 wie folgt: "Vom Ghetto aus sei er in Arbeitskolonnen zur Arbeit an der Eisenbahn und in Reparaturwerkstätten eingesetzt worden". Von einer Beschäftigung bei der H.-Granat, bei der H. L. (Ludwigshütte) oder in S. ist in der Entschädigungsakte des Klägers keine Rede. Selbst wenn der Kläger in Arbeitskolonnen zu diesen Werken der H. gebracht wurde, wäre dies kein Indiz, das ohne weiteres auf eine Zwangsarbeit, also eine Beschäftigung nicht aus eigenem Willensentschluss schließen läßt.
Zwangsarbeit ist die Verrichtung von Arbeit unter obrigkeitlichem / hoheitlichem bzw. gesetzlichen Zwang, z.B. als Straf- oder Kriegsgefangener. Typischerweise werden dabei die Zwangsarbeiter bestimmten Unternehmen oder auch staatlichen Projekten zugewiesen, ohne dass die Arbeiter selbst Einfluss auf die Zuweisung haben. Ein Entgelt für die individuell geleistete Arbeit wird nicht oder nur in sehr geringem Maße an die Arbeiter ausgezahlt. Die Arbeit wird unter Bewachung geleistet, um zu verhindern, dass sich die Arbeiter aus dem obrigkeitlichen Gewahrsam entfernen können (vgl. Urteil des BSG vom ..., BSGE 38,245). Der hoheitlich angeordnete – zwangsweise – Aufenthalt in einem Ghetto regelte jedoch nur die allgemeinen Lebensumstände der Juden in den besetzten Gebieten. Die Betroffenen wurde zur Kontrolle vom NS-Regime in festgelegten Wohnbezirken (Ghettos) zusammengepfercht. Trotzdem stellt die unter Ghettobedingungen verrichtete Arbeitsleistung keine Zwangsarbeit dar, wenn ein eigener Willensentschluss zur Arbeitsaufnahme vorhanden war und nicht der Betroffene durch staatliche Zwangsmaßnahmen zur Arbeit in bestimmten Unternehmen bzw. bei bestimmten Projekten von der Straße weg durch polizeiliche/obrigkeitliche Aktionen abgefangen wurde.
Die Bewachung bei der Arbeit außerhalb des Ghettos war hierbei nicht Folge eines Arbeitszwanges aufgrund von obrigkeitliche Anordnung, sondern Folge der Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung (so auch Sozialgericht Hamburg, Urteil vom 17.5.2005, Az. S 19 RJ 1061/03, veröffentlicht unter www.juris.de). Das Bundessozialgericht hat gerade zum Kriterium der "Bewachung von Arbeitern während der Arbeit" ausgeführt, dass Zwangsarbeit in solchen Fällen vorliegen könne, wenn die Bewachung aus dem Grunde erfolge, dass sich die Arbeiter nicht aus dem "obrigkeitlichen Gewahrsam" entfernen sollen. Durch die Bewachung auf dem Weg zum und vom Arbeitsplatz soll jedoch nicht der obrigkeitliche Gewahrsam gesichert werden, sondern hier der zwangsweise Aufenthalt im Ghetto. Schon das Bundessozialgericht hat in seinen Entscheidung vom 18.6.1997 (Az. 5 RJ 66/95 und 68/95, veröffentlicht unter www.juris.de) deutlich gemacht, dass damals der Aufenthalt im Ghetto angeordnet und das Verlassen des Ghettos unter Todesstrafe verboten war, dass Leben im Ghetto jedoch – im Rahmen der sonstigen Umstände und Repressalien, die durch den Nazi-Terror an der Tagesordnung waren, trotzdem insoweit frei war, als dass die Entscheidung zur Aufnahme einer Beschäftigung getroffen werden konnte. Die Bewachung eines Ghettos ist deshalb als Element der allgemeinen Lebensumstände zu werten und nicht der Arbeitssituation zuzurechnen. Ähnlich verhält es sich, wenn Arbeit außerhalb des Ghettos verrichtet wird und der Weg dorthin unter Bewachung stattfindet. Wenn die Bewachung einer "Kolonne von Arbeitern" auf dem Weg vom Ghetto zur Arbeitsstelle und zurück unter Bewachung geschah, so ist allein aus dieser Tatsache nicht zwingend zu schließen, dass die Arbeit selbst Zwangsarbeit war (vgl. hierzu Urteil des SG Hamburg vom 17.5.2005, Az. S 19 RJ 1061/03). Es muss sich vielmehr aus dem Gesamtbild der Tätigkeit ergeben, ob obrigkeitlicher Zwang zur Arbeit und zwangsweiser Aufenthalt zusammenfallen oder nicht.
