L 2 U 84/03

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 69 U 847/99 W03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 84/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Oktober 2003 wird zurückgewiesen. Die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Herabsetzung der Gefahrklasse zur gesetzlichen Unfallversicherung für die Beitragsjahre 1996 und 1997.

Die Klägerin ist als Unternehmen der gewerblichen Arbeitnehmerüberlassung seit 1970 Mitglied der Beklagten. Auf der Grundlage des für die Jahre 1995 bis 1997 geltenden Gefahrtarifs (GT 1995) veranlagte die Beklagte die Klägerin mit Bescheid vom 27. Oktober 1995 hinsichtlich der kaufmännisch bzw. verwaltend tätigen Beschäftigten zur Gefahrtarifstelle 23 mit der Gefahrklasse 1,60 und hinsichtlich der sonstigen Beschäftigten zur Gefahrtarifstelle 24 mit der Gefahrklasse 12,80 für das Jahr 1995, mit der Gefahrklasse 15,80 für das Jahr 1996 und mit der Gefahrklasse 18,80 für die Jahre 1997 bis 1999. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein.

Unter Bezugnahme auf Teil II Nr. 2 des GT 1995, dessen Satz 1 lautet

"Ergibt sich in Einzelfällen, dass wegen einer von der üblichen erheblich abweichenden Betriebsweise die Unternehmen geringeren oder höheren Gefahren unterliegen als die, für die die Gefahrklasse im Teil I berechnet ist, so kann die Berufsgenossenschaft die Gefahrklasse um 10 bis 50 vom Hundert herabsetzen oder heraufsetzen."

beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 29. Juli 1996, die Gefahrklasse herabzusetzen, da sie ihren Betrieb gemäß dem Kriterienkatalog der Beklagten organisiert habe. In diesem "Kriterienkatalog für den ab 01.01.1995 geltenden Gefahrtarif" (Kriterienkatalog 1995) hatte die Beklagte als Voraussetzungen für die Herabsetzung der Gefahrklasse bei den zur Gefahrtarifstelle 24 zu veranlagenden Zeitarbeitsunternehmen nach Teil II Nr. 2 des GT 1995 genannt:

- die Einhaltung des sicherheitstechnischen Standards und - eine von der üblichen erheblich abweichende Betriebsweise und - eine deswegen wesentlich verringerte Unfallgefährdung.

Hierbei war als "Indiz" für eine erheblich abweichende Betriebsweise – unter alternativen Merkmalen – das Vorliegen einer "besonderen Arbeitsschutzorganisation" aufgeführt, deren Anforderungen im Anhang näher beschrieben waren.

Am 9. September 1996 schlossen die Beteiligten einen Vergleich, in dem sie u.a. vereinbarten, dass die Beklagte der Klägerin auf den auf 13.818,87 DM festgestellten Berufsgenossenschaftbeitrag für das Jahr 1995 eine Herabsetzung der Gefahrklasse um 20 v.H. sowie einen weiteren Erlass in Höhe von 17,5 v.H. gewährte. Von diesem Vergleich wurden die Rechtsmittel gegen den Veranlagungsbescheid für den laufenden Gefahrtarifzeitraum, soweit diese die Jahre 1996 bis 1999 betreffen, ausdrücklich ausgenommen.

Mit Bescheid vom 5. Mai 1998 lehnte die Beklagte die Herabsetzung der Gefahrklasse ab: Die Besichtigung des Betriebs durch den Technischen Aufsichtsdienst am 7. März 1997 habe ergeben, dass die Klägerin nicht einmal den sicherheitstechnischen Standard einhalte. Zudem habe sie die Vorgaben des Kriterienkatalogs 1995 für die Annahme einer besonderen Arbeitsschutzorganisation nicht erfüllt. Im Einzelnen bemängelte die Beklagte:

1. Entgegen der Unfallverhütungsvorschrift VBG 122 seien keine Fachkräfte für Arbeitssicherheit bestellt oder verpflichtet worden, 2. entgegen der Unfallverhütungsvorschrift VBG 109 seien keine ausgebildeten Ersthelfer bestellt worden, 3. entgegen § 11 Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) sei kein Arbeitsschutzausschuss gebildet worden, 4. Personalentscheidungsträger seien (in Bezug auf die rechtlichen Grundlagen und die Anwendung der Arbeitsschutzvorschriften in der Arbeitnehmerüberlassung) nicht ausgebildet worden, 5. die Unternehmensleitung habe an keinem Unternehmer-Seminar der Beklagten teilgenommen.

