L 1 KR 1109/05

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 73 KR 2606/04
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 1109/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt von der beklagten Krankenkasse die Übernahme der Kosten einer Eigenhaartransplantation.

Die 1964 geborene Klägerin ist Mitglied der Beklagten. Bei ihr bestehen als Folge einer Operation jeweils links und rechts an den Schläfen circa 10 cm lange und 0,3 cm breite Narben mit fehlendem Haarwuchs. Am 30. April 2004 beantragte sie bei der Beklagten die Kostenübernahme einer Eigenhaartransplantation durch den Facharzt für Chirurgie Dr. F N in D. Dazu legte sie einen Kostenvoranschlag vom 27. April 2004 (über 6459.69 EUR zuzüglich der Kosten für eine im Falle der Klägerin notwendige Vollnarkose) sowie ein Attest ihrer behandelnden Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. S J vom 18. April 2004 vor, in dem diese bestätigt, dass die Klägerin seit vielen Jahren erheblich unter den vorhandenen, deutlich sichtbaren Narben leide. Dies habe zu schweren reaktiven Depressionen und zu einer sozialphobischen Symptomatik mit sozialem Rückzug geführt, die sich in psychiatrisch-psychotherapeutischen Gesprächen nicht hätten bessern lassen. Die seelischen Folgestörungen hätten eindeutigen Krankheitswert. Durch eine Eigenhaartransplantation sei eine erhebliche Besserung von Selbstbewusstsein, Stimmung und Sozialkontakten zu erwarten.

Mit Bescheid vom 5. Mai 2004 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Im Widerspruchsverfahren holte sie ein sozialmedizinisches Gutachten nach Aktenlage vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) Berlin-Brandenburg e.V., Dr. A. St ein. Dieser teilte in seinem Gutachten vom 18. Mai 2004 mit, Rückfragen bei der behandelnden Nervenärztin hätten ergeben, dass durch ein Umfrisieren das Narbenfeld nicht verdeckbar sei. Die Klägerin färbe derzeit die Kopfhaut ein, um bei ihrer sehr dunklen Haarfarbe die Narben weniger auffällig zu machen. Nach Auskunft der Nervenärztin würden die Narbenfelder für den Betrachter dadurch nicht unauffällig. Bezugnehmend auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 23. Juli 2002 (SozR 3-2500 § 33 Nr. 45 zur Versorgung mit einer Perücke) schlug er in seinem Gutachten vor, aufgrund des als in hohem Maße entstellend erlebten Befundes sich an den Kosten in Höhe der Kosten für eine mehrjährig haltbare Echthaarperücke zu beteiligen. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15. Juli 2004 zurück. Nur wenn eine behandlungsbedürftige Krankheit vorliege, sei ein operativer Eingriff Bestandteil der Krankenbehandlung. Kosmetische Operationen fielen dagegen generell nicht in den Leistungsbereich der Krankenkassen. Das Bundessozialgericht habe in dem genannten Urteil festgestellt, dass ein Anspruch auf einen Haarersatz nur insoweit bestehe, als er notwendig sei, den Verlust des natürlichen Haupthaares für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar zu machen. Die Versorgung mit einer Perücke als Hilfsmittel sei im Rahmen des Sachleistungsprinzips auf Grundlage der Stellungnahme des MDK möglich. Die Eigenhaartransplantation könne dem gegenüber jedoch auch bei der vorliegenden Erkrankung nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung getragen werden, da diese bisher nicht nach § 135 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) durch den Gemeinsamen Bundesausschuss geprüft und in den Leistungskatalog der Krankenversicherung aufgenommen worden sei.

Die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Berlin mit Urteil vom 28. Juli 2005 abgewiesen. Der geltend gemachte Anspruch scheitere jedenfalls daran, dass die Klägerin eine Übernahme für Kosten einer so genannten neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode im Sinne des § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V geltend mache, für die eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht bestehe (vgl. BSG SozR 3 – 2500 § 92 Nr. 7). Es habe deshalb dahingestellt bleiben können, ob bei ihr aufgrund der Narbenbildung überhaupt eine Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne vorliege. Eine Krankheit bestehe nur dann, wenn ein Versicherter in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt werde oder wenn eine anatomische Abweichung entstellend wirke. Die bisherige ständige Rechtsprechung habe Operationen am – krankenversicherungsrechtlich betrachtet – gesunden Körper, die psychische Leiden beeinflussen sollten, nicht als Behandlung im Sinne von § 27 Abs. 1 SGB V gewertet und derartige Maßnahmen der Eigenverantwortung der Versicherten zugewiesen (Hinweis auf BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 3).