Der Kläger hat sich zwar zwangsweise im Ghetto aufgehalten, er hat jedoch nach Überzeugung der Kammer keine Zwangsarbeit verrichtet, auch wenn er in einer Arbeitskolonne zur Eisenbahn bzw. den Reparaturwerkstätten gebracht worden ist. Für eine Beschäftigung aus freiem Willensentschluss spricht, dass der Kläger selbst im Entschädigungsverfahren angegeben hat, er habe nach der Einweisung ins Ghetto als der Vater seine Existenz und sein Einkommen verloren habe, seine Familie unterhalten müssen. Der Kläger hat gegenüber Herrn Dr. G1 glaubhaft geschildert, dass sein Vater und seine Brüder nicht in der Lage waren, zum Unterhalt der Familie beizutragen. Für einen Jungen im Alter des Klägers, der zu Beginn der Verfolgung noch zur Schule gegangen war und keine Ausbildung hatte, war es die einzige Möglichkeit, sich freiwillig zur Arbeit auch in den Arbeitskolonnen zu melden, um wenigstens eine geringe Summe zu verdienen. Als zusätzlicher Anreiz, sich freiwillig, also aus eigenem Willensentschluss zu dieser Arbeit zu melden, muss beachtet werden, dass sich hier die Möglichkeit für den Kläger bot, dass Ghetto zu verlassen und Brot in das Ghetto hinein zu schmuggeln. Der Kläger hat dies gegenüber dem Herrn Dr. G1 zu einem Zeitpunkt geschildert, in dem es für die Erlangung von Leistungen nach dem BEG lediglich auf den Aufenthalt im Ghetto bzw. auf eine Schaden an Körper oder Gesundheit ankam.
Auch das Gutachten von Prof. Dr. G., welches das Sozialgericht Hamburg zur Situation der Verfolgten und deren Beschäftigungen im Generalgouvernement eingeholt hat, bestätigt, dass gerade junge Männer sich freiwillige z.B. in Warschau zu den Arbeitsbatallionen meldeten, um auf diese Weise zu geringen Geldmitteln zu kommen, auf deren Basis sie überleben zu können meinten (vgl. Seite 5 des Gutachtens vom 9.9.2005). Der Sachverständige zitiert in seinem Gutachten auch eine Quelle, die angibt, dass es nie an Freiwilligen gefehlt habe, die der Arbeitsverpflichtung in den Arbeitsbatallionen nachgekommen seien. Dies Freiwilligen seien auch für andere tätig geworden (vgl. Seite 5 des Gutachtens). Im Übrigen betont Prof. Dr. G., dass das Arbeiten im Ghetto ein Privileg war und die Bewohner sich darum bemühten, weil zum einen die Versorgung besser war, zum anderen aber auch vermutet wurde, dass ein besserer Schutz vor Deportation oder Ermordung vor Ort durch die Arbeitsstelle gegeben gewesen sei (vgl. Seite 12 des Gutachtens).
Der Kläger hat seine Beschäftigung bei der Eisenbahn und in den Reparaturwerkstätten in Kielce auch gegen Entgelt ausgeübt (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b ZRBG). Zwar hat der Kläger an keiner Stelle im Entschädigungsverfahren, aber auch nicht in dem Fragebogen im Rentenverfahren, das mit Bescheid vom 16.9.1999 abgeschlossen wurde, Angaben zu einem Entgelt gemacht. Der Kläger hatte jedoch zumindest einen Entgeltanspruch.