Ausschlaggebend sei vor allem das Fehlen einer adäquaten sicherheitstechnischen Betreuung des Unternehmens sowie des Personalentscheidungsträgers- und Unternehmerseminars.

Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch trug die Klägerin vor: Sie werde vom Sicherheitsbüro P betreut, das die Aufgaben einer Fachkraft für Arbeitssicherheit wahrnehme. Als Ersthelfer sei ein im Nachbarhaus residierender Unfallarzt bestimmt worden. Auch ein Arbeitsausschuss sei gebildet worden. Für Personalentscheidungen sei die Geschäftsführerin G zuständig, die am Seminar für Führungskräfte teilgenommen habe und ausreichend qualifiziert sei. Die Geschäftsführerin habe sich im Jahre 1997 zu einem Unternehmer-Seminar bei der Beklagten angemeldet, das jedoch schon ausgebucht gewesen sei. Deshalb habe sie das Seminar erst im Jahre 1998 absolvieren können.

Nachdem die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 24. September 1999 zurückgewiesen hatte, hat die Klägerin Klage erhoben: Der angefochtene Bescheid sei nicht ausreichend begründet, da die Beklagte die wesentlichen Gesichtspunkte, von denen sie bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen sei, nicht genannt habe. Die Beklagte sei zu Unrecht davon ausgegangen, sie habe ein Entschließungsermessen. Auch habe sie verkannt, dass einem Unternehmen auch dann eine Herabsetzung zu gewähren sei, wenn es den Kriterienkatalog 1995 nicht vollständig erfüllt habe. Ferner stelle die Herabsetzungsregelung in Teil II Nr. 2 GT 1995 eine Beitragsausgleichmaßnahme im Sinne des § 162 SGB VII dar, weshalb die Beklagte zu prüfen habe, ob der Betrieb geringeren Unfallgefahren unterläge als dies üblicherweise der Fall sei. Im maßgeblichen Gefahrtarifzeitraum seien die Unfallzahlen in ihrem Unternehmen weit unterdurchschnittlich.

Das Sozialgericht Berlin hat die Klage durch Urteil vom 10. Oktober 2003 abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es u.a. ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Herabsetzung einer Gefahrklasse nach Teil II Nr. 2 GT 1995 lägen nicht vor, da nicht zu erkennen sei, dass das Unternehmen der Klägerin Besonderheiten aufweise, die eine vom Üblichen erheblich abweichende Betriebsweise darstellten. Unter "Betriebsweise" seien nur die tatsächlichen Arbeitsabläufe im Unternehmen und die bei den Tätigkeiten auftretenden Unfallgefahren zu verstehen, nicht aber die Durchführung zusätzlicher Unfallverhütungsmaßnahmen. Das Herabsetzungsverfahren nach Teil II Nr. 2 GT 1995 diene nicht der Belohnung von Präventionsmaßnahmen, sondern der Berücksichtigung außergewöhnlicher Risiken in Bezug auf die Betriebsweise. Die Frage, ob durch das Versenden des Kriterienkatalogs 1995, in welchem das Kriterium einer besonderen Arbeitsschutzorganisation ausdrücklich als eine vom Üblichen erheblich abweichende Betriebsweise genannt worden sei, zu einem besonderen Vertrauenstatbestand geführt habe, könne dahingestellt bleiben, da vorliegend die Voraussetzungen des Kriterienkatalogs 1995 nicht erfüllt seien. Denn es sei nicht ersichtlich, dass die sicherheitstechnischen Standards eingehalten worden seien. Bei der Betriebsbesichtigung durch den Technischen Arbeitsdienst des Beklagten im März 1997 habe sich ergeben, dass keine Fachkraft für Arbeitssicherheit bestellt worden sei, was der Geschäftsführer der Klägerin auch eingeräumt habe. Auch habe dem Unternehmen der Klägerin mit dem im "Nachbarhaus residierenden Unfallarzt" nicht jederzeit ein Ersthelfer im Sinne des § 2 der Unfallverhütungsvorschrift VBG 122 zur Verfügung gestanden. Weiter sei nicht zu erkennen, dass die Personalentscheidungsträger der Klägerin in Bezug auf die rechtlichen Grundlagen und die Anwendung der Arbeitsschutzvorschriften in der Arbeitnehmerüberlassung ausgebildet worden wären. Soweit die Klägerin darauf verwiesen habe, dass die für Personalentscheidungen zuständige Frau G an einem Seminar für Führungskräfte teilgenommen habe, sei damit das im Jahre 1998 absolvierte Unternehmer-Seminar gemeint. Der Besuch dieses Seminars falle im Übrigen nicht in den maßgeblichen Gefahrtarifzeitraum, so dass er das Vorliegen einer besonderen Arbeitsschutzorganisation nicht begründen könne.

