S 20 SO 136/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 136/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger 8.013,77 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.12.2005 zu zahlen. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte. Der Streitwert wird auf 8.013,77 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Sozialhilfekosten, die der Kläger für einen Hilfeempfänger (HE) nach dessen Einreise aus dem Ausland in der Zeit vom 12.11.2001 bis 30.04.2003 in Höhe von 8.013,77 EUR aufgewendet hat.

Der HE ist deutsche Staatsangehöriger und am 24.05.1978 in Q geboren. Er lebte bis November 2001 in Q im Haushalt seiner Eltern. Vom 28.08. bis 05.10.2001 arbeitete er als Leih-Arbeitnehmer in Süddeutschland; die Firma stellte ihm dort während dieser Zeit ein Zimmer zur Verfügung. Er behielt seinen Wohnsitz in Q bei, da er zu diesem Zeitpunkt nicht die Absicht hatte, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Als das Arbeitsverhältnis wegen Arbeitsmangel endete, beschloss er, seinen Wohnsitz in Q aufzugeben und dauerhaft nach Deutschland zu ziehen (vgl. die Erklärung des HE vom 10.04.2002 – Bl. 112 der Verwaltungsakte des Beklagten), und zwar nach B, wo seine Schwester mit Familie wohnte. Am 02.11.2001 – der HE wohnte noch in Q – schlossen seine Schwester und sein Schwager im Auftrag des HE einen Mietvertrag über eine Wohnung in B, Astrasse, mit Wirkung ab 01.12.2001. Am 11.11.2001 reiste der HE von Q nach Deutschland. Er wohnte bis 30.11.2001 bei seiner Schwester, seinem Schwager und deren beiden Kindern, ab 01.12. in der eigenen Wohnung. Die Schwester und der Schwager des HE sind in Q, deren beiden Kinder in Deutschland geboren.

Am 12.11.2001 beantragte der HE beim Kläger Sozialhilfe. Bereits im Antrag gab er an, dass er sich bis 30.11.2001 bei der Schwester aufhalte, da er erst am 01.12.2001 eine eigene Wohnung habe. Der HE erhielt vom Kläger vom 12.11.2001 bis 30.04.2003 – zeitweilig ergänzende – Sozialhilfe. Die Aufwendungen des Klägers hierfür betrugen 8.013,77 EUR.

Das Bundesverwaltungsamt bestimmte am 22.02.2002 den Beklagten als für die Erstattung zuständigen überörtlichen Träger der Sozialhilfe nach § 108 Abs. 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG).

Durch Schreiben vom 11.03.2002 bat der Kläger den Beklagten um Anerkennung der Kostenerstattungspflicht. Dieser lehnte die Kostenerstattung durch Schreiben vom 20.06.2002 ab mit der Begründung, der HE habe bei Eintritt des Bedarfs mit Verwandten zusammengelebt. Nach einem intensiven Schriftwechsel zwischen den Beteiligten, in dem die verschiedenen Rechtsstandpunkte ausgetauscht wurden, ohne dass man zu einem Ergebnis gelangte, und nach Beendigung der Sozialhilfeleistungen an den HE wandte sich der Kläger letztmals mit Schreiben vom 25.11.2005 an den Beklagten und bat um Abgabe eines Kostenanerkenntnisses. Auch hierauf zahlte der Beklagte nicht.