Dieser ergibt sich aus dem damals geltenden Recht, wonach für die jüdischen Arbeitskräfte ein gesetzlicher Lohnanspruch bestand (vgl. Neunte Durchführungsverordnung zur Verordnung vom 31.10.1939 über die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und den Arbeitsschutz im Generalgouvernement vom 15.12.1941, VOBIGG 1942 S. 2). In einer Anordnung des Generalgouverneurs Frank für die besetzten polnischen Gebiete an die Leiter der Abteilung Arbeit bei den Chefs der Distrikte und Leiter der Arbeitsämter im Bereich des Generalgouvernements vom 5.7.1940 zum Arbeitseinsatz der jüdischen Bevölkerung heißt es schon im Juli 1940 unter II. Arbeitseinsatz: "Zweck des Arbeitseinsatzes der Juden ist, wie schon erwähnt, zur Behebung des Mangels an Arbeitskräften im Generalgouvernement beizutragen. Die Beschäftigung von Juden soll grundsätzlich auf der Grundlage der Verordnung vom 26.10.1939 und der Durchführungsvorschrift vom 12.12.1939 erfolgen. Dabei ist jedoch in allen geeigneten Fällen der Versuch der Beschäftigung der Juden in einem freien Arbeitsverhältnis zu unternehmen. Die Beschäftigung der Juden hat zweierlei zum Ziel: 1) die bestmögliche Ausnutzung ihrer Arbeitskraft im Allgemeininteresse und 2) die Sicherung des eigenen und des Lebensunterhaltes der Familie. Demgemäß kann sich der Arbeitseinsatz der Juden in zwei Formen vollziehen: a) durch Beschäftigung der nicht zur Zwangsarbeit aufgerufenen Juden im freien Arbeitsverhältnis; die Arbeitsbedingungen sind in einer besonderen Tarifordnung im einzelnen noch festzulegen (s. Ziffer IV); b) durch die Einberufung von Juden zur Zwangsarbeit auf Grund der Verordnung vom 26.10.1939, die eine Entlohnung nicht vorsieht. Die Form zu b) kommt im allgemeinen nur Frage bei grösseren Projekten, bei denen eine grosse Anzahl von Zwangsarbeitern beschäftigt, lagermässig untergebracht und bewacht werden kann." Weiter heißt es unter IV. Entlohnung: "Bisher fand eine regelrechte Entlohnung der jüdischen Arbeitskräfte meist nicht statt. Man überließ dies vielmehr den Judenräten. Inzwischen sind jedoch langsam die Geldreserven der Judenräte erschöpft. Um die Arbeitsfähigkeit der Juden zu erhalten, den nötigen Lebensunterhalt der Familie sicherzustellen und Krankheiten und Seuchen zu vermeiden, muss mit diesem bisherigen Grundsatz gebrochen und eine ordnungsgemäße Entlohnung gefordert werden. Bei der lagermässigen Unterbringung der zu Zwangsarbeiten einberufenen Juden, findet, wie schon erwähnt, keine Entlohnung, sondern nur eine Gewährung von Leistungsprämien als Anreiz zur Leistungssteigerung, die der Träger der Arbeit im Einvernehmen mit dem Arbeitsamt zu bestimmen hat, statt ..." und weiter wird ausgeführt: "Bei den nicht zur Zwangsarbeit einberufenen, sondern vermittelten Arbeitskräften hat eine ordnungsgemäße Entlohnung auf Grund der noch zu erlassenden Tarifordnung zu erfolgen. Um den Träger der Arbeit einen Anreiz zur Beschäftigung von Juden zu geben, soll die Beschäftigung im allgemeinen auf Akkordbasis erfolgen, wobei der Leistungslohn für Juden etwa 20% unter dem gleichen Lohn für polnische Arbeitskräfte liegt. Falls eine Beschäftigung auf Akkordbasis nicht möglich ist, ist der Stundenlohn nach einer Tarifordnung für polnische Arbeitskräfte – vermindert um 20% zu gewähren. Einzelheiten werden in der in Kürze zu erlassenden Tarifordnung festgelegt. Jedoch kann hiernach schon jetzt verfahren werden. In diesen Fällen ist außerdem zu prüfen, ob der Lohn unmittelbar an den empfangsberechtigten Juden oder an den Judenrat, dem die soziale Betreuung der Juden und ihrer Familien aus Mitteln der Judengemeinde in erster Linie obliegt, zu zahlen ist. Die vermittelten jüdischen Arbeitskräfte sind von den Betriebsführern selbstverständlich zur Sozialversicherung anzumelden."
