Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 14 RA 477/02
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der Träger der Rentenversicherung hat bei der Entscheidung, ob und wenn, inwieweit von der Zuzahlung (u.a.) bei medizinischen Leistungen (seit 1.Juli 2001: Leistungen zur medizinischen Rehabi-litation) abgesehen werden kann, (u.a.) die persönlichen Verhältnisse des Verpflichteten und dessen Leistungsfähigkeit nach § 33 Satz 1 SGB I zu berücksichtigen, Anschluß an BSG, Urteil vom 3. Februar 1988 - 5/5b RJ 46/87.
2. Zur gleichheitskonformen Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffes „unzumutbar“ im Sinne des § 34 Abs. 4 SGB VI kann (und muß) er sich dabei zwar auf eine richtliniengestützte Praxis stützen. Diese (Zuzahlungs-) Richtlinien gelten jedoch nur für den Regelfall. Sie müssen für die Berücksichtigung der Besonderheiten atypischer Fälle Spielraum lassen.
2. Zur gleichheitskonformen Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffes „unzumutbar“ im Sinne des § 34 Abs. 4 SGB VI kann (und muß) er sich dabei zwar auf eine richtliniengestützte Praxis stützen. Diese (Zuzahlungs-) Richtlinien gelten jedoch nur für den Regelfall. Sie müssen für die Berücksichtigung der Besonderheiten atypischer Fälle Spielraum lassen.
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über eine Befreiung der Klägerin von einem Anspruch auf Zuzahlung zu den Kosten stationär erbrachter medizinischer Leistungen zur Rehabilitation.
Die 1964 geborene Klägerin ist verheiratet. Ihre zwei Kinder sind 1984 (Tochter) und 1985 geboren (Sohn). Der Sohn ist seit der Geburt behindert. Ihm fehlen die Schweiß-, Talg-, Speichel- und Schleimdrüsen, sog. Christ-Siemens-Touraine-Syndrom, siehe hierzu zB Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch. Ein Grad der Behinderung von 80 und die Voraus-setzungen für das Merkzeichen G sind anerkannt.
Die Klägerin absolvierte in den 1990’er Jahren eine Umschulung als Heilerziehungspflege-rin. Ab Februar 2001 war sie im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme beschäftigt. Sie erhielt ein Nettoarbeitsentgelt in Höhe von 2.052,75 DM. Auf die Auskunft des Maß-nahmeträgers wird verwiesen.
Mit Bescheid vom 20. November 2000 lehnte die Beklagte berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation ab. Die Klägerin könne weiterhin uneingeschränkt als Heilerziehungspflege-rin arbeiten. Dagegen erhob die Klägerin am 5. Dezember 2000 Widerspruch. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens bot die Beklagte der Klägerin medizinische Leistungen zur Rehabilitation an. Die Klägerin stimmte dem am 15. Mai 2001 zu.
Mit Bescheid vom 18. Juni 2001 bewilligte die Beklagte der Klägerin medizinische Leis-tungen zur Rehabilitation für die Dauer von voraussichtlich vier Wochen. Für in Anspruch genommene stationäre Leistungen habe sie eine Zuzahlung von 17,- DM für jeden Kalen-dertag zu leisten. Die Zahlungen seien in der Behandlungsstätte zu entrichten. Die Voraus-setzungen für eine Zuzahlungsbefreiung seien in den beigefügten Hinweisen angegeben.
Die stationären medizinischen Leistungen zur Rehabilitation wurden im Jahr 2001 er-bracht. Wegen der weiteren Einzelheiten insoweit wird auf den Ärztlichen Entlassungsbe-richt verwiesen (Blatt 26ff der Verwaltungsakte - medizinischer Teil). Zuzahlungen hierfür leistete die Klägerin bisher nicht.
Am 11. Juli 2001 beantragte die Klägerin die Befreiung von der Zuzahlung und die Über-nahme ihrer Reisekosten für die o.g. Rehabilitationsmaßnahme.
Mit Bescheid vom 14. August 2001 lehnte die Beklagte den Antrag auf Befreiung von der Zuzahlung ab. Denn die Klägerin habe nicht monatliche Netto-Einnahmen unter 2.040,- DM. Die Erstattung der Fahrkosten für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel erfolge.
Dagegen erhob die Klägerin am 24. August 2001 Widerspruch. Sie sei nicht bereit, die Zuzahlung zu leisten. Denn die Kur sei von der Beklagten angeordnet worden, um die me-dizinischen Voraussetzungen für die eigentlich begehrten berufsfördernden Leistungen zu klären. Für diese Klärung sei die Kur nicht erforderlich gewesen. Deren Durchführung habe sie nur zur Vermeidung von Nachteilen bei der Entscheidung über ihren Widerspruch gegen die Ablehnung der gewünschten Umschulung zur Heilpädagogin zugestimmt. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei unzumutbar gewesen.
Am 9. Oktober 2001 wies die Beklagte der Klägerin Reisekosten in Höhe von 600,26 DM, abzüglich bereits erstatteter Beträge in Höhe von 180,10 DM, zur Zahlung an.
Mit Bescheid vom 29. Januar 2002 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zu-rück, soweit ihm nicht abgeholfen wurde. Die Zuzahlungspflicht bestehe. Denn die Kläge-rin habe sich mit der Durchführung der medizinischen Leistungen einverstanden erklärt. Eine Befreiung sei ausgeschlossen. Denn die Klägerin werde durch die Zuzahlung nicht unzumutbar belastet. Der maßgebende Grenzwert (im Jahr 2001 monatlich 1.792,- DM) sei überschritten worden.
Hiergegen richtet sich die Klage vom 1. März 2002.
Die Beklagte legte eine Mehrfertigung der Richtlinien für die Befreiung von der Zuzahlung bei medizinischen und sonstigen Leistungen zur Rehabilitation vom 6. Dezember 2001 (nachfolgend: Zuzahlungsrichtlinien) in Kraft ab 01.01.2002 vor. Auf deren Inhalt wird verwiesen (Blatt 60f der Gerichtsakte).