Am 22.12.2005 hat der Kläger Klage erhoben. Er sieht die Voraussetzungen für eine Kostenerstattung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 BSHG als erfüllt an: Der HE habe bei der Einreise einen gewöhnlichen Aufenthalt weder in Q noch in Deutschland gehabt; er habe seinen bisherigen gewöhnlichen Aufenthalt in Q aufgegeben und sei nach Deutschland eingereist; hier habe er innerhalb eines Monats danach der Hilfe bedurft. Der Kläger ist der Auffassung, die Kostenerstattung sei durch keinen Tatbestand des § 108 Abs. 1 Satz 3 BSHG ausgeschlossen. Weder der HE noch seine Schwester noch sein Schwager sei in Deutschland geboren; die Geburtsbeziehung nach Deutschland werde lediglich durch die Kinder der Schwester hergestellt. Sein vorübergehender Aufenthalt bei diesen Verwandten bis zum Bezug der schon von der Einreise von seiner Schwester angemieteten eigenen Wohnung erfülle nicht den Tatbestand des "Zusammenleben" im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 3 BSHG. "Zusammenleben" setze eine auf gewisse Dauer gerichtete Absicht des Zusammenlebens als Familiengemeinschaft voraus. Dies könne im Fall des HE nicht bejaht werden, da er sich nur 20 Tage bei den Verwandten aufgehalten habe und die eigene Wohnung schon vorher gemietet gewesen sei. Der Kläger hat die von ihm für den HE in der Zeit vom 12.11.2001 bis 30.04.2003 aufgewendeten Sozialhilfekosten aufgelistet und – vom Beklagten nicht bestritten – mit 8.013,77 EUR beziffert.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, ihm 8.013,77 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basis- zinssatz seit dem 22.12.2005 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er räumt ein, dass der HE bei der Einreise weder in Q noch in Deutschland einen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe. Er meint jedoch, der HE habe mit seinen Verwandten in B nach seiner Einreise zunächst zusammengelebt. Weder aus dem Gesetzeswortlaut noch nach der Absicht des Gesetzgebers müsse ein "Zusammenleben" im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 3 BSHG über einen längeren Zeitraum in einer gemeinsamen Wohnung erfolgen. Entscheidend sei, dass ein Zusammenleben bei Eintritt des Bedarfs vorliege, auch wenn später dieses Zusammenleben gelöst werde; ein verfestigtes Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft über einen längeren Zeitraum werde von der Vorschrift nicht gefordert. Im Übrigen sei das Zusammenleben des HE mit seinen Verwandten durch den Bezug der eigenen Wohnung ab 01.12.2001 nicht beendet worden; die Wohnung liege in einer Nachbarstrasse zu der der Verwandten; die rein räumliche Trennung ab 01.12.2001 reiche insoweit nicht aus, um ein Ende des Zusammenlebens des HE und seinen Verwandten anzunehmen. Entscheidend für ein Zusammenleben in einer solchen Familiengemeinschaft sei der Umstand, dass zwischen dem HE und seinen Angehörigen eine so enge innere Bindung bestehe, dass von ihnen ein gegenseitiges Einstehen in Notfällen erwartet werden könne.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beteiligten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage zulässig. Es handelt sich um eine Klage auf Kostenerstattung zwischen zwei Sozialleistungsträgern im Gleichordnungsverhältnis; in diesem Verhältnis werden die Beziehungen der Beteiligten nicht durch Verwaltungsakt geregelt (vgl. § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz – SGG).

Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erstattung der Sozialhilfekosten in Höhe von 8.013,77 EUR nach § 108 Abs. 1 Satz 1 BSHG. Diese Vorschrift ist zwar durch Artikel 68 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.012.2003 (BGBl. I S. 3022) mit Wirkung ab 01.01.2005 ersatzlos gestrichen worden; sie findet im vorliegenden Fall jedoch noch Anwendung, da bereits in den Jahren 2001 bis 2003 die streitbefangenen Kosten aufgewendet und der Erstattungsanspruch angemeldet worden sind.

§ 108 Abs. 1 BSHG bestimmt: Tritt jemand, der weder im Ausland noch im Geltungsbereich dieses Gesetzes einen gewöhnlichen Aufenthalt hat, aus dem Ausland in den Geltungsbereich dieses Gesetzes über und bedarf er innerhalb eines Monats nach seinem Übertritt der Sozialhilfe, so sind die aufgewendeten Kosten von dem überörtlichen Träger der Sozialhilfe zu erstatten, der von einer Schiedsstelle bestimmt wird (Satz 1). Satz 1 gilt nicht für Personen, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes geboren sind oder bei Eintritt des Bedarfs an Sozialhilfe mit einer solchen Person als Ehegatte, Verwandte oder Verschwägerte zusammenleben (Satz 3). Schiedsstelle im Sinne des Absatzes 1 ist das Bundesverwaltungsamt (§ 108 Abs. 2 Satz 1 BSHG). Dieses hat am 22.02.2002 den Beklagten als für eine Erstattung nach § 108 Abs. 1 BSHG zuständigen überörtlichen Träger der Sozialhilfe bestimmt.

Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Voraussetzungen des § 108 Abs. 1 Satz 1 BSHG für die Zeit vom 12.11.2001 bis 30.04.2003 nach Grund und Höhe erfüllt sind: Als der HE am 11.11.2001 von Q nach Deutschland einreiste, hatte er weder in Q noch in Deutschland einen gewöhnlichen Aufenthalt; er bedurfte bereits ab dem Tag nach seiner Einreise der Sozialhilfe und hat diese bis 30.04.2003 im Umfang von 8.013,77 EUR erhalten.