Da die Kammer aufgrund der Schilderungen des Klägers gegenüber Herrn Dr. G1 im Jahre 1964 es als glaubhaft gemacht ansieht, dass der Kläger nicht lagermäßig untergebracht und zur Zwangsarbeit einberufen war, hatte er einen Lohnanspruch, der 80% des Lohnanspruchs polnischer Arbeitskräfte betrug. Dies reicht aus, um das Tatbestandsmerkmal "gegen Entgelt ausgeübt" im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 b ZRBG zu erfüllen. Für die Entgeltlichkeit der vom Kläger aufgenommen Beschäftigung sprechen auch seine eigenen Angaben, wenn er ausführt, dass er für den Unterhalt der Familie habe Sorgen müssen, weil sein Vater und seine Brüder dazu nicht in der Lage gewesen seien. Dem steht nicht die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 7.10.2004 (Az. B 13 RJ 59/03 R, veröffentlicht unter www.juris.de) entgegen, denn in dieser Entscheidung sind keine Feststellungen des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen als Tatsacheninstanz zu der Anordnung des Generalgouverneurs Frank für die besetzten polnischen Gebiete an die Leiter der Abteilung Arbeit bei den Chefs der Distrikte und Leiter der Arbeitsämter im Bereich des Generalgouvernements vom 5.7.1940 zum Arbeitseinsatz der jüdischen Bevölkerung getroffen. Die Kammer geht deshalb davon aus, dass diese Anordnung bei der Entscheidung vom 7.10.2004 nicht bekannt war. Im übrigen ist es auch außerhalb der Beurteilung von Beschäftigungsverhältnissen mit einem zwangsweisen Aufenthalt im Ghetto für die Entstehung rentenrechtlicher Zeiten nicht zwingend notwendig, dass tatsächlich ein Entgelt gezahlt worden ist, so reicht es z.B. bei verlorenen oder untergegangen Versicherungsunterlagen aus, wenn der Betroffene glaubhaft macht, dass er eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt und hiervon Beiträge zur Rentenversicherung einbehalten worden sind (§ 203 Abs. 2 SGB VI bzw. § 1423 Reichsversicherungsordnung, RVO). Schon in der Anordnung vom 5.7.1940 heißt es, dass "die vermittelten jüdischen Arbeitskräfte sind von den Betriebsführern selbstverständlich zur Sozialversicherung anzumelden". Auch damit wird deutlich, dass zumindest auch für die Beschäftigung von jüdischen Arbeitskräften Beiträge zur Sozialversicherung erhoben werden sollten, selbst wenn beabsichtigt war, ihnen später die Leistungen vorzuenthalten. Die vom Kläger im Ghetto Kielce zurückgelegte Zeit, für die Beiträge nach § 2 Abs. 1 ZRBG als gezahlt gelten, ist auch auf die Wartezeit als Beitragszeit anrechenbar im Sinne des § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI, insbesondere scheidet eine solche Anrechnung nicht schon deshalb aus, weil der Kläger nicht zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gehört. Eine Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis ist nicht Tatbestandsmerkmal des ZRBG (so aber Landessozialgericht, LSG, Nordrhein- Westfalen, Urteil vom 13.01.2006, L 4 RJ 113/04 und LSG Hamburg, Urteil vom 15.12.2005 zum Az. L 6 RJ 24/03, das in seinen Gründen auch auf die Entscheidung des LSG Nordrhein-Westfalen vom 13.1.2006 verweist).