Mit ihrer Berufung bringt die Klägerin insbesondere vor: Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sei die Herabsetzung nach Teil II Nr. 2 GT 1995 aufgrund Arbeitssicherungsmaßnahmen als Satzungsregelung gemäß § 162 SGB VII anzusehen. Die Beklagte habe über mehrere Gefahrtarifzeiträume hinweg die Herabsetzung der Gefahrklassen aufgrund von Arbeitsschutzmaßnahmen gefördert und hierbei das Merkmal der "erheblich abweichenden Betriebsweise" über Präventionsmaßnahmen auf dem Gebiet der Arbeitssicherheit definiert. Sie bestreite, dass sie die sicherheitstechnischen Standards nicht eingehalten habe. Ihr Geschäftsführer sei bereits im Jahre 1987 als Fachkraft für Arbeitssicherheit bestellt worden. Im Jahre 1989 habe er an einem Grundseminar für Sicherheitsbeauftragte, im Jahre 1998 an einem Seminar für Führungskräfte "Zeitarbeit mit Erfolg" teilgenommen. Ferner habe der Sicherheitsingenieur P mit Vertrag vom 15. März 1997 die Aufgaben nach § 6 ASiG übernommen. Die Klägerin ist der Ansicht, aus den von ihr umgesetzten Maßnahmen ergebe sich auch eine abstrakt betrachtete wesentlich niedrigere Gefahrensituation, die sich dann konsequenterweise in den niedrigen Unfallzahlen widergespiegelt habe.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Oktober 2003 sowie den Bescheid der Beklagten vom 5. Mai 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. September 1999 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihren Antrag vom 29. Juli 1996 auf Herabsetzung der Gefahrklasse zur Gefahrtarifstelle 24 für die Beitragsjahre 1996 und 1997 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält an ihrer Entscheidung fest.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.

Die Beklagte hat die beantragte Herabsetzung der Gefahrklasse zu Recht abgelehnt.

