L 13 (8) RJ 146/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 46 RJ 150/03
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 (8) RJ 146/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 R 51/06 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 13.11.2003 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Klägerin auf Grund ihres gemäß § 44 Sozialgesetzbuch, 10. Teil (SGB X) gestellten Antrages Zahlungen aus dem ihr dem Grunde nach zuerkannten Anspruch auf Hinterbliebenenrente verlangen kann.

Die 1938 geborene Klägerin ist Witwe des 1937 in Russland geborenen und dort am 00.03.1991 verstorbenen B K (Versicherter). Beide waren ausschließlich in ihrer früheren Heimat beschäftigt. Die Klägerin übersiedelte am 17.10.1996 nach Deutschland und wurde hier gemäß § 4 Bundesvertriebenengesetz als Spätaussiedlerin anerkannt.

Sie erhält aufgrund des Bescheides vom 07.11.1997 von der Beklagten ab 17.10.1996 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU-Rente) aus eigener Versicherung. Für diese Rente ermittelte die Beklagte 33,7910 Entgeltpunkte für anrechenbare Zeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) und begrenzte sie gemäß § 22 b FRG auf 25 Entgeltpunkte.

Mit bindendem Bescheid vom 27.07.1998 bewilligte die Beklagte der Klägerin eine ebenfalls am 17.10.1996 beginnende große Witwenrente nach dem Versicherten. Sie bildete 26,9005 Entgeltpunkte für anrechenbare Zeiten nach dem FRG, die sie ebenfalls auf 25 Entgeltpunkte begrenzte. Da allerdings bereits bei der EU-Rente 25 Entgeltpunkte angerechnet worden waren, berücksichtigte sie gemäß § 22 b FRG in der ab 07.05.1996 geltenden Fassung (a.F.) für die Hinterbliebenenrente keine Entgeltpunkte nach dem FRG mehr: Vorrangig sei insoweit die EU- Rente aus der eigenen Versicherung der Klägerin.

Am 08.08.2002 beantragte die Klägerin unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30.08.2001 - B 4 RA 118/00 R - in BSGE 88, 288 ff, den Bescheid vom 27.07.1998 gemäß § 44 SGB X zu überprüfen.

Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26.08.2002 ab: Sie folge dem Urteil des BSG nicht. Dessen Begründung treffe nicht zu. Der Begriff "Berechtigter" werde im Fremdrentenrecht in zahlreichen Vorschriften verwandt und umfasse auch die Hinterbliebenen.

Den nicht begründeten Widerspruch wies die Beklagte mit Bescheid vom 18.03.2003 zurück.

Die Klägerin hat hiergegen Klage zum Sozialgericht (SG) Dortmund erhoben und beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.08.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.03.2003 zu verurteilen, ihre Hinterbliebenenrente in Abänderung des Bescheides vom 27.07.1998 ab dem 01.01.1998 neu zu berechnen und der Rentenberechnung die von ihrem verstorbenen Ehemann nach dem Fremdrentengesetz erworbenen Entgeltpunkte bis zu einem Höchstwert von 25 Entgeltpunkten zu Grunde zu legen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das SG hat die Beklagte am 13.11.2003 antragsgemäß verurteilt. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 44 SGB X seien erfüllt. Der Bescheid vom 27.07.1998 sei unrichtig. Die Beklagte hätte der Hinterbliebenenrente gemäß § 22 b FRG (a.F.) die von dem Versicherten nach dem FRG erworbenen Entgeltpunkte bis zum Höchstwert (25 Punkte) zu Grunde legen müssen. Zwar werde die Klägerin vom Gesetz zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der Rentenversicherung und Arbeitsförderung (Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz - WFG-) erfasst. Mit dem ab 07.05.1996 (§ 12 Abs. 2 WFG) eingeführten § 22 b Abs. 1 Satz 1 FRG dürften aber nicht allein bei der EU-Rente der Klägerin die Entgeltpunkte aus FRG-Zeiten auf 25 begrenzt und bei der Hinterbliebenenrente überhaupt keine Entgeltpunkte aus FRG-Zeiten berücksichtigt werden. Es könne offen bleiben, ob bereits der Wortlaut des § 22 b FRG der Auffassung der Beklagten eindeutig entgegen stehe, wie das BSG in seinem Urteil vom 30.08.2001 meine. Jedenfalls könne es nicht Sinn und Zweck dieser Vorschrift sein, den überlebenden "FRG-berechtigten Ehegatten" noch zusätzlich dadurch schlechter zu stellen, dass die vom verstorbenen Ehegatten nach dem FRG erworbenen Zeiten "unter den Tisch fielen". Auch der in § 22 b Abs. 3 FRG enthaltene Rechtsgedanke gebe nichts Anderes her.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 12.12.2003 zugestellte Urteil am 22.12.2003 Berufung eingelegt. Sie verweist auf die Neufassung des § 22 b Abs. 1 Satz 1 FRG durch das Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Nachhaltigkeitsgesetz) vom 21.07.2004 und die darin bestimmte Rückwirkung auch zum 07.05.1996.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 13.11.2003 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) einverstanden erklärt (Schriftsätze vom 27.01. und 14.02.2006).