Dies ergibt zunächst die Auslegung des ZRBG anhand des Wortlauts. In § 2 Abs. 1 ZRBG wird festgelegt, dass Zeiten, die Verfolgte in Ghettos zurückgelegt haben und die den Anforderungen nach § 1 ZRBG entsprechen, als Beitragszeiten gelten. Weitere Voraussetzungen bestehen nicht. Ebenfalls spricht für diese Auslegung der Wortlaut des § 2 Abs. 1 ZRBG, in dem im Wege einer Legaldefinition eine Ghetto- Beitragszeit definiert wird, für die Beiträge als gezahlt gelten. Wenn jedoch das ZRBG in § 2 Abs. 1 Ziffer 1 festlegt, dass für solche Zeiten Beiträge als "Beiträge nach der Reichsversicherungsordnung" als gezahlt gelten, kommt es weder auf die Anwendbarkeit des Fremdrentengesetzes (FRG) noch auf die Zugehörigkeit der Betroffenen zum Personenkreis nach § 17 a FRG oder § 20 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG), um rentenrechtliche Zeiten begründen zu können. Ähnlich ist die Regelung im ZRBG für die Frage der Zahlbarmachung. Die Voraussetzungen des § 21 WGSVG müssen nicht erfüllt sein. Ghetto- Beitragszeiten gelten ohne Nachentrichtungsnotwendigkeit als Bundesgebietszeiten (§ 1 Abs. 1 Ziffer 2 ZRBG).
Das anhand der Auslegung nach dem Wortlaut gewonnene Ergebnis wird gestützt durch das Ergebnis der systematischen Auslegung. In § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ist geregelt, dass auch solche Zeiten als auf die Wartezeit anrechenbar sind, für die Beiträge als gezahlt gelten. Ferner sprechen für eine durch das ZRBG geschaffene eigenständige Beitragszeit, die zu den bis zum Erlass des ZRBG nach SGB VI bzw. RVO, WGSVG und FRG vorhandenen Möglichkeiten von Beitragszeiten für Verfolgte hinzutritt, die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine solche Zeit nach § 1 ZRBG, insbesondere das Erfordernis einer entgeltlichen Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss. Die Benennung dieser, den früheren Regelungen zwar ähnlichen, mit ihnen aber nicht identischen Voraussetzungen im ZRBG wäre nicht erforderlich gewesen, wenn lediglich, wie die Überschrift des Gesetzes unvollständig ausdrückt, mit dem ZRBG bereits bestehende Rentenansprüche ins Ausland zahlbar gemacht werden sollten. Denn dann hätte die Qualifikation einer Beschäftigung in einem Ghetto nach den bis zum Erlass des ZRBG geltenden Regeln, nämlich einer versicherungspflichtigen Beschäftigung im Sinne der Vorschriften der RVO, des SGB VI mit den Besonderheiten des FRG und des WGSVG ausgereicht, und es hätte lediglich der Regelungen in § 2 Abs. 1 ZRBG für die Zahlbarmachung ins Ausland bedurft.
Dasselbe Ergebnis zeigt sich, wenn man § 1 Abs.1 Satz 1 Ziffer 2 des ZRBG betrachtet, wonach Beschäftigungszeiten in Ghettos in vom Deutschen Reich besetzten Gebieten ebenso behandelt werden wie Zeiten in eingegliederten Gebieten, was nach dem vor Inkrafttreten des ZRBG geltenden Rentenrechts gerade nicht der Fall war. In den eingegliederten Gebieten z.B. Oberschlesien, in denen grundsätzlich Versicherungspflicht nach der RVO (mit bestimmten als nationalsozialistisches Unrecht zu kennzeichnenden Ausnahmen für die jüdische Bevölkerung) bestand, bedurfte es für die Anrechenbarkeit der Zeit in der deutschen Rentenversicherung regelmäßig keiner Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (auch BSG, Urteil vom 20.7.2005, Az: B 13 RJ 37/04 R, veröffentlicht unter www.juris.de, spricht davon, dass in dieser Norm die Anspruchsberechtigung "örtlich ausgeweitet" wird). In den besetzten Gebieten wie dem Generalgouvernement, zu dem auch Kielce gehörte, wo solche Zeiten nur im Rahmen des FRG anrechenbar sein konnten, bedurfte es dagegen zusätzlich zur Glaubhaftmachung der Voraussetzungen einer dem Grunde nach versicherungspflichtigen Beschäftigung einer Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Dadurch, dass der Gesetzgeber mit dem ZRBG jedoch beide Gebiete gleichgestellt hat, ergibt sich schon aus der Systematik, dass der deutsche Sprach- und Kulturkreis kein weiteres, den Kreis der Anspruchsberechtigten einschränkendes Tatbestandsmerkmal ist.