Die Klägerin verfolgt ihr Begehren mit der Berufung weiter. Soweit der gemeinsame Bundessausschuss noch keine positive Entscheidung über die Aufnahme der begehrten Leistung in den Leistungskatalog der Krankenkassen übernommen habe, liege ein Systemversagen vor. Zwar habe bis zum 1. März 2004 bei dem gemeinsamen Bundesausschuss noch kein Antrag gemäß § 135 SGB V auf Zulassung der Eigenhaartransplantation nach der Mini- und Mikrograftmethode vorgelegen. Dass das Verfahren vor dem Gemeinsamen Bundesausschuss aber nicht betrieben werde, lasse sich nur aus willkürlichen und sachfremden Erwägungen heraus rechtfertigen. Denn unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sei die Eigenhaartransplantation der alternativ zur Verfügung stehenden Versorgung durch eine Perücke als Hilfsmittel zumindest gleichwertig.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Juli 2005 und den Bescheid der Beklagten vom 5. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Juli 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für eine Eigenhaartransplantation mit Vollnarkose zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.

Die den streitigen Vorgang betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten und die Gerichtsakten des Sozialgerichts Berlin (S 73 KR 2606/04) lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Kostenübernahme für die begehrte Eigenhaartransplantation.

Die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung setzt nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V zunächst eine "Krankheit" voraus. Damit wird in der Rechtsprechung ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand umschrieben, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (BSGE 85, 36 = SozR 3-2500 § 27 Nr. 11; BSGE 72, 96 = SozR 3-2200 § 182 Nr. 14 jeweils mit weiteren Nachweisen). Indem § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V neben der Heilung ausdrücklich auch die Linderung von Krankheitsbeschwerden zu den möglichen Zielen einer Krankenbehandlung zählt, macht das Gesetz aber keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Krankheiten im engeren Sinne, bei denen die Betonung auf dem regelmäßig nur vorübergehenden Charakter einer als überwindbar angesehenen Gesundheitsbeeinträchtigung liegt, und Behinderungen, die als weitgehend unabänderlich vor allem unter dem Gesichtspunkt des Ausgleichs für eine dauerhaft regelwidrige Körperfunktion die Leistungspflicht begründen können (vgl. z.B. BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 2 zur Dauerpigmentierung von Gesichtspartien zur Darstellung krankheitsbedingt fehlender Augenbrauen und Wimpern). Das Fehlen der Körperbehaarung ist ein regelwidriger Körperzustand; da nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zugleich auch Krankheitswert zukommt, hat die Rechtsprechung jedoch diese Grundvoraussetzung für die krankenversicherungsrechtliche Leistungspflicht dahingehend präzisiert, dass eine Krankheit nur vorliegt, wenn der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder wenn die anatomische Abweichung entstellend wirkt (vgl. BSG aaO und BSG SozR 4-2500 § 13 Nr. 4 zu Hautverfärbungen; BSG SozR 3-2500 § 39 Nr. 5 zu einer Hodenprothese; ähnlich die Hilfsmittelrechtsprechung des 3. Senats des BSG in SozR 3-2500 § 33 Nr. 45 zur Perücke, wo eine Entstellung als Unterfall eines Funktionsdefizits aufgefasst wird).

Der Senat, der keinen Beweis durch Inaugenscheinnahme erhoben hat, hat bei seiner Entscheidung zu Gunsten der Klägerin unterstellt, dass aufgrund der Narben eine Krankheit im dargestellten Sinne vorliegt, die die Leistungspflicht der Krankenkasse begründen kann. Gleichwohl ergibt sich kein Anspruch auf Übernahme der Kosten einer Eigenhaartransplantation.