Mit Schreiben vom 20. September 2002 teilte der Bevollmächtigte der Klägerin dem Ge-richt mit, er habe Kenntnis von dem schwerbehinderten Sohn der Klägerin und der Einstel-lung einer Ersatzkraft für deren selbständigen Ehemann für die Dauer ihrer Rehabilitation erhalten. Die Klagebegründung müsse daher überarbeitet werden.
Die Klägerin ist der Auffassung, die Zuzahlung stelle eine unzumutbare Härte dar. Diese beruhe auf einer finanziellen Mehrbelastung durch die Betreuung ihres Sohnes und betrieb-lichen Ausfallzeiten ihres Ehemannes während ihres Kuraufenthaltes. Denn die Behinde-rung ihres Sohnes erfordere die ständige Anwesenheit eines Erwachsenen. Dies gelte ins-besondere im Sommer. Ihr damals selbständig tätiger Mann habe seine Schwester kurzfris-tig beschäftigt. Sie habe dessen auswärtigen Bürobetrieb jeweils montags und mittwochs abgesichert. Dafür habe er ihr einen Stundenlohn von 12,- DM gezahlt. Auf den Arbeits-vertrag vom 16. Juli 2001 sowie die Zahlungsbelege vom 30. Juli und 13. August 2001 über jeweils 288,- DM werde verwiesen (zB Blatt 101f der Gerichtsakte). Diese Umstände habe die Klägerin mangels Kenntnis der Entscheidungserheblichkeit bisher nicht vorgetra-gen. Die Beklagte dürfe über die Zuzahlungsbefreiung nicht nur nach dem Wortlaut ihrer Richtlinien entscheiden. Vielmehr habe sie unter Berücksichtigung der konkreten besonde-ren Härte eine Ermessensentscheidung zu treffen. Auf die Entscheidung des Bundessozial-gerichts (BSG) vom 3. Februar 1988 - 5/5b RJ 46/87 - SozR 2200 § 1243 Nr. 7 werde in-soweit verwiesen. An einer derartigen Entscheidung fehle es hier. Wegen der weiteren Einzelheiten zum Vorstehenden wird insbesondere auf den Vortrag der Klägerin und deren als Beistand erschienenen Ehemann im Termin zur mündlichen Verhandlung verwiesen.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14. August 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Januar 2002 zu verpflichten, die Klägerin von den Zuzahlungen für die Leistungen zur stationären medizinischen Rehabilitation entsprechend des Bescheides vom 18. Juni 2001 zu befreien.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die angefochtenen Entscheidungen seien rechtmäßig. Die Träger der Rentenversicherung haben zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen Zuzahlungen unzumutbar belasten würden. Von dieser Bestimmungsermächtigung habe sie pflichtgemäß mit Zuzahlungs-richtlinien Gebrauch gemacht. Nach diesen Richtlinien sei eine Befreiung der Klägerin von der Zuzahlung ausgeschlossen. Sie sei daher verpflichtet, die Zuzahlung von 17,- DM (8,69 EUR) pro Kalendertag, insgesamt 243,32 EUR, zu leisten.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet. Die angefochtenen Entscheidungen sind rechtmäßig. Die Klägerin ist zur Zuzahlung für die erbrachten stationären medizinischen Leistungen zur Rehabilitation verpflichtet. Die Beklagte hat zu Recht eine Befreiung hiervon abge-lehnt.
Zwischen den Beteiligten steht die Pflicht der Klägerin zur Zahlung von 17,- DM (nun-mehr: 8,69 EUR) für jeden Kalendertag der 2001 erbrachten Rehabilitationsleistungen bindend im Sinne des § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) fest. Dies ergibt sich aus dem Bescheid vom 18. Juni 2001. Widerspruch wurde dagegen nicht erhoben.
Eine Befreiung hiervon hat die Beklagte zu Recht abgelehnt. Nach § 32 Abs. 4 Sozialge-setzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) in der vom 1. Januar 1997 bis 30. Juni 2001 geltenden Fassung bestimmt der Träger der Rentenversicherung, unter welchen Voraussetzungen von der Zuzahlung nach (§ 32) Abs. 1 oder 2 abgesehen werden kann, wenn sie den Versicher-ten oder den Rentner unzumutbar belasten würde. Die Geltung des bis zum 30. Juni 2001 geltenden Rechts beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 301 Abs. 1 Satz 1 SGB VI, vgl. hierzu zB BSG, Urteil vom 21. Juni 2000 - B 4 RA 52/99 R - SozR 3-2600 § 301 Nr. 3. Denn die Zustimmung der Klägerin zur Erbringung der o.g. Leistungen gilt nach § 115 Abs. 4 Satz 2 SGB VI als Antrag auf Leistungen zur Rehabilitation.
Die Beklagte ist nach § 127 Nr. 2 SGB VI ein Träger der Rentenversicherung. Von der o.g. Ermächtigung hat sie durch den Beschluss von Zuzahlungsrichtlinien Gebrauch gemacht. Anwendbar sind hier die Zuzahlungsrichtlinien in der Fassung des Beschlusses der Vertre-terversammlung der Beklagten vom 4. Dezember 1997 (nachfolgend: Zuzahlungsrichtli-nien 1997), veröffentlicht zB in Richtlinien der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte für Leistungen zur Rehabilitation, 6. Auflage, Juli 2000, Seite 21f. Die Zuzahlungsrichtli-nien in der Fassung des Beschlusses vom 6. Dezember 2001 sind hier nicht anwendbar. Sie gelten erst für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2002.
Die hier anwendbaren Zuzahlungsrichtlinien 1997 unterscheiden u.a. zwischen einer Be-freiung von Amts wegen (§ 1) und einer Befreiung auf Antrag (§ 2). Für eine Befreiung von Amts wegen liegen keine Anhaltspunkte vor.