Ebenfalls für die hier vertretene Rechtsauffassung spricht die teleologische Auslegung des ZRBG, denn Sinn und Zweck des ZRBG war es, rentenrechtliches Neuland zu betreten. Dazu führt der Gesetzgeber im Allgemeinen Teil der Gesetzesbegründung (Bundestags- Drucksache 14/8583) aus: "Mit diesem Gesetz wird daher zugunsten von Verfolgten, die alle bereits das für die Regelaltersrente geltende Alter von 65 Jahren – teils erheblich- überschritten haben, im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung Neuland betreten, wobei von bestimmten Grundsätzen sowohl im Bereich der Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten als auch der Erbringung von Leistungen ins Ausland abgewichen wird."
Hieraus ergibt sich eindeutig, dass der Gesetzgeber nicht nur, wie die Gesetzesüberschrift nahe legen könnte, die Regelungen des allgemeinen Auslandsrentenrechts zur Zahlbarmachung von Ansprüchen ins Ausland ergänzen, sondern auch im Bereich der Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten "Neuland betreten" wollte. Nur wenn eine Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht verlangt wird, wird im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung tatsächlich Neuland betreten, weil der Kreis der Anspruchsberechtigten größer wird.
Auch das LSG Nordrhein-Westfalen erwägt die Möglichkeit, dass der Gesetzgeber mit dem ZRBG einen neuen Beitragszeittatbestand schaffen wollte, hält sie jedoch nicht für durchschlagend wegen des Verweises in § 1 Abs. 2 ZRBG auf eine Ergänzung der Vorschriften des WGSVG, das auf Schadensausgleich in der Sozialversicherung ausgerichtet sei. Die Formulierung in der Gesetzesbegründung zum ZRBG, dass bei der Anerkennung rentenrechtlicher Zeiten von bestimmten Grundsätzen des Rentenrechts abgewichen werde, ist jedoch so eindeutig, dass ein anderer Wille des Gesetzgebers als die Schaffung eines neuen Beitragszeittatbestandes nicht erkennbar ist. Hierfür spricht der im Allgemeinen Teil der Gesetzesbegründung zum ZRBG enthaltene Hinweis, dass auch eine Lösung dafür für nötig gehalten worden sei, dass Ansprüche aus Beschäftigungszeiten im Sinne von § 16 FRG nie ins Ausland gezahlt werden konnten. Auch insoweit ergibt sich die vom Gesetzgeber ausdrücklich gewollte Änderung durch das ZRBG nur, wenn wie hier angenommen wird, dass auch für Zeiten, die nach früherem Recht keine Versicherungspflicht begründen würden (auch nicht mit Hilfe des deutschen Sprach- und Kulturkreises) durch das ZRBG neue Beitragszeittatbestände geschaffen wurden.
Das Ergebnis wird weiter gestützt durch die Ausführungen des Gesetzgebers im Besonderen Teil der Begründung zu Artikel 1 Abs. 2 des ZRBG, nämlich zu den Folgen der Anwendbarkeit des WGSVG. Dort heißt es: "Bedeutung hat dies insbesondere für die dort zum Leistungsrecht getroffenen Regelungen über die Anrechnung von Kindererziehungszeiten, Berücksichtigung von Anrechnungszeiten, die besondere Ermittlung von Entgeltpunkten für Beitragszeiten und die Bewertung von Verfolgungsersatzzeiten für pflichtversicherte Verfolgte. Weiterer ergänzender Regelungen bedarf es nicht, zumal die allgemein geltenden Vorschriften des Rentenrechts im SGB VI, insbesondere auch diejenigen über die Ermittlung von Entgeltpunkten (z. B. § 256 b SGB VI) Anwendung finden. Die übrigen Regelungen des rentenrechtlichen Teils des WGSVG über die Nachzahlung von Beiträgen und deren Berücksichtigung im Rahmen des Leistungsrechts brauchen wegen der in § 2 Abs. 1 für die Erbringung von Leistungen ins Ausland fiktiv angenommenen Gleichstellung von Ghetto- Beitragszeiten mit Bundesgebiets- Beitragszeiten nicht angewendet zu werden."
