S 3 KR 1501/04

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
SG Lübeck (SHS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 3 KR 1501/04
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 10 KR 1/06 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 04.06.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.12.2004 wird geändert. Die Beklagte wird verurteilt, die Zuzahlungsbelastungsgrenze gemäß § 62 SGB V für das Jahr 2004 in Höhe von 78,27 EUR festzustellen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers. Die Sprungrevision wird zugelassen. Fehler! Kein gültiger Dateiname.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe der Zuzahlungsbelastungsgrenze des Klägers gemäß § 62 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) für das Jahr 2004.

Der am 0 1948 geborene Kläger ist landwirtschaftlicher Unternehmer und bei der Beklagten versichert. Er ist mit der am 1 1956 geborenen A G verheiratet. Aus der Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen, die am 1 1991 geborene S und die am 1 1992 geborene V

Der Kläger und seine Ehefrau hatten ausweislich des letzten Einkommenssteuerbescheides des zuständigen Finanzamtes im Jahre 2002 ein Bruttoeinkommen in Höhe von insgesamt 23.790,00 EUR. Die Eheleute werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.

Bei der Ehefrau des Klägers bestehen Gesundheitsstörungen in Form eines Diabetes mellitus, einer koronaren Herzerkrankung sowie eines Zustandes nach Herzinfarkt.

Am 19.04.2004 stellte der Kläger einen Antrag auf Feststellung der Zuzahlungsbelastungsgrenze nach § 62 SGB V. Er reichte u. a. eine Bescheinigung der Internisten Dres. T (19.03.2004) ein. Darin bestätigten die Ärzte, dass die Ehefrau des Klägers seit Januar 2003 wegen derselben Krankheit in Dauerbehandlung und eine kontinuierliche medizinische Versorgung erforderlich sei.

Mit Bescheid vom 27.05.2004 stellte die Beklagte die Belastungsgrenze nach § 62 SGB V für das Jahr 2004 in Höhe von 194,43 EUR fest. Nachdem der Kläger darauf hingewiesen hat, dass bei der Berechnung dieses Betrages seine Kinder nicht berücksichtigt worden waren, stellte die Beklagte mit Bescheid vom 04.06.2004 die Belastungsgrenze neu fest. Unter Zugrundelegung von jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt in Höhe von 23.790,00 EUR, einem Freibetrag für die Ehefrau in Höhe von 4.347,00 EUR sowie Freibeträgen für die beiden Kinder von je 3.648,00 EUR errechnete sie einen zu berücksichtigenden Betrag in Höhe von 12.147,00 EUR. Die Zuzahlungsbelastungsgrenze in Höhe von 1 v. H. der Bruttoeinnahmen stellte sie 121,47 EUR fest.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Widerspruch, zu dessen Begründung er insbesondere geltend machte: Die Beklagte habe bei der Feststellung der Belastungsgrenze für Zuzahlungen für jedes Kind einen Freibetrag von 5.808,00 EUR zu berücksichtigen. Neben dem Kinderfreibetrag in Höhe von 1.824,00 EUR seien auch der Freibetrag für den Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsbedarf in Höhe von 1.080,00 EUR anzurechnen. Nach Verdoppelung dieser Beträge gemäß § 32 Abs. 6 Satz 2 Einkommenssteuergesetz (EStG) ergebe sich ein Freibetrag für jedes Kind in Höhe von 5.808,00 EUR.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 06.12.2004 zurück und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Nach § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V sei allein der Kinderfreibetrag im Sinne des § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG zu berücksichtigen. Zwar gehe allein aus dem Wortlaut des § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V nicht eindeutig hervor, ob der Gesetzgeber lediglich den Kinderfreibetrag, den weiteren Freibetrag für Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsbedarf des Kindes oder die Summe beider Beträge bei der Berechnung der Belastungsgrenze habe berücksichtigen wollen. Die im Gesetz gewählte Formulierung lasse auch die Auslegung zu, dass nicht beide in § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG genannten Beträge, sondern nur ein sich aus dieser Vorschrift ergebender Betrag gemeint sei. Dem Wille des Gesetzgebers entspreche es, lediglich den (doppelten) Kinderfreibetrag in Höhe von 3.648,00 EUR anzurechnen. Die gesetzgeberische Absicht ergebe sich eindeutig aus der Gesetzesbegründung.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger mit dem am 27.12.2004 beim Sozialgericht L eingegangenen Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten Klage erhoben. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus: Gemäß § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V sei nicht nur der Freibetrag für das sächliche Existenzminimum des Kindes in Höhe von 1.824,00 EUR, sondern auch der in § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG vorgesehene Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes in Höhe von 1.080,00 EUR zu berücksichtigen. Diese Auslegung ergebe sich unmittelbar aus dem Gesetz. Nach Verdoppelung der Summe der genannten Beträge ergebe sich für jedes Kind ein Freibetrag in Höhe von 5.808,00 EUR. Für das Jahr 2004 seien mithin Bruttoeinnahmen in Höhe von 7.827,00 EUR zu berücksichtigen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 04.06.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.12.2004 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, die Zuzahlungsbelastungsgrenze gemäß § 62 SGB V für das Jahr 2004 in Höhe von 78,27 EUR festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie im Wesentlichen auf die angefochtenen Bescheide.