Nach § 2 Abs. 1 Spiegelstrich 1 der Zuzahlungsrichtlinien 1997 werden auf Antrag von der Zuzahlungspflicht vollständig befreit Versicherte / Rentner, deren monatliches Netto-Erwerbseinkommen oder deren Erwerbsersatzeinkommen 40% der monatlichen Bezugs-größe nach § 18 Abs. 1 SGB Viertes Buch (IV) nicht übersteigt. Die Klägerin hatte im Ap-ril (Juni?) 2001 ein entsprechendes Einkommen (Arbeitsentgelt im Sinne des § 14 SGB IV) von über 2000,00 DM. Der o.g. Grenzbetrag betrug im Jahr 2001 1792,- DM (40% von 4480,00 DM, vgl. Sozialversicherungswerte, abgedruckt zB im Aichberger - SGB unter 4/11). Somit scheidet eine vollständige Befreiung aus. Denn die Voraussetzungen der an-deren (beiden) Alternativen des § 2 Abs. 1 der Zuzahlungsrichtlinien 1997 sind ebenso nicht gegeben.
Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 der Zuzahlungsrichtlinien 1997 kommt eine teilweise Befreiung gemäß der Zuzahlungstabelle der Rentenversicherungsträger in der jeweils geltenden Fas-sung in Betracht für Versicherte (§ 24 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI), die weitere bestimmte Vor-aussetzungen erfüllen, sowie für die übrigen Versicherten (§ 24 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI). Sie hat nach Satz 2 der o.g. Vorschrift zu erfolgen, wenn der Unterschiedsbetrag zwischen den tatsächlichen Netto-Einnahmen und einem fiktiv errechneten Übergangsgeld (§ 24 Abs. 1 SGB VI) den Zuzahlungsbetrag nach § 32 Abs. 1 Satz 1 bzw. Satz 2 SGB VI täglich nicht erreicht. Der die Zuzahlung bestimmende Differenzbetrag ist auf volle DM abzurunden (Satz 3). Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen sind zusammenzurechnen (Satz 4).
Die Klägerin ist Versicherte im Sinne des § 24 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI (ebenso in der bis zum 30. Juni 2001 geltenden Fassung). Denn sie hat ein Kind im Sinne des § 46 Abs. 2 SGB VI. Für sie gilt somit die Zuzahlungstabelle für Versicherte mit einem (fiktiven) Ü-bergangsgeld in Höhe von 75 vom Hundert (statt 68 vom Hundert für die übrigen Versi-cherten).
Nach der für die Klägerin somit anwendbaren Zuzahlungstabelle für 2001 ergeben sich folgende Zuzahlungsbeträge, vgl. zB Blatt 26 der Verwaltungsakte oder www.deutsche-rentenversicherung.de:
monatliches Nettoeinkommen in DM tägliche Zuzahlung in DM bis 1.792,- keine ab 1.793,- 14,- ab 1.800,- 15,- ab 1920,- 16,- ab 2.040,- 17,-
Aufgrund des monatlichen Nettoarbeitsentgeltes in Höhe von 2.052,75 DM scheidet eine Befreiung nach § 2 Abs. 2 der Zuzahlungsrichtlinien 1997 aus. Weitere Befreiungstatbe-stände sehen diese Richtlinien nicht vor.
In der Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob die Zuzahlungsrichtlinien für sämtli-che Konstellationen abschließend gelten oder darüber hinaus besondere Umstände des Ein-zelfalles zu berücksichtigen sind. Die letzte Entscheidung des BSG hierzu ist vom 3. Feb-ruar 1988 - 5/5b RJ 46/87 - aaO, soweit bekannt. Danach darf "der Versicherungsträger ... nicht schematisch vorgehen, vielmehr muß er bei der von ihm im Einzelfall zu treffenden Ermessensentscheidung dem Individualisierungsgebot des § 33 SGB 1 (Erstes Buch - I) Rechnung tragen." Der 11a Senat des BSG habe bereits "ausgeführt, ob eine Zuzahlung den Versicherten unzumutbar belaste und eine Härte für ihn sei, hänge wesentlich von sei-ner wirtschaftlichen Situation ab. Diese wird bestimmt von unvermeidbaren Mehrbelastun-gen, die sich aus schweren Erkrankungen mit ihren Folgen ergeben. Sie gehören zu seinen ‚persönlichen Verhältnissen’ im Sinne des § 33 SGB I, erhöhen seinen Bedarf und schrän-ken seine Leistungsfähigkeit ein." Die damals geltenden Zuzahlungsrichtlinien sahen aller-dings die Maßgeblichkeit der "verfügbaren Einnahmen zum Lebensunterhalt vor". Ein-nahmen des Ehegatten wurden hinzugerechnet. Insoweit sind die damals und seit Januar 1994 geltenden Zuzahlungsrichtlinien nicht miteinander vergleichbar. Aus diesem Grund hält zB Lilge in: SGB - Sozialversicherung - Gesamtkommentar, Band 3 b, SGB VI - Kommentar, herausgegeben und bearbeitet von Lilge, Stand August 1999, § 32 unter 8.1) diese Rechtsprechung nicht (mehr) für anwendbar. Im Ergebnis ebenso zB Landessozialge-richt für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. November 1999 - L 4 RA 36/99 - JURIS: "Die Richtlinien als norminterpretierende Verwaltungsvorschriften zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der unzumutbaren Belastung genügen dem Sinn und Zweck der Ermächtigung des § 32 Abs. 4 SGB VI." Weitere Entscheidungen hierzu sind der Kammer nicht bekannt.
Nach Auffassung der Kammer sind bei der Entscheidung der Beklagten nach § 32 Abs. 4 SGB VI u.a. die persönlichen Verhältnisse des Verpflichteten und seine Leistungsfähigkeit nach § 33 Satz 1 SGB I zu berücksichtigen. Zur gleichheitskonformen Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffes "unzumutbar" kann (und muss) sich die Beklagte auf eine richtliniengestützte Praxis stützen. Diese Richtlinien gelten nur für den Regelfall. Sie müs-sen für die Berücksichtigung der Besonderheiten atypischer Fälle Spielraum lassen. Die Unzumutbarkeit einer Zuzahlung hängt dabei im wesentlichen von der wirtschaftlichen Situation des Verpflichteten ab. Diese Auffassung vertreten (im Ergebnis) ebenso zB Hauck in: Hauck/Noftz, SGB - Gesamtkommentar, SGB VI, Band 1, K 32 Rn 11; KassKomm-Niesel, Band 1, Stand: September 2005, § 32 SGB VI Rn 15 sowie Rechts-handbuch Rehabilitation, herausgegeben von der Beklagten, § 32 SGB VI unter 8.3.2.