Es ist für die Kammer nicht nachvollziehbar, dass der Gesetzgeber einerseits in der Gesetzesbegründung zum ZRBG sehr detaillierte Ausführungen über einzelne Folgen der Regelung zur Geltung des WGSVG z. B. für Kindererziehungszeiten macht, jedoch eine so gravierende und für einen Großteil der Verfolgten anspruchsausschließende Folge nicht benennen würde, wie dies die Notwendigkeit der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis wäre.
Zum selben Ergebnis führt die Auswertung des "Berichts zur Umsetzung des ZRBG" vom 15.02.2005 des für den damaligen Gesetzesentwurf zuständigen Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung. Dort ist auf Seite 7 ausdrücklich ausgeführt: "Aufgabe des ZRBG ist die Schließung einer letzten, im Zusammenhang mit dem Urteil des BSG aus dem Jahre 1997 entstandenen Lücke im Regelungskomplex der Ausgleichs- und Rentenleistungen an Verfolgte des Nationalsozialismus. Nachdem mit dem WGSVG und dem FRG für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung Regelungen getroffen worden sind, die bei den Betroffenen die verfolgungsbedingt entstandenen Lücken in ihrer Versicherungsbiografie geschlossen haben, und nachdem mit dem Stiftungsgesetz Zwangsarbeitern Entschädigungen für erlittene Zwangsarbeit gewährt wurden, verfolgt das ZRBG zwei Ziele: Die Anerkennung von Beitragszeiten aufgrund einer Beschäftigung in einem Ghetto im sozialversicherungsrechtlichen Sinne unabhängig davon, ob der Verfolgte zum Personenkreis des FRG oder des Deutschen Sprach- und Kulturkreises(DSK) gehört (§ 1 und 17 a FRG, 20 WGSVG) und die Zahlung daraus resultierender Renten auch ins Ausland".
Ebenso eindeutig wird dies von den Rentenversicherungsträgern so gesehen (vgl. "Dienstanweisung zum ZRBG der Deutsche Rentenversicherung Bund vom 4.11.2005, Punkt 2" und "Gemeinsame Arbeitsanweisungen LVA Freie und Hansestadt Hamburg EL N 22 – August 2004 zum ZRBG, R 3.2, Seite 6", wo es heißt: "Im Unterschied zur bisherigen Feststellung von Beitragszeiten von Verfolgten in den eingegliederten und besetzten Gebieten nach der BSG-Rechtsprechung ist nach dem ZRBG einer Anerkennung von Ghettobeitragszeiten unabhängig davon möglich, welches Sozialversicherungsrecht (deutsches Recht oder weiter geltendes Recht des Aufenthaltsstaates) in dem betroffenen Gebiet seinerzeit galt, ob die Beschäftigung nach dem in dem jeweiligen Gebiet geltenden Recht zur Versicherungspflicht geführt hätte und ob gegebenenfalls die Voraussetzungen für die Anwendung des FRG (z. B. Personenkreis §§ 1,17a FRG oder Beitragsübergang nach § 17 Abs. 1 Buchstabe b FRG a.F.) erfüllt sind. Das ZRBG reduziert die Anerkennungsvoraussetzungen auf das Grundelement der "frei gewählten" Beschäftigung gegen Entgelt."
Einziger Ausschlussgrund für Leistungen nach dem ZRBG wäre, wenn für die hier in Streit stehenden Zeiten bereits eine Leistung aus einem anderen System der sozialen Sicherheit erbracht würde (§ 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG). Dies ist hier nicht der Fall. Der Kläger bezieht für diese Zeit nicht bereits eine Leistung aus einem anderen System der sozialen Sicherung. Dies sind nach der Gesetzesbegründung (Bundestagsdrucksache 14/8583) zu § 1 Abs.1 Satz 2 ZRBG ausländische soziale Sicherungssysteme, insbesondere Rentenversicherungen im Herkunfts- bzw. Wohnlandes des Verfolgten. Hier sind keinerlei Gesichtspunkte erkennbar, dass der Kläger aus Polen oder den USA entsprechende Leistungen für dieselben Verfolgungszeiten erhält.