Die Akten der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der Beratung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf ihren Inhalt und den übrigen Inhalt der Streitakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Mit dem Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Entgegen der Entscheidung des SG hat es die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden zu Recht abgelehnt, den bindenden Verwaltungsakt vom 27.07.1998 mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies kann die Klägerin nämlich nur beanspruchen, wenn sich in ihrem Einzelfall ergeben hat, dass beim Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt worden ist oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist.

Beides ist jedoch nicht der Fall. Anzuwenden ist hier § 22 b Abs. 1 Satz 1 FRG (n.F.)in der Fassung des RV-Nachhaltigkeitsgesetzes vom 21.07.2004 (BGBl. I 2004, S. 1791). Durch Art. 9 Nr. 2 i.V.m. Art. 15 Abs. 3 RV-Nachhaltigkeitsgesetz ist die veränderte Fassung des § 22 b FRG (n.F.) rückwirkend zum 07.05.1996 in Kraft getreten. Sie lautet: "Für anrechenbare Zeiten nach diesem Gesetz werden für Renten aus eigener Versicherung und wegen Todes eines Berechtigten insgesamt höchstens 25 Entgeltpunkte der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten zu Grunde gelegt." Danach sind Zahlungen an die Klägerin, die erst nach dem 07.05.1996 nach Deutschland übergesiedelt ist, aus der Witwenrente ausgeschlossen. Denn sowohl bei ihrer Altersrente als auch bei der Witwenrente nach ihrem 1991 in Russland verstorbenen Ehemann resultieren die Entgeltpunkte ausschließlich aus Zeiten, die nach dem FRG zu berücksichtigen sind: Da bereits 25 Entgeltpunkte bei der gezahlten Altersrente zu Grunde gelegt sind, können die Entgeltpunkte der Witwenrente sich nicht mehr rentensteigernd auswirken.

Die Vorschrift § 22 b FRG n.F. ist anzuwenden, obwohl sie erst nach Erlass des angefochtenen Bescheides verkündet worden ist. Bei der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage sind Rechtsänderungen, die nach Erlass der angefochtenen Entscheidung während des anhängigen Rechtsstreites eintreten sind, zu beachten. Auch § 300 SGB VI schließt die Anwendung des neuen Rechts nicht aus (BSG, Urteil vom 21.07.2005 - B 8 KN 1/05 R - in SozR 4-5050 § 22b Nr. 4 mit zahlreichen Nachweisen zur ständigen Rechtsprechung).

Die in § 22 Abs. 1 Satz 1 FRG n.F. getroffene Begrenzungsregelung ist wie die Vorgängervorschrift verfassungsrechtlich (Art. 116, 14, 3 GG) nicht zu beanstanden. Sie setzt, was das SG verkennt, lediglich den bereits in der alten Fassung des § 22 Abs. 1 Satz 1 FRG, auf den sich die Klägerin beruft, zum Ausdruck gekommenen Systemwechsel vom Eingliederungsprinzip zu einer Eingliederungshilfe für Spätaussiedler fort, die erst 40 Jahre nach Kriegsende und nach der Wiedervereinigung sowie der Auflösung der Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind (vgl. hierzu auch Urteil des BSG vom 11.03.2004. B 13 RJ 44/03 R in BSGE 92, 248 ff). Ins Gewicht fällt auch, dass dem FRG - Anteil der hier in Frage stehenden Renten keine Beiträge zur deutschen Rentenversicherung zugeordnet werden können, so dass der Gesetzgeber einen umso größeren Gestaltungsspielraum bei der Verteilung dieser allein aus Haushaltsmitteln gezahlten Leistungen für sich in Anspruch nehmen kann. Daher wird die Klägerin gegenüber deutschen hinterbliebenen Ehefrauen, deren versicherte Ehemänner ihr Berufsleben in Deutschland verbracht haben, nicht ungerechtfertigt benachteiligt (BSG Urteil vom 21.06.2005 a.a.O. mit weiteren Nachweisen).