Selbst unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist die Klägerin von den o.g. Zuzahlungen nicht zu befreien. Dabei bedarf es hier keiner Entscheidung, ob eine Befreiung wegen eines atypischen Falles bereits mangels Möglichkeit einer entsprechender Kenntnisnahme der Beklagten von den entsprechenden Tatsachen vor Erlass (Bekanntgabe) der angefochtenen Entscheidungen ausscheidet. Dafür könnte sprechen, daß die Klägerin erstmals im gericht-lichen Verfahren Tatsachen für eine individuelle Prüfung vorgetragen hat. Zuvor be-schränkte sich ihr Einwand auf nicht entscheidungserhebliche Umstände ("aufgedrängte Rehabilitationsmaßnahme"). Andererseits bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß die Beklagte die Klägerin auf die Berücksichtigungsfähigkeit besonderer und nach den Zuzah-lungsrichtlinien nicht entscheidender Umstände hingewiesen hat. Ungeachtet dieser (ver-fahrensrechtlichen) Problematik bewirkt die o.g. Zuzahlungsverpflichtung bei der Klägerin keine wirtschaftliche oder sonstige Härte, die die Annahme eines atypischen Falles im o.g. Sinne rechtfertigen könnte.
Die einzigen objektivierbaren Mehrausgaben, die insoweit dem Grunde nach berücksichti-gungsfähig sein könnten, sind die Aufwendungen für die Schwester des Ehemannes der Klägerin für deren Aushilfstätigkeit. Diese Aufwendungen sind nicht der Klägerin, sondern deren Ehemann entstanden. Für die Zuzahlungsbefreiung sind jedoch nicht dessen, sondern die Verhältnisse der Klägerin entscheidend. Die Leistungsfähigkeit des Ehegatten ist in-soweit unerheblich. Dies ergibt sich ohne weiteres aus § 34 Abs. 4 SGB VI, "den Versi-cherten ... unzumutbar belasten würde". Dessen ungeachtet hätte der Ehemann diese Auf-wendungen bei der Ermittlung seines Arbeitseinkommens geltend machen können. Dies ist nach dessen Angaben unterblieben, weil er die Beschäftigung seiner Schwester zur Ver-meidung von steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Nachteilen nicht gemeldet habe. Der Sache nach habe es sich um Schwarzarbeit gehandelt. Inwieweit dies zutreffend ist, bedarf hier keiner Entscheidung und weiteren Erörterungen. Es bedarf jedoch einer gewissen kriminellen Energie, diese Vermeidung von Nachteilen zur Begründung eines begehrten Vorteils zu verwenden. Insoweit bestehen Anhaltspunkte für ein vorsätzliches und ggf. strafrechtlich relevantes Verhalten. Mangels Entscheidungserheblichkeit sind je-doch weitere Ausführungen hierzu entbehrlich. Die Aussetzung des Verfahrens nach § 114 Abs. 3 SGG schied insoweit jedenfalls aus. Denn evtl. Ermittlungen im Strafverfahren hät-ten keinen Einfluß auf die Entscheidung des Gerichts gehabt. Im übrigen ist eine Verjäh-rung der in Betracht kommenden Straftaten nicht ausgeschlossen.
Selbst wenn die o.g. Aufwendungen ungeachtet des Vorstehenden als unvermeidbare Mehrbelastungen berücksichtigt würden, bestünde keine Unzumutbarkeit der Zuzahlungen. Ausgehend von dieser Konstruktion ist zunächst weiter zu differenzieren. Denn die geltend gemachten Ausgaben für die Vergütung der Aushilfsbeschäftigten wären dann ebenso wie die Einnahmen nur auf einen Kalendermonat bezogen anzurechnen. Somit handelt es sich um einen Betrag von monatlich 288,- DM. Wenn diese Ausgaben als Mehrbelastungen der Familie Berücksichtigung finden sollen, wäre folgerichtig ebenso das monatliche Ein-kommen des Ehemannes der Klägerin (evtl. sogar des Sohnes der Klägerin, mithin der Familie) heranzuziehen. Dieses ist weder mitgeteilt worden noch bekannt. Somit könnte der o.g. Betrag auf die Ehegatten nur gleichmäßig aufgeteilt werden. Danach bleiben für die Klägerin 144,- DM "rehabilitationsbedingte Mehrbelastung" monatlich. Dem steht ein monatliches Nettoarbeitsentgelt von reichlich 2000,- DM gegenüber. Darüber hinaus hat sie aufgrund der erbrachten stationären medizinischen Leistungen eigene Aufwendungen erspart. Denn "Aufgabe der Zuzahlung ... war bereits bei Einführung der entsprechenden Regelungen ... den Versicherten im Rahmen einer besonderen Art von Kostenbeteiligung zum Ausgleich von Vorteilen heranzuziehen, die ihm durch die gewährte Sachleistung über diesen Zweck hinaus erwachsen ... Auf diese Weise soll dem Umstand Rechnung getragen werden, daß der Versicherte während der stationären Heilbehandlung durch die regelmäßig vorliegende Ersparnis von Aufwendungen für seine häusliche Lebenshaltung ..., mit Erhalt der vollkostenfreien Vorleistung durch den Träger eine rechtsgrundlose Vermögensvermehrung erfährt ..., deren pauschaler Geldwert durch den Zuzahlungsan-spruch abgeschöpft wird ...", vgl. BSG, Urteil vom 21. Juni 2000 - B 4 RA 52/99 R - aaO und mwN. Weiterhin hat die Beklagte der Klägerin Reisekosten in Höhe von 600,26 DM im Zusammenhang mit o.g. Leistungen erbracht, die deren Aufwendungen hierfür zumin-dest ausgeglichen haben. Somit konnte sich die Kammer auch nach Würdigung der vorge-nannten Umstände nicht andeutungsweise von einer wirtschaftlich oder aus sonstigen Gründen bedingten Härte bei der Klägerin durch die von der Beklagten geforderten Zuzahlung überzeugen.