Der Behandlungs- und Versorgungsanspruch eines Versicherten unterliegt den sich aus § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Er umfasst folglich nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Hieran fehlt es im Falle der Klägerin, denn Krankenkassen sind nicht bereits dann leistungspflichtig, wenn die streitige Therapie im konkreten Fall nach eigener Einschätzung des Versicherten oder des behandelnden Arztes positiv verlaufen ist oder einzelne Ärzte die Therapie befürwortet haben. Vielmehr muss die betreffende Therapie rechtlich von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst sein. Dies ist bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V nur dann der Fall, wenn der Bundesausschuss in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V eine positive Empfehlung über den diagnostischen und therapeutischen Nutzen der Methode abgegeben hat (stRspr vgl. BSGE 81, 54 = SozR 3-2500 § 135 Nr. 4; BSGE 86, 54 = SozR 3-2500 § 135 Nr. 14 mwN; BSG SozR 3-2500 § 92 Nr. 12; BSG SozR 4-2500 § 135 Nr. 1). Durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 iVm § 135 Abs. 1 SGB V wird nämlich nicht nur geregelt, unter welchen Voraussetzungen die zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Leistungserbringer (Ärzte, Zahnärzte usw) neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu Lasten der Krankenkassen erbringen und abrechnen dürfen. Vielmehr wird durch diese Richtlinien auch der Umfang der den Versicherten von den Krankenkassen geschuldeten ambulanten Leistungen verbindlich festgelegt (stRspr seit BSGE 81, 73 = SozR 3-2500 § 135 § 92 Nr 7). "Neu" ist eine Behandlungsmethode, wenn sie (bisher) nicht als abrechnungsfähige ärztliche Leistung im Einheitlichen Bewertungsmaßstab für vertragsärztliche Leistungen (EBM-Ä) enthalten ist (zuletzt BSGE 94, 221 = SozR 4-2400 § 89 Nr. 3). Diese Kriterien sind bei der Eigenhaartransplantation erfüllt: Als chirurgische Leistung wird die Hauttransplantation bei behaarter Kopfhaut lediglich im Zusammenhang mit Eingriffen bei Verbrennungen und Verätzungen genannt (Arztgruppen EBM Chirurg, Stand 3. 4. 2006, Anhang 2: Zuordnung zu operativen Prozeduren zum Kapitel 31 2.24 Operationen an Haut), die Eigenhaartransplantation ist an keiner Stelle genannt. Der Bundesausschuss hat sich unstreitig nicht mit dieser Behandlungsmethode befasst.

Das Fehlen einer Empfehlung des Bundesausschusses begründet keinen Systemmangel, aus dem die Klägerin Rechte herleiten könnte (Fälle der Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V). Ein Kostenerstattungsanspruch des Versicherten kommt ausnahmsweise in Betracht, wenn die fehlende Anerkennung der neuen Methode darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem Bundesausschuss trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen willkürlich oder aus sachfremden Erwägungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wird. Hierfür sind nach dem Vortrag der Klägerin keinerlei Hinweise erkennbar. Die Klägerin übersieht, dass im Rahmen des Leistungsspektrums der gesetzlichen Krankenversicherung Leistungen zur Verfügung stehen, die geeignet sind, die bestehende Krankheit auszugleichen. Das Vorliegen einer Krankheit verpflichtet die Krankenkasse lediglich zur "notwendigen" Behandlung und nicht dazu, jede vom Versicherten gewünschte, von ihm für optimal gehaltene Maßnahme zur Heilung oder Linderung des krankhaften Zustands zu gewähren. Wie die Beklagte im Widerspruchsbescheid ausgeführt hat, steht der Klägerin im Falle der entstellend wirkenden teilweisen Haarlosigkeit eine Versorgung mit einer Perücke (bzw. einem Haarteil) zu. Dabei hat das BSG in der von der Beklagten in Bezug genommenen Entscheidung ausdrücklich ausgeführt, dass die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bei einer Frau nicht voraussetze, dass ihr ursprüngliches Aussehen so weit wie möglich wiederhergestellt wird. Somit umfasst der von der Krankenkasse zu leistende Ausgleich nur die Versorgung, die notwendig ist, um den Verlust des natürlichen Haupthaares für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennbar werden zu lassen. Ein ausreichender Ausgleich wird nicht dadurch bereits in Frage gestellt, dass bei einer Perückenversorgung vertraute Personen oder Fachleute das Haupthaar als "künstlich" erkennen. Es ist daher nicht zu beanstanden, wenn angesichts der Versorgung von weiblichen Versicherten mit entsprechenden Hilfsmitteln zum Ausgleich des Verlust des Haares weitergehende (kosmetische) Behandlungsmethoden wie die Eigenhaartransplantation nicht in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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