Nach Auffassung des Senats ist auch die vom Gesetzgeber mit Rückwirkung zum 07.05.1996 bestimmte Neufassung des § 22 b Abs. 1 Satz 1 FRG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, so dass es auf die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BSG vom 11.03.2004 a.a.O.) schon während des Gesetzgebungsverfahrens gerügte Erklärung, es handele sich lediglich um eine Klarstellung bzw. um eine authentische Interpretation, im Ergebnis jedenfalls nicht ankommt. Der Senat schließt sich den überzeugenden Begründungen in den Urteilen des 5. und des 8. Senats des BSG (Urteile vom 21.06.2005 - B 8 KN 1/05 R in SozR 4-5050 § 22b Nr. 4, B 8 KN 9/04 R in SozR 4-1300 § 44 Nr. 5 und Urteil vom 05.10.2005 - B 5 RJ 57/03 R -) , die zuvor schon vom Landessozialgericht Sachsen-Anhalt teilweise dargelegt wurden (Urteil vom 11.05.2005 - L 3 RJ 82/04 -) an. Die dort aufgezeigten Grundsätze stimmen mit denen überein, welche das Bundesverfassungsgericht - nicht abschließend - als Ausnahmen von dem grundsätzlichen Rückwirkungsverbot genannt hat (vgl u.a. Beschluss vom 14.05.1986 - 2 BvL 2/83 - in BVerfGE 72, 200 ff.) Auch dann, wenn es sich um eine echte Rückwirkung handelt, ist diese nicht in jedem Falle verboten. Auch die vorliegende Fallgestaltung liefert ein Beispiel dafür, wann eine Rückwirkung einer Gesetzesänderung noch gerechtfertigt ist. Eine Ausnahme vom Vertrauensschutz ist dann möglich, wenn ein nicht - oder nicht mehr - vorhandenes schutzwürdiges Vertrauen des Einzelnen die Durchbrechung rechtfertigt oder gar erfordert. So kann sich ein schutzwürdiges Vertrauen nicht bilden bei einer unklaren oder verworrenen Rechtslage, die erst durch höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt werden muss. Gleiches gilt, wenn erst durch die Rechtsprechung ein Norminhalt erschlossen wird, der zuvor wegen der besonderen Auslegungsprobleme nicht erkannt wurde. So ist die historische Entwicklung zum Verständnis von § 22b Abs. l Satz l FRG verlaufen: Erst die Auslegung von § 22b Abs. Satz l FRG aF. mit " erhebliche(m) Interpretationsaufwand unter rechtssystematische(n) und übergeordneten Gesichtspunkten" (vgl Urteile vom 21.06.2005 und 05.10.2005 a.a.O) durch das Urteil des 4. Senats (BSG, Urt. v. 04.08.2001 - 4 RA 118/00 R) hatte erstmalig dazu geführt, die Norm auf Hinterbliebenenrenten nicht anzuwenden. Bis dahin war die Verwaltungs- und Rechtspraxis einheitlich und wurde soweit ersichtlich nicht mit gewichtigen Argumenten beanstandet. Es wurde, wie in dem vom 4. Senat zu entscheidenden Ausgangsfall, in der Regel nur darüber gestritten, ob § 22 b FRG a.F. als solche verfassungsgemäß war. Die Entscheidung des 4. Senats überraschte und stieß auf erhebliche Kritik. Erst unter Bezug auf dessen Urteil vom 04.08.2001 wurden, wie im vorliegenden Verfahren auch, Anträge auf Überprüfung gemäß § 44 SGB X gestellt. Nach Ansicht des Senats konnten diese Antragsteller daher auch nicht ohne weiteres eine gefestigte und damit schutzwürdige Vertrauensposition für sich in Anspruch nehmen. Die Rechtslage ist so auch trotz der Entscheidung vom 04.08.2001 weiter, jedenfalls bis zur Bestätigung durch den 13. Senat (Urteil vom 11.03.2004, vgl hierzu auch BSG vom 05.10.2005- B 5 RJ 57/03 R, Umdruck Nr. 26) unklar geblieben, weil die Rentenversicherungsträger vereinbart hatten, dieser Rechtsprechung nicht zu folgen, eine Vielzahl von Entscheidungen der ersten und zweiten Instanz die Rentenversicherungsträger in ihrer Auffassung bestätigten und weil das Urteil des 4. Senats vom 04.08.2001 auch keine Lösung zu der Frage gegeben hatte, welche Begrenzung der Entgeltpunkte für FRG-Zeiten bei der Hinterbliebenenrente gelten sollte, wenn sich § 22b Abs. l Satz l FRG aF. nicht auf das Zusammentreffen einer eigenen Rente mit einer Hinterbliebenenrente bezog.

Demgemäß waren das angefochtene Urteil aufzuheben und die Entscheidung der Beklagten zu bestätigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 SGG). Eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung liegt noch nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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