Soweit die Leistung der Zuzahlung für die Klägerin aufgrund ihrer derzeitigen persönli-chen und wirtschaftlichen Situation unzumutbar sein sollte, steht es ihr frei, bei der Beklagten zB eine Ratenzahlung oder Stundung zu beantragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Die Zulassung der Berufung beruht auf § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Denn zu den seit 1994 beschlossenen Zuzahlungsrichtlinien der Beklagten und den insoweit bestehenden Rechts-fragen liegen keine höchstrichterlichen Entscheidungen vor, soweit bekannt.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über eine Befreiung der Klägerin von einem Anspruch auf Zuzahlung zu den Kosten stationär erbrachter medizinischer Leistungen zur Rehabilitation.
Die 1964 geborene Klägerin ist verheiratet. Ihre zwei Kinder sind 1984 (Tochter) und 1985 geboren (Sohn). Der Sohn ist seit der Geburt behindert. Ihm fehlen die Schweiß-, Talg-, Speichel- und Schleimdrüsen, sog. Christ-Siemens-Touraine-Syndrom, siehe hierzu zB Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch. Ein Grad der Behinderung von 80 und die Voraus-setzungen für das Merkzeichen G sind anerkannt.
Die Klägerin absolvierte in den 1990’er Jahren eine Umschulung als Heilerziehungspflege-rin. Ab Februar 2001 war sie im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme beschäftigt. Sie erhielt ein Nettoarbeitsentgelt in Höhe von 2.052,75 DM. Auf die Auskunft des Maß-nahmeträgers wird verwiesen.
Mit Bescheid vom 20. November 2000 lehnte die Beklagte berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation ab. Die Klägerin könne weiterhin uneingeschränkt als Heilerziehungspflege-rin arbeiten. Dagegen erhob die Klägerin am 5. Dezember 2000 Widerspruch. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens bot die Beklagte der Klägerin medizinische Leistungen zur Rehabilitation an. Die Klägerin stimmte dem am 15. Mai 2001 zu.
Mit Bescheid vom 18. Juni 2001 bewilligte die Beklagte der Klägerin medizinische Leis-tungen zur Rehabilitation für die Dauer von voraussichtlich vier Wochen. Für in Anspruch genommene stationäre Leistungen habe sie eine Zuzahlung von 17,- DM für jeden Kalen-dertag zu leisten. Die Zahlungen seien in der Behandlungsstätte zu entrichten. Die Voraus-setzungen für eine Zuzahlungsbefreiung seien in den beigefügten Hinweisen angegeben.
Die stationären medizinischen Leistungen zur Rehabilitation wurden im Jahr 2001 er-bracht. Wegen der weiteren Einzelheiten insoweit wird auf den Ärztlichen Entlassungsbe-richt verwiesen (Blatt 26ff der Verwaltungsakte - medizinischer Teil). Zuzahlungen hierfür leistete die Klägerin bisher nicht.
Am 11. Juli 2001 beantragte die Klägerin die Befreiung von der Zuzahlung und die Über-nahme ihrer Reisekosten für die o.g. Rehabilitationsmaßnahme.
Mit Bescheid vom 14. August 2001 lehnte die Beklagte den Antrag auf Befreiung von der Zuzahlung ab. Denn die Klägerin habe nicht monatliche Netto-Einnahmen unter 2.040,- DM. Die Erstattung der Fahrkosten für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel erfolge.
Dagegen erhob die Klägerin am 24. August 2001 Widerspruch. Sie sei nicht bereit, die Zuzahlung zu leisten. Denn die Kur sei von der Beklagten angeordnet worden, um die me-dizinischen Voraussetzungen für die eigentlich begehrten berufsfördernden Leistungen zu klären. Für diese Klärung sei die Kur nicht erforderlich gewesen. Deren Durchführung habe sie nur zur Vermeidung von Nachteilen bei der Entscheidung über ihren Widerspruch gegen die Ablehnung der gewünschten Umschulung zur Heilpädagogin zugestimmt. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei unzumutbar gewesen.
Am 9. Oktober 2001 wies die Beklagte der Klägerin Reisekosten in Höhe von 600,26 DM, abzüglich bereits erstatteter Beträge in Höhe von 180,10 DM, zur Zahlung an.
Mit Bescheid vom 29. Januar 2002 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zu-rück, soweit ihm nicht abgeholfen wurde. Die Zuzahlungspflicht bestehe. Denn die Kläge-rin habe sich mit der Durchführung der medizinischen Leistungen einverstanden erklärt. Eine Befreiung sei ausgeschlossen. Denn die Klägerin werde durch die Zuzahlung nicht unzumutbar belastet. Der maßgebende Grenzwert (im Jahr 2001 monatlich 1.792,- DM) sei überschritten worden.
Hiergegen richtet sich die Klage vom 1. März 2002.
Die Beklagte legte eine Mehrfertigung der Richtlinien für die Befreiung von der Zuzahlung bei medizinischen und sonstigen Leistungen zur Rehabilitation vom 6. Dezember 2001 (nachfolgend: Zuzahlungsrichtlinien) in Kraft ab 01.01.2002 vor. Auf deren Inhalt wird verwiesen (Blatt 60f der Gerichtsakte).
Mit Schreiben vom 20. September 2002 teilte der Bevollmächtigte der Klägerin dem Ge-richt mit, er habe Kenntnis von dem schwerbehinderten Sohn der Klägerin und der Einstel-lung einer Ersatzkraft für deren selbständigen Ehemann für die Dauer ihrer Rehabilitation erhalten. Die Klagebegründung müsse daher überarbeitet werden.