Soweit die Klägerin ihren vermeintlichen Herabsetzungsanspruch mit den niedrigen Unfallzahlen in ihrem Betrieb begründet, dringt sie nicht durch. Entscheidend für die Anwendung der Regelung in Teil II Nr. 2 GT 1995, die mit dem bis zum 31. Dezember 1996 geltenden § 725 Abs. 2 RVO a.F. (vgl. § 219 SGB VII) bzw. mit dem erstmals für das Haushaltsjahr 1997 anzuwendenden § 162 Abs. 1 SGB VII im Einklang steht (siehe Bundessozialgericht –BSG–, Urteil vom 6. Mai 2003, B 2 U 7/02 R, SozR 4-2700 § 162 Nr. 1), ist, dass in Abweichung von der für "normale" Unternehmen geltenden regelrechten Betriebsweise, guten Einrichtungen und allen üblichen und die durch die Unfallverhütungsvorschriften angeordneten Schutzvorkehrungen bei einem einzelnen Unternehmen eine Betriebsweise vorhanden ist, die von der in dem betreffenden Gewerbezweig üblichen nicht unerheblich abweicht und zu einer von dem "normalen" Unternehmen nicht unwesentlich geminderten oder erhöhten Gefahrenlage führt (so BSG, Urteile vom 6. Mai 2003 a.a.O. und vom 11. November 2003, B 2 U 55/02 R, HVBG-Info 2004, 62, jeweils mit weiteren Nachweisen). Demgegenüber genügt die Klägerin nicht einmal den sicherheitstechnischen Standards, weshalb entgegen ihrer Ansicht eine Abweichung der Betriebsweise – jedenfalls eine zu einer geringeren Gefahrenlage führende – zu verneinen ist. Denn in dem Gefahrtarifzeitraum von 1995 bis 1997 hat die Klägerin in ihrem Unternehmen die Unfallverhütungsvorschriften und sonstigen Regeln des Arbeitsschutzes, die den sicherheitstechnischen Standard bilden, nicht vollständig eingehalten. Zur Begründung wird insoweit nach § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die Ausführungen des Sozialgerichts Berlin im Urteil vom 10. Oktober 2003 verwiesen, denen der Senat folgt. Die von der Klägerin mit der Berufung erhobenen Einwände vermögen nicht zu überzeugen. Selbst wenn sie ihrem Vortrag zufolge den Anforderungen des § 2 der Unfallverhütungsvorschrift VBG 122 genügt haben sollte, hat sie, wie das Sozialgericht zutreffend und ausführlich dargelegt hat, die übrigen sicherheitstechnischen Standards nicht vollständig erfüllt. Darüber hinaus ist nicht zu erkennen, dass im Unternehmen der Klägerin während des maßgeblichen Zeitraums ein gemäß § 11 Arbeitssicherheitsgesetz zu bildender Arbeitsausschuss bestanden hätte. Der Behauptung der Klägerin, ein derartiger Ausschuss sei gebildet worden, ist nicht zu entnehmen, wann dies geschehen sein soll.

Die Herabsetzung der Gefahrklasse kann die Klägerin ferner nicht auf den Vergleich vom 9. September 1996 stützen. Denn die vorliegend streitbefangene Veranlagung für die Jahre 1996 und 1997 war in dieser Vereinbarung ausdrücklich ausgenommen.

Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch ergibt sich schließlich nicht – wie das Sozialgericht erwogen hat – aus einem besonderen Vertrauenstatbestand bzw. aus der in dem Kriterienkatalog 1995 dokumentierten Verwaltungspraxis in Verbindung mit dem Gleichbehandlungsgebot. Die Herabsetzung der Gefahrklasse kommt nur dann in Betracht, wenn im Unternehmen die sicherheitstechnischen Standards eingehalten werden. Denn deren Beachtung wird im Kriterienkatalog 1995 als erste Voraussetzung für die Herabsetzung genannt. Dies hat die Klägerin, wie bereits dargelegt, jedoch versäumt.

Auch der Einwand der Klägerin, der Beklagten wäre ein Ermessensfehler unterlaufen, geht fehl: Da bereits die Voraussetzungen für eine Herabsetzung des Gefahrtarifs nicht vorlagen, hatte die Beklagte keine Ermessensentscheidung zu treffen.

Die Entscheidung über die Kosten richtet sich nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG. Zwar gehören weder die Klägerin noch die Beklagte zu dem nach § 183 SGG privilegierten Personenkreis, jedoch sind vorliegend nach Art. 17 Abs. 1 Satz 2 des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 17. August 2001 (BGBl. I S. 2144) keine Kosten nach dem Gerichtskostengesetz zu erheben, da das Verfahren am 13. Oktober 1999, und damit vor Inkrafttreten des Änderungsgesetzes am 2. Januar 2002, rechtshängig geworden ist. Dies gilt für alle Instanzen, selbst wenn das Rechtsmittel – wie hier – erst nach dem 1. Januar 2002 eingelegt worden ist (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl. 2005, Rn. 12 vor § 183 SGG, mit weiteren Nachweisen). Die Kostenentscheidung berücksichtigt, dass die Berufung keinen Erfolg hat.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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