Dem sich aus § 108 Abs. 1 Satz 1 ergebenden Kostenerstattungsanspruch des Klägers steht kein Ausschlusstatbestand nach § 108 Abs. 1 Satz 3 BSHG entgegen. Der HE hat sich zwar bei Eintritt des Bedarfs an Sozialhilfe bei in Deutschland geborenen Verwandten, nämlich seiner Nichte und seinem Neffen, den Kindern seiner Schwester, aufgehalten. Dieser Aufenthalt erfüllte jedoch nicht den Tatbestand des "Zusammenleben" im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 3 BSHG. Das Zusammenleben im Sinne dieser Vorschrift setzt eine auf gewisse Dauer gerichtete Absicht des Zusammenlebens als Familiengemeinschaft voraus. Dieses Zusammenleben erfordert auch eine gemeinsame Wohnung, nicht nur das Wohnen in unmittelbarer Nähe. Eine Erweiterung des Begriffs "Zusammenlebens" über das Wohnen in einer gemeinsamen Wohnung geht über den Wortlaut der Norm hinaus. Das Gesetz hat den Begriff des "Zusammenlebens" an anderer Stellte (§ 23 Abs. 2 Satz 1 BSHG) auch in dem Sinne verwendet, dass darunter ein verfestigtes, längeres Zusammenleben in einer gemeinsamen Wohnung zu verstehen war (VG Augsburg, Urteil vom 15.04.2003 – Au 3 K 03.215). Indem Satz 3 des § 108 Abs. 1 BSHG die Ausnahme zur Kostenerstattungsregel des Satzes 1 beschreibt, ist er eng auszulegen. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte § 108 BSHG nur noch Fälle eines Zuzugs aus dem Ausland ohne Geburtsbeziehung im Inland erfassen (vgl. die Begründung zum Entwurf eines Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungprogramms – FKPG, BT-Drucksache 12/4401, S. 84). Die in § 108 Abs. 1 Satz 3 BSHG enthaltene Ausnahme von der Lastenverteilungsregelung des Satz 1 soll dann zur Anwendung kommen, wenn eine Person bewusst einen stimmten Ort ausgewählt hat, um dort mit einem hier geborenen Verwandten zusammenzuleben. Dieses Motiv des Zuzugs muss erkennbar für die Ortswahl entscheidend sein. Die Geburtsbeziehung zu einem bestimmten Ort setzt daher eine Verfestigung für eine gewisse Zeit voraus. Nur in solchen Fällen ist es gerechtfertigt, von der Lastenverteilung des § 108 Abs. 1 Satz 1 BSHG abzuweichen (VG Augsburg, a.a.O.).

Eine solche Verfestigung des Zusammenlebens in einer gemeinsamen Wohnung mit in Deutschland geborenen Verwandten ist im Fall des HE für die Zeit vom 12.11. bis 30.11.2001 nicht zu bejahen. Der Aufenthalt des HE in der Familie seiner Schwester war von vornherein nur auf die kurze Zeit von maximal 20 Tagen bis zum Bezug der eigenen Wohnung begrenzt. Bereits am 02.11.2001 – vor der Einreise des HE – war durch seine Schwester schon eine eigene Wohnung ab 01.12.2001 angemietet worden. Dies geschah offensichtlich in der Erwartung der Einreise des HE. Der Aufenthalt des HE in der Familie der Schwester entsprach der Situation eines Besuchs; das Motiv des Zuzugs war nicht das Zusammenleben mit der Familie, sondern die ständige Aufenthaltnahme in Deutschland in einer eigenen Wohnung. Schon bei der Stellung des Sozialhilfeantrags am 12.11.2001 hatte der HE seinen Aufenthalt in der Familie der Schwester entsprechend erklärt. Ein Zusammenleben im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 3 BSHG, das die Kostenlast des vom Bundesverwaltungsamt zum zuständigen überörtlichen Träger der Sozialhilfe bestimmten Beklagten ausgeschlossen hätte, lag damit nicht vor.

Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit – die Klage ging am 22.12.2005 bei Gericht ein – findet seine Grundlage in entsprechender Anwendung von §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Seine früher vertretene andere Auffassung zum Anspruch auf Prozesszinsen hat das Bundessozialgericht im Urteil vom 28.09.2005 (B 0 KA 00/00 R) jedenfalls für eine von 197a Abs. 1 Satz 1 SGG erfasste Streitigkeit – wie der Vorliegenden – aufgegeben. Dem schließt sich die Kammer an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 1, 162 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.
Rechtskraft
Aus
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