Die Klägerin ist der Auffassung, die Zuzahlung stelle eine unzumutbare Härte dar. Diese beruhe auf einer finanziellen Mehrbelastung durch die Betreuung ihres Sohnes und betrieb-lichen Ausfallzeiten ihres Ehemannes während ihres Kuraufenthaltes. Denn die Behinde-rung ihres Sohnes erfordere die ständige Anwesenheit eines Erwachsenen. Dies gelte ins-besondere im Sommer. Ihr damals selbständig tätiger Mann habe seine Schwester kurzfris-tig beschäftigt. Sie habe dessen auswärtigen Bürobetrieb jeweils montags und mittwochs abgesichert. Dafür habe er ihr einen Stundenlohn von 12,- DM gezahlt. Auf den Arbeits-vertrag vom 16. Juli 2001 sowie die Zahlungsbelege vom 30. Juli und 13. August 2001 über jeweils 288,- DM werde verwiesen (zB Blatt 101f der Gerichtsakte). Diese Umstände habe die Klägerin mangels Kenntnis der Entscheidungserheblichkeit bisher nicht vorgetra-gen. Die Beklagte dürfe über die Zuzahlungsbefreiung nicht nur nach dem Wortlaut ihrer Richtlinien entscheiden. Vielmehr habe sie unter Berücksichtigung der konkreten besonde-ren Härte eine Ermessensentscheidung zu treffen. Auf die Entscheidung des Bundessozial-gerichts (BSG) vom 3. Februar 1988 - 5/5b RJ 46/87 - SozR 2200 § 1243 Nr. 7 werde in-soweit verwiesen. An einer derartigen Entscheidung fehle es hier. Wegen der weiteren Einzelheiten zum Vorstehenden wird insbesondere auf den Vortrag der Klägerin und deren als Beistand erschienenen Ehemann im Termin zur mündlichen Verhandlung verwiesen.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14. August 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Januar 2002 zu verpflichten, die Klägerin von den Zuzahlungen für die Leistungen zur stationären medizinischen Rehabilitation entsprechend des Bescheides vom 18. Juni 2001 zu befreien.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die angefochtenen Entscheidungen seien rechtmäßig. Die Träger der Rentenversicherung haben zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen Zuzahlungen unzumutbar belasten würden. Von dieser Bestimmungsermächtigung habe sie pflichtgemäß mit Zuzahlungs-richtlinien Gebrauch gemacht. Nach diesen Richtlinien sei eine Befreiung der Klägerin von der Zuzahlung ausgeschlossen. Sie sei daher verpflichtet, die Zuzahlung von 17,- DM (8,69 EUR) pro Kalendertag, insgesamt 243,32 EUR, zu leisten.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet. Die angefochtenen Entscheidungen sind rechtmäßig. Die Klägerin ist zur Zuzahlung für die erbrachten stationären medizinischen Leistungen zur Rehabilitation verpflichtet. Die Beklagte hat zu Recht eine Befreiung hiervon abge-lehnt.
Zwischen den Beteiligten steht die Pflicht der Klägerin zur Zahlung von 17,- DM (nun-mehr: 8,69 EUR) für jeden Kalendertag der 2001 erbrachten Rehabilitationsleistungen bindend im Sinne des § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) fest. Dies ergibt sich aus dem Bescheid vom 18. Juni 2001. Widerspruch wurde dagegen nicht erhoben.
Eine Befreiung hiervon hat die Beklagte zu Recht abgelehnt. Nach § 32 Abs. 4 Sozialge-setzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) in der vom 1. Januar 1997 bis 30. Juni 2001 geltenden Fassung bestimmt der Träger der Rentenversicherung, unter welchen Voraussetzungen von der Zuzahlung nach (§ 32) Abs. 1 oder 2 abgesehen werden kann, wenn sie den Versicher-ten oder den Rentner unzumutbar belasten würde. Die Geltung des bis zum 30. Juni 2001 geltenden Rechts beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 301 Abs. 1 Satz 1 SGB VI, vgl. hierzu zB BSG, Urteil vom 21. Juni 2000 - B 4 RA 52/99 R - SozR 3-2600 § 301 Nr. 3. Denn die Zustimmung der Klägerin zur Erbringung der o.g. Leistungen gilt nach § 115 Abs. 4 Satz 2 SGB VI als Antrag auf Leistungen zur Rehabilitation.
Die Beklagte ist nach § 127 Nr. 2 SGB VI ein Träger der Rentenversicherung. Von der o.g. Ermächtigung hat sie durch den Beschluss von Zuzahlungsrichtlinien Gebrauch gemacht. Anwendbar sind hier die Zuzahlungsrichtlinien in der Fassung des Beschlusses der Vertre-terversammlung der Beklagten vom 4. Dezember 1997 (nachfolgend: Zuzahlungsrichtli-nien 1997), veröffentlicht zB in Richtlinien der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte für Leistungen zur Rehabilitation, 6. Auflage, Juli 2000, Seite 21f. Die Zuzahlungsrichtli-nien in der Fassung des Beschlusses vom 6. Dezember 2001 sind hier nicht anwendbar. Sie gelten erst für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2002.
Die hier anwendbaren Zuzahlungsrichtlinien 1997 unterscheiden u.a. zwischen einer Be-freiung von Amts wegen (§ 1) und einer Befreiung auf Antrag (§ 2). Für eine Befreiung von Amts wegen liegen keine Anhaltspunkte vor.
Nach § 2 Abs. 1 Spiegelstrich 1 der Zuzahlungsrichtlinien 1997 werden auf Antrag von der Zuzahlungspflicht vollständig befreit Versicherte / Rentner, deren monatliches Netto-Erwerbseinkommen oder deren Erwerbsersatzeinkommen 40% der monatlichen Bezugs-größe nach § 18 Abs. 1 SGB Viertes Buch (IV) nicht übersteigt. Die Klägerin hatte im Ap-ril (Juni?) 2001 ein entsprechendes Einkommen (Arbeitsentgelt im Sinne des § 14 SGB IV) von über 2000,00 DM. Der o.g. Grenzbetrag betrug im Jahr 2001 1792,- DM (40% von 4480,00 DM, vgl. Sozialversicherungswerte, abgedruckt zB im Aichberger - SGB unter 4/11). Somit scheidet eine vollständige Befreiung aus. Denn die Voraussetzungen der an-deren (beiden) Alternativen des § 2 Abs. 1 der Zuzahlungsrichtlinien 1997 sind ebenso nicht gegeben.
Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 der Zuzahlungsrichtlinien 1997 kommt eine teilweise Befreiung gemäß der Zuzahlungstabelle der Rentenversicherungsträger in der jeweils geltenden Fas-sung in Betracht für Versicherte (§ 24 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI), die weitere bestimmte Vor-aussetzungen erfüllen, sowie für die übrigen Versicherten (§ 24 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI). Sie hat nach Satz 2 der o.g. Vorschrift zu erfolgen, wenn der Unterschiedsbetrag zwischen den tatsächlichen Netto-Einnahmen und einem fiktiv errechneten Übergangsgeld (§ 24 Abs. 1 SGB VI) den Zuzahlungsbetrag nach § 32 Abs. 1 Satz 1 bzw. Satz 2 SGB VI täglich nicht erreicht. Der die Zuzahlung bestimmende Differenzbetrag ist auf volle DM abzurunden (Satz 3). Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen sind zusammenzurechnen (Satz 4).
Die Klägerin ist Versicherte im Sinne des § 24 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI (ebenso in der bis zum 30. Juni 2001 geltenden Fassung). Denn sie hat ein Kind im Sinne des § 46 Abs. 2 SGB VI. Für sie gilt somit die Zuzahlungstabelle für Versicherte mit einem (fiktiven) Ü-bergangsgeld in Höhe von 75 vom Hundert (statt 68 vom Hundert für die übrigen Versi-cherten).
Nach der für die Klägerin somit anwendbaren Zuzahlungstabelle für 2001 ergeben sich folgende Zuzahlungsbeträge, vgl. zB Blatt 26 der Verwaltungsakte oder www.deutsche-rentenversicherung.de:
monatliches Nettoeinkommen in DM tägliche Zuzahlung in DM bis 1.792,- keine ab 1.793,- 14,- ab 1.800,- 15,- ab 1920,- 16,- ab 2.040,- 17,-
Aufgrund des monatlichen Nettoarbeitsentgeltes in Höhe von 2.052,75 DM scheidet eine Befreiung nach § 2 Abs. 2 der Zuzahlungsrichtlinien 1997 aus. Weitere Befreiungstatbe-stände sehen diese Richtlinien nicht vor.
In der Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob die Zuzahlungsrichtlinien für sämtli-che Konstellationen abschließend gelten oder darüber hinaus besondere Umstände des Ein-zelfalles zu berücksichtigen sind. Die letzte Entscheidung des BSG hierzu ist vom 3. Feb-ruar 1988 - 5/5b RJ 46/87 - aaO, soweit bekannt. Danach darf "der Versicherungsträger ... nicht schematisch vorgehen, vielmehr muß er bei der von ihm im Einzelfall zu treffenden Ermessensentscheidung dem Individualisierungsgebot des § 33 SGB 1 (Erstes Buch - I) Rechnung tragen." Der 11a Senat des BSG habe bereits "ausgeführt, ob eine Zuzahlung den Versicherten unzumutbar belaste und eine Härte für ihn sei, hänge wesentlich von sei-ner wirtschaftlichen Situation ab. Diese wird bestimmt von unvermeidbaren Mehrbelastun-gen, die sich aus schweren Erkrankungen mit ihren Folgen ergeben. Sie gehören zu seinen ‚persönlichen Verhältnissen’ im Sinne des § 33 SGB I, erhöhen seinen Bedarf und schrän-ken seine Leistungsfähigkeit ein." Die damals geltenden Zuzahlungsrichtlinien sahen aller-dings die Maßgeblichkeit der "verfügbaren Einnahmen zum Lebensunterhalt vor". Ein-nahmen des Ehegatten wurden hinzugerechnet. Insoweit sind die damals und seit Januar 1994 geltenden Zuzahlungsrichtlinien nicht miteinander vergleichbar. Aus diesem Grund hält zB Lilge in: SGB - Sozialversicherung - Gesamtkommentar, Band 3 b, SGB VI - Kommentar, herausgegeben und bearbeitet von Lilge, Stand August 1999, § 32 unter 8.1) diese Rechtsprechung nicht (mehr) für anwendbar. Im Ergebnis ebenso zB Landessozialge-richt für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. November 1999 - L 4 RA 36/99 - JURIS: "Die Richtlinien als norminterpretierende Verwaltungsvorschriften zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der unzumutbaren Belastung genügen dem Sinn und Zweck der Ermächtigung des § 32 Abs. 4 SGB VI." Weitere Entscheidungen hierzu sind der Kammer nicht bekannt.
Nach Auffassung der Kammer sind bei der Entscheidung der Beklagten nach § 32 Abs. 4 SGB VI u.a. die persönlichen Verhältnisse des Verpflichteten und seine Leistungsfähigkeit nach § 33 Satz 1 SGB I zu berücksichtigen. Zur gleichheitskonformen Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffes "unzumutbar" kann (und muss) sich die Beklagte auf eine richtliniengestützte Praxis stützen. Diese Richtlinien gelten nur für den Regelfall. Sie müs-sen für die Berücksichtigung der Besonderheiten atypischer Fälle Spielraum lassen. Die Unzumutbarkeit einer Zuzahlung hängt dabei im wesentlichen von der wirtschaftlichen Situation des Verpflichteten ab. Diese Auffassung vertreten (im Ergebnis) ebenso zB Hauck in: Hauck/Noftz, SGB - Gesamtkommentar, SGB VI, Band 1, K 32 Rn 11; KassKomm-Niesel, Band 1, Stand: September 2005, § 32 SGB VI Rn 15 sowie Rechts-handbuch Rehabilitation, herausgegeben von der Beklagten, § 32 SGB VI unter 8.3.2.