Die Kammer hat die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung am 19.01.2006 angehört. Wegen der Ausführungen der Beteiligten wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Neben der Gerichtsakte haben der Kammer die den streitbefangenen Vorgang betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten (1 Band) vorgelegen. Diese Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, da sie gemäß § 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft ist, Form und Frist der Klageerhebung nach den §§ 87, 90 SGG gewahrt sind und auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen vorliegen.

Die Klage ist auch begründet.

Die angefochtenen Bescheide der Beklagten halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Beklagte hat die Belastungsgrenze für Zuzahlungen für das Jahr 2004 in unzutreffender Höhe festgestellt. Die Zuzahlungsbelastungsgrenze für dieses Jahr beträgt gemäß § 62 SGB V 78,27 EUR.

Gemäß § 62 Abs. 1 Satz 2, 2. Alternative SGB V beträgt die Belastungsgrenze für Zuzahlungen für chronisch Kranke, die wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung sind, 1 v. H. der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt. Bei der Ermittlung dieser Belastungsgrenze werden die Zuzahlungen und die Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt der mit dem Versicherten im gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen des Versicherten und des Lebenspartners jeweils zusammengerechnet (§ 62 Abs. 2 Satz 1 SGB V). Hierbei sind die jährlichen Bruttoeinnahmen für den ersten in dem gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen des Versicherten um 15 v. H. und für jeden weiteren in dem gemeinsamen Haushalt lebenden Angehörigen des Versicherten und des Lebenspartners um 10 v. H. der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) zu mindern. Für jedes Kind des Versicherten und des Lebenspartners sind die jährlichen Bruttoeinnahmen um den sich nach § 32 Abs. 6 Satz 1 und 2 des Einkommenssteuergesetzes ergebenden Betrag zu vermindern; die nach Satz 2 bei der Ermittlung der Belastungsgrenze vorgesehene Berücksichtigung entfällt (§ 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V). Gemäß § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG wird bei der Veranlagung zur Einkommenssteuer für jedes zu berücksichtigende Kind des Steuerpflichtigen ein Freibetrag von 1.824,00 EUR für das tatsächliche Existenzminimum des Kindes (Kinderfreibetrag) sowie ein Freibetrag von 1.080,00 EUR für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes vom Einkommen abgezogen. Bei Ehegatten, die nach den §§ 26, 26 b EStG zusammen zur Einkommenssteuer veranlagt werden, verdoppeln sich die Beträge nach Abs. 1, wenn das Kind zu beiden Ehegatten einem Kindschaftsverhältnis steht.

Vorliegend ist bei der Berechnung der Zuzahlungsgrenze von jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt in Höhe von insgesamt 23.790,00 EUR auszugehen. Zu den Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt gehören alle Einnahmen, die zur Bestreitung des Lebensunterhalts bestimmt sind, und zwar ohne Rücksicht auf ihre steuerliche Behandlung, soweit sie gegenwärtig zur Verfügung stehen (BSG, SozR 2200, § 205 Nr. 59). Hierzu zählen grundsätzlich alle wiederkehrenden Bezüge und geldwerten Zuwendungen, wie Arbeitseinkommen, Einkünfte eines Unternehmers, Einkünfte aus Kapitalvermögen sowie Vermietung und Verpachtung (vgl. Hauck/Noftz, SGB V, K § 62 Rd.-Nr. 22).

Der Kläger und seine Ehefrau hatten ausweislich des Einkommenssteuerbescheides für das Jahr 2002 Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Kapitalvermögen und aus Vermietung oder Verpachtung in Höhe von insgesamt 23.790,00 EUR. Die Beklagte hat zu Recht auf die Feststellungen des zuständigen Finanzamtes in dem zuletzt erstellten Einkommenssteuerbescheid abgestellt. Diese Feststellungen sind maßgebend, da der Kläger als landwirtschaftlicher Unternehmer der Buchführungspflicht nach § 4 EStG unterliegt.

Der festgestellte Betrag der Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt in Höhe von 23.790,00 EUR ist gemäß § 62 Abs. 2 in Höhe des Freibetrages für seine Ehefrau zu mindern. Der Freibetrag gemäß § 62 Abs. 2 Satz 2 SGB V betrug im Jahr 2004 4.347,00 EUR (15 v. H. der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV).

