S 11 AS 3/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 11 AS 3/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 AS 80/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld II (Alg II) für die Zeit vom 01.01.2005 bis 31.07.2005 sowie eine entsprechende Erstattungsforderung in Höhe von 3145,25 Euro.

Der am 00.00.1941 geborene Kläger lebt mit seiner Ehefrau zusammen, die im November 2004 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende beantragte. Sie gab hierbei (unter Vorlage eines Bescheides der Bundesagentur für Arbeit) an, der Kläger werde bis zum 28.09.2006 Arbeitslosengeld (Alg) beziehen, dessen Höhe sich derzeit auf 131,95 Euro wöchentlich und ab dem 01.01.2005 auf 263,83 Euro wöchentlich belaufe. Mit Bescheid vom 25.11.2004 (i.F.: Bewilligungsbescheid) - adressiert an die Ehefrau des Klägers - gewährte die Beklagte Alg II ab dem 01.01. in wechselnder Höhe (zuletzt 435,87 Euro monatlich), wobei sie den Bedarf mit 946,37 Euro auswies und das Einkommen des Klägers mit monatlich (bereinigt) 535,50 Euro ansetzte.

Nach entsprechender Mitteilung mit Gelegenheit zur Stellungnahme im August 2005 nahm die Beklagte mit Bescheid vom 26.08.2005 (i.F.: Rücknahmebescheid) gegenüber dem Kläger den Bewilligungsbescheid für die Zeit ab dem 01.01.2005 mit der Begründung zurück, Alg hätte i.H.v. täglich 18,85 anstatt richtigerweise 38,02 Euro angerechnet werden müssen. Der Kläger habe hieran erkennen können, dass die Alg II-Bewilligung fehlerhaft gewesen sei. Zugleich machte sie eine Erstattungsforderung i.H.v. 3145,25 Euro geltend. Seinen am 08.09.2005 eingelegten Widerspruch begründete der Kläger damit, der Bewilligungsbescheid habe sich an seine Ehefrau gerichtet und könne daher nur ihr gegenüber zurückgenommen werden. Im Übrigen sei die ab 01.01.2005 veränderte Höhe des Alg schon bei Antragstellung mitgeteilt worden, weswegen er auf die Richtigkeit des Bewilligungsbescheides habe vertrauen dürfen.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 07.12.2005 zurück und führte aus, im Bewilligungsbescheid seien sowohl das unrichtig angesetzte Einkommen als auch der angesetzte Bedarf i.H.v. 946,37 Euro unmissverständlich ausgewiesen gewesen. Da sein tatsächliches Einkommen über diesem Bedarf gelegen habe, habe der Kläger erkennen müssen, dass ihm und seiner Ehefrau Alg II nicht zugestanden habe.

Hiergegen richtet sich die am 05.01.2006 erhobene Klage.

Der Kläger wiederholt und vertieft sein bisheriges Vorbringen. Er führt aus, da er selbst den Alg II-Antrag nicht gestellt habe, habe er auch keine Kenntnis von einer Fehlerhaftigkeit des Bewilligungsbescheides haben können.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 26.08.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.12.2005 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bleibt bei ihrer Auffassung.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten sind nicht rechtswidrig im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beklagte durfte den Bewilligungsbescheid nach § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) zurücknehmen und die aufgrund dessen erbrachten Leistungen nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X erstattet verlangen.