Selbst unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist die Klägerin von den o.g. Zuzahlungen nicht zu befreien. Dabei bedarf es hier keiner Entscheidung, ob eine Befreiung wegen eines atypischen Falles bereits mangels Möglichkeit einer entsprechender Kenntnisnahme der Beklagten von den entsprechenden Tatsachen vor Erlass (Bekanntgabe) der angefochtenen Entscheidungen ausscheidet. Dafür könnte sprechen, daß die Klägerin erstmals im gericht-lichen Verfahren Tatsachen für eine individuelle Prüfung vorgetragen hat. Zuvor be-schränkte sich ihr Einwand auf nicht entscheidungserhebliche Umstände ("aufgedrängte Rehabilitationsmaßnahme"). Andererseits bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß die Beklagte die Klägerin auf die Berücksichtigungsfähigkeit besonderer und nach den Zuzah-lungsrichtlinien nicht entscheidender Umstände hingewiesen hat. Ungeachtet dieser (ver-fahrensrechtlichen) Problematik bewirkt die o.g. Zuzahlungsverpflichtung bei der Klägerin keine wirtschaftliche oder sonstige Härte, die die Annahme eines atypischen Falles im o.g. Sinne rechtfertigen könnte.
Die einzigen objektivierbaren Mehrausgaben, die insoweit dem Grunde nach berücksichti-gungsfähig sein könnten, sind die Aufwendungen für die Schwester des Ehemannes der Klägerin für deren Aushilfstätigkeit. Diese Aufwendungen sind nicht der Klägerin, sondern deren Ehemann entstanden. Für die Zuzahlungsbefreiung sind jedoch nicht dessen, sondern die Verhältnisse der Klägerin entscheidend. Die Leistungsfähigkeit des Ehegatten ist in-soweit unerheblich. Dies ergibt sich ohne weiteres aus § 34 Abs. 4 SGB VI, "den Versi-cherten ... unzumutbar belasten würde". Dessen ungeachtet hätte der Ehemann diese Auf-wendungen bei der Ermittlung seines Arbeitseinkommens geltend machen können. Dies ist nach dessen Angaben unterblieben, weil er die Beschäftigung seiner Schwester zur Ver-meidung von steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Nachteilen nicht gemeldet habe. Der Sache nach habe es sich um Schwarzarbeit gehandelt. Inwieweit dies zutreffend ist, bedarf hier keiner Entscheidung und weiteren Erörterungen. Es bedarf jedoch einer gewissen kriminellen Energie, diese Vermeidung von Nachteilen zur Begründung eines begehrten Vorteils zu verwenden. Insoweit bestehen Anhaltspunkte für ein vorsätzliches und ggf. strafrechtlich relevantes Verhalten. Mangels Entscheidungserheblichkeit sind je-doch weitere Ausführungen hierzu entbehrlich. Die Aussetzung des Verfahrens nach § 114 Abs. 3 SGG schied insoweit jedenfalls aus. Denn evtl. Ermittlungen im Strafverfahren hät-ten keinen Einfluß auf die Entscheidung des Gerichts gehabt. Im übrigen ist eine Verjäh-rung der in Betracht kommenden Straftaten nicht ausgeschlossen.
Selbst wenn die o.g. Aufwendungen ungeachtet des Vorstehenden als unvermeidbare Mehrbelastungen berücksichtigt würden, bestünde keine Unzumutbarkeit der Zuzahlungen. Ausgehend von dieser Konstruktion ist zunächst weiter zu differenzieren. Denn die geltend gemachten Ausgaben für die Vergütung der Aushilfsbeschäftigten wären dann ebenso wie die Einnahmen nur auf einen Kalendermonat bezogen anzurechnen. Somit handelt es sich um einen Betrag von monatlich 288,- DM. Wenn diese Ausgaben als Mehrbelastungen der Familie Berücksichtigung finden sollen, wäre folgerichtig ebenso das monatliche Ein-kommen des Ehemannes der Klägerin (evtl. sogar des Sohnes der Klägerin, mithin der Familie) heranzuziehen. Dieses ist weder mitgeteilt worden noch bekannt. Somit könnte der o.g. Betrag auf die Ehegatten nur gleichmäßig aufgeteilt werden. Danach bleiben für die Klägerin 144,- DM "rehabilitationsbedingte Mehrbelastung" monatlich. Dem steht ein monatliches Nettoarbeitsentgelt von reichlich 2000,- DM gegenüber. Darüber hinaus hat sie aufgrund der erbrachten stationären medizinischen Leistungen eigene Aufwendungen erspart. Denn "Aufgabe der Zuzahlung ... war bereits bei Einführung der entsprechenden Regelungen ... den Versicherten im Rahmen einer besonderen Art von Kostenbeteiligung zum Ausgleich von Vorteilen heranzuziehen, die ihm durch die gewährte Sachleistung über diesen Zweck hinaus erwachsen ... Auf diese Weise soll dem Umstand Rechnung getragen werden, daß der Versicherte während der stationären Heilbehandlung durch die regelmäßig vorliegende Ersparnis von Aufwendungen für seine häusliche Lebenshaltung ..., mit Erhalt der vollkostenfreien Vorleistung durch den Träger eine rechtsgrundlose Vermögensvermehrung erfährt ..., deren pauschaler Geldwert durch den Zuzahlungsan-spruch abgeschöpft wird ...", vgl. BSG, Urteil vom 21. Juni 2000 - B 4 RA 52/99 R - aaO und mwN. Weiterhin hat die Beklagte der Klägerin Reisekosten in Höhe von 600,26 DM im Zusammenhang mit o.g. Leistungen erbracht, die deren Aufwendungen hierfür zumin-dest ausgeglichen haben. Somit konnte sich die Kammer auch nach Würdigung der vorge-nannten Umstände nicht andeutungsweise von einer wirtschaftlich oder aus sonstigen Gründen bedingten Härte bei der Klägerin durch die von der Beklagten geforderten Zuzahlung überzeugen.
Soweit die Leistung der Zuzahlung für die Klägerin aufgrund ihrer derzeitigen persönli-chen und wirtschaftlichen Situation unzumutbar sein sollte, steht es ihr frei, bei der Beklagten zB eine Ratenzahlung oder Stundung zu beantragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Die Zulassung der Berufung beruht auf § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Denn zu den seit 1994 beschlossenen Zuzahlungsrichtlinien der Beklagten und den insoweit bestehenden Rechts-fragen liegen keine höchstrichterlichen Entscheidungen vor, soweit bekannt.
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