Neben der Ghettobeitragszeit sind auf die allgemeine Wartezeit auch verfolgungsbedingte Ersatzzeiten nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI anzurechnen. Gem. § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI sind Ersatzzeiten u.a. Zeiten vor dem 01.01.1992, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat und in denen Versicherte, die das 14. Lebensjahr vollendet haben und Verfolgte im Sinne des § 1 BEG sind, in ihrer Freiheit eingeschränkt gewesen oder ihnen die Freiheit entzogen worden ist (§§ 43 und 47 BEG). Der Kläger ist Versicherter im Sinne dieser Norm wegen der von ihm zurückgelegten Beitragszeiten für eine Beschäftigung im Ghetto Kielce.
Gem. § 43 Abs. 1 Satz 1 2 BEG hat der Verfolgte Anspruch auf Entschädigung, wenn ihm in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 08. Mai 1945 die Freiheit entzogen worden ist, wobei gemäß § 43 Abs. 2 BEG Freiheitsentziehung im Sinne dieser Vorschrift insbesondere polizeiliche oder militärische Haft, Inhaftnahme durch die NSDAP, Untersuchungshaft, Strafhaft, Konzentrationslagerhaft und Zwangsaufenthalt in einem Ghetto sind. Nach § 43 Abs. 3 BEG ist der Freiheitsentziehung das Leben unter haftähnlichen Bedingungen, Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen und Zugehörigkeit zu einer Straf- oder Bewährungseinheit der Wehrmacht gleichgestellt. Gem. § 47 Abs. 1 BEG hat der Verfolgte Anspruch auf Entschädigung, wenn er in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 08. Mai 1945 den Judenstern getragen oder unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Illegalität gelebt hat.
Die Zeit von Oktober 1939 bis 15.2.1940 ist Zeit der Freiheitsentziehung durch Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen anzusehen, den bis zur Einweisung des Klägers ins Ghetto wurde er – wie viele andere Juden auch – immer wieder zu Zwangsarbeiten herangezogen. So berichtet der Kläger gegenüber Herrn Dr. G1, dass er gelegentlich in Steinbrüchen oder beim Kohleladen tätig sein mußte, bevor er dann vom Ghetto aus in einer Arbeitskolone zur Arbeit in Reparaturwerkstätten und an der Eisenbahn ging. Um einen Ersatzzeittatbestand zu bejahen, reicht es schon aus, dass zumindest ein Tag im Monat mit Zwangsarbeiten belegt war, also Arbeiten, die der Kläger gegen seinen freien Willensentschluss auf obrigkeitliche Anweisung verrichten mußten. Angesichts seiner Schilderung ist die für die Monate zwischen Oktober 1939 und Februar 1940 überwiegend wahrscheinlich, auch wenn der Kläger in diesem Zeitpunkt gerade erst 16 Jahre alt wurde.
Ersatzzeit nach § 250 Abs. 1 Ziffer 4 SGB VI ist im Fall des Klägers auch die von den Entschädigungsbehörden anerkannte Zeit vom Beginn des Zwangs zum Tragen des Judensterns ab Dezember 1939 sowie die Zeit nach dem Aufenthalt im Ghetto, nämlich die Zeit des Aufenthalts im Gefängnis im März 1942 und die Zeit des Aufenthalts in den Konzentrationslagern Auschwitz und Gleiwitz bis zur Befreiung am 28.1.1945. Außerdem liegen im Anschluss an den Aufenthalt in den Konzentrationslagern Auschwitz und Gleiwitz Ersatzzeiten wegen verfolgungsbedingter Arbeitsunfähigkeit bzw. Arbeitslosigkeit bis zur Auswanderung in die USA bzw. bis 31.12.1949 vor, so dass der Kläger auch ohne die bisher nicht geklärten amerikanischen Versicherungszeiten, die aufgrund des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika über Soziale Sicherheit vom 7.1.1976 zur Erfüllung der allgemeinen Wartezeit heranzuziehen sind, wenn mindestens 18 Monate deutscher Versicherungszeiten vorliegen, die allgemeine Wartezeit für den Kläger allein nach deutschem Rentenversicherungsrecht erfüllt ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz. Die Entscheidung ergeht für den Kläger gerichtskostenfrei.
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