Der Rücknahmebescheid ist hierbei als an beide Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft auszulegen. Maßstab der Auslegung von Verwaltungsakten ist der "Empfängerhorizont" eines verständigen Beteiligten, der die Zusammenhänge berücksichtigt, die der Leistungsträger nach seinem wirklichen Willen erkennbar in die Entscheidung einbezogen hat (Waschull, in: LPK-SGB X, § 31, Rn. 25). Hier ergibt sich die Auslegung des Verwaltungsaktes als an beide Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft adressiert aus dem Erstattungsbetrag, der erkennbar höher war als das im streitigen Zeitraum allein an den Kläger erbrachte Alg II. Darüber hinaus ergibt sich auch aus dem Aktenzeichen des Bescheides, dass die "gesamte Bedarfsgemeinschaft" und nicht nur der Kläger gemeint ist. Weiterhin durfte der Bewilligungsbescheid auch nicht nur - wie der Kläger meint - gegenüber seiner Ehefrau zurückgenommen werden. Der Bewilligungsbescheid war in Anwendung von § 38 Sozialgesetzbuch - Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuche - (SGB II) an die Ehefrau des Klägers adressiert, entschied jedoch über die Leistungsansprüche sämtlicher Angehöriger der Bedarfsgemeinschaft. Auch angesichts § 38 SGB II bleibt der vertretene Hilfebedürftige Verfahrensbeteiligter (Link, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, § 38, Rn. 10). Im Übrigen wirkt § 38 SGB II bereits seinem Wortlaut nach nur für Antragstellung und Inempfangnahme der Leistungen; auf diese Elemente ist die Wirkung aber auch beschränkt und ändert nichts daran, dass der Alg II-Anspruch individualisiert ist (Link, a.a.O., Rn 17; LSG Hamburg, Beschluss vom 02.08.2005, L 5 B 187/05 ER AS; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14.07.2005, L 14 B 48/05 AS ER; SG Dortmund, Beschluss vom 05.04.2005, S 22 AS 22/05 ER). Offen bleiben kann im Rechtsstreit zwischen Kläger und Beklagten, ob der Ehefrau des Klägers (die offenbar keine eigene Ausfertigung des Rücknahmebescheides erhalten hat) ein seperates Anfechtungsrecht gegen den Rücknahmebescheid zusteht und ob die Beklagte die Erstattungsforderung auch gegenüber der Ehefrau vollstrecken könnte.

Die Rücknahmevoraussetzungen nach § 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X sind erfüllt. Der Bewilligungsbescheid war bereits zum Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig i.S.d. § 45 Abs. 1 SGB X, denn der Kläger und seine Ehefrau waren angesichts des unstreitig bezogenen Alg nicht hilfebedürftig i.S.d. §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 9 Abs. 1 Nr. 2 2.Alt SGB II und hatten daher keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuche.

Der Kläger und seine Ehefrau können sich auch nicht auf Vertrauensschutz berufen. Nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X kann sich der durch den aufgehobenen Bescheid Begünstigte nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen, wenn er die Rechtswidrigkeit dieses Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Grob fahrlässige Unkenntnis liegt vor, wenn der Begünstigte die Fehlerhaftigkeit des Bescheides ohne Mühe hätte erkennen können; dies ist etwa dann der Fall, wenn eine Lohnersatzleistung höher ist als der ihr zugrundeliegende Verdienst (hierzu Waschull, a.a.O., § 45, Rn. 42 m.w.N.). Auch erhebliche Fehler auf Seiten des Leistungsträgers hindern die Anwendung von § 45 SGB X nicht (Waschull, a.a.O., Rn. 46).

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall schon deswegen erfüllt, weil der Kläger und auch seine Ehefrau ohne weitere Überlegungen aus dem Bewilligungsbescheid ersehen konnten, dass das Einkommen des Klägers über dem von der Beklagten errechneten Bedarf lag und beide deswegen nicht bedürftig sein konnten. Insbesondere kann sich der Kläger nicht auf Unkenntnis der im Bewilligungsbescheid enthaltenen Bedarfsberechnung berufen, denn der Bewilligungsbescheid ist in Anwendung von § 38 SGB II gerade auch ihm gegenüber ergangen. Für den Kläger gilt insoweit nicht anderes als für einen alleinstehenden Bescheidadressat.

Ermessen brauchte die Beklagte nicht auszuüben, § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 2 Sozialgesetzbuch - Drittes Buch - Arbeitsförderung (SGB III).

Die Erstattungsforderung beruht auf § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X.

Es kann angesichts dessen offen bleiben, ob der Rücknahmebescheid - insoweit als die Beklagte auch das an die Ehefrau erbrachte Alg II erstattet verlangt - hilfsweise in einen auf § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 2. Alt SGB II gestützten Bescheid umgedeutet werden könnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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