Darüber hinaus ist der Betrag der Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt durch Freibeträge für die beiden Kinder des Klägers und seiner Ehefrau in Höhe von jeweils 5.808,00 EUR zu mindern. Gemäß § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V i.V.m. § 32 Abs. 6 Satz 1 und 2 EStG beträgt der Freibetrag für Kinder 5.808,00 EUR. Dieser Betrag errechnet sich aus der Verdoppelung der Summe der in § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG genannten Freibeträge in Höhe von 1.824,00 EUR und 1.080,00 EUR. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist bei der Feststellung des Freibetrages gemäß § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V nicht nur der Freibetrag für das sächliche Existenzminimum des Kindes (Kinderfreibetrag), sondern auch der Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes zu berücksichtigen. Dies ergibt sich aus dem insoweit eindeutigen Wortlaut dieser Vorschrift.

In § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V wird auf den Betrag, der sich aus § 32 Abs. 6 Satz 1 und 2 EStG ergibt, Bezug genommen. Bereits daraus kann geschlossen werden, dass nicht allein der Kinderfreibetrag oder der Freibetrag für den Betreuungs-, Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes gemeint ist, da diese Beträge ausdrücklich nicht genannt sind. Wenn aber keiner dieser Freibeträge ausdrücklich erwähnt wird, kann der Wortlaut des § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V nur so ausgelegt werden, dass - wie in § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG vorgesehen - die Summe der dort genannten Freibeträge gemeint sind. Diese Summe ist der Betrag, der sich aus dieser Vorschrift ergibt.

Für die Addition der in § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG genannten Freibeträge spricht auch, dass § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V Bezug auf § 32 Abs. 6 Satz 2 EStG nimmt. Die Bezugnahme auf die Vorschrift deutet darauf hin, dass der Betrag im Sinne des § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V als Produkt von Rechenschritten festzustellen ist. In § 32 Abs. 6 Satz 2 EStG wird geregelt, dass die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG zu verdoppeln sind. Wenn aber bei der Ermittlung des Betrages im Sinne des § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V gemäß § 32 Abs. 6 Satz 2 EStG Rechenschritte vorzunehmen sind, erscheint es folgerichtig, dass auch die in § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG vorgesehene Berechnung, d. h. die Addition der dort genannten Freibeträge durchzuführen ist.

Dieser Auslegung des § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V stehen auch nicht die Ausführungen in der Gesetzesbegründung entgegen. Aus der Gesetzesbegründung lässt sich nicht mit der erforderlichen Sicherheit entnehmen, dass der Gesetzgeber mit dem Betrag im Sinne des § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V lediglich den (verdoppelten) Kinderfreibetrag und nicht auch den Betreuungs-, Erziehungs- oder Ausbildungsfreibetrag gemeint hatte. Zwar wird in der Begründung zu § 62 SGB V ausgeführt, dass für Kinder "ein gesonderter Freibetrag" (2003 = 3.648,00 EUR) eingeführt wird. Dabei handelt es sich um den für das Jahr 2003 geltenden verdoppelten Kinderfreibetrag. Die Erwähnung eines in Klammern gesetzten Betrages reicht jedoch nicht aus, um den eindeutigen Wortlaut einer Vorschrift anders auslegen zu können. Zwar mag in der Erwähnung des für 2003 geltenden doppelten Kinderfreibetrages die Vorstellung des Gesetzgebers deutlich werden. Ein entsprechender Wille des Gesetzgebers ist jedoch nicht umgesetzt worden. Nach dem Wortlaut des § 62 Abs. 2 Satz 3 SGB V wird sowohl auf den Kinderfreibetrag als auch auf den Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf des Kindes Bezug genommen (Hauck/Noftz, SGB V, K § 62 Rd.-Nr. 51, 53).

Nach Abzug der Freibeträge für die Ehefrau des Klägers in Höhe von 4.347,00 EUR sowie der Freibeträge für die beiden Kinder in Höhe von je 5.808,00 EUR ergibt sich ein zu berücksichtigendes Bruttoeinkommen in Höhe von 7.827,00 EUR. Die Zuzahlungsbelastungsgrenze beträgt ein v. H. dieses Betrages. Die Ehefrau des Klägers ist chronisch krank im Sinne des § 62 Abs. 1 Satz 1 SGB V i.V.m. der Richtlinie zur Definition schwerwiegender chronischer Krankheiten vom 22.01.2004. Es liegt eine schwerwiegende chronische Krankheit im Sinne von § 2 Abs. 2 c der Richtlinie vor.

Nach allem hat die Klage Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Sprungrevision gemäß § 161 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen. In der Zulassung der Sprungrevision liegt gleichzeitig die Zulassung der Berufung (BSG, SozR 1500 § 150 Nr. 9; Meyer-Ladewig, SGG, 8. Auflage, § 161 Rd.-Nr. 2).
Rechtskraft
Aus
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