S 2 R 4547/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Würzburg (FSB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 R 4547/04
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Der Bescheid vom 17.02.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 02.11.2004 wird abgeändert.
II. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung wegen Berufsunfähigkeit ab 01.03.2006 (Leistungsfall der teilweisen Erwerbsminderung 14.02.2006) zu gewähren.
III. Die Beklagte trägt die notwendigen Kosten und Auslagen der Klägerin zur Hälfte.

Tatbestand:

Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Feststellung einer teilweisen Erwerbsminderung wegen Berufsunfähigkeit und auf Gewährung einer entsprechenden Rente ab 01.03.2006.

Die 1947 geborene Klägerin erlernte von 1962 bis 1965 den Beruf einer Modistin. Anschließend war sie als Verkäuferin bis 03.08.2002, zuletzt im Modehaus W., K., beschäftigt.

Am 14.11.2003 stellte die Klägerin bei der Beklagten den Antrag auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die Beklagte zog den ärztlichen Entlassungsbericht des Reha-Zentrums der BfA - Klinik F. - vom 18.03.2003 (stationäre Maßnahme vom 12.02. bis 18.03.2003) bei. Im Entlassungsbericht wurde ausgeführt, dass die Klägerin in ihrer letzten beruflichen Tätigkeit als Damenoberbekleidungsverkäuferin und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden und mehr täglich arbeiten könne. Der Orthopäde Dr. L. bestätigte nach einer Untersuchung vom 08.01.2004 diese Beurteilung. Die anschließend gehörte Nervenärztin Dr. S. gelangte am 29.01.2004 zu der Auffassung, dass die Klägerin als Textilverkäuferin seit März 2003 (gescheiterte Wiedereingliederung) lediglich unter drei Stunden einsatzfähig sei und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte Tätigkeit sechs Stunden und mehr im Wechsel von Stehen, Gehen und Sitzen verrichten könne. In einer internen Stellungnahme führte der beratende Arzt der Beklagten Dr. L. am 02.02.2004 aus, dass die im nervenärztlichen Gutachten mitgeteilten Befunde keine quantitative Leistungsminderung für die Tätigkeit einer Verkäuferin begründeten.

Mit Bescheid vom 17.02.2004 lehnte die Beklagte die Gewährung der beantragten Rente ab, weil die Klägerin mit dem vorhandenen Leistungsvermögen in ihrem bisherigen Beruf als Verkäuferin mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein könne.

Im Widerspruchsverfahren gab die Klägerin an, dass gegen die Annahme der Beklagten ihre 18-monatige Arbeitsunfähigkeit spreche. Seit 21.01.2004 erhalte sie Arbeitslosengeld. Ihr Leistungsbild betrage drei bis unter sechs Stunden. In einem weiteren Rentengutachten bestätigte der Facharzt für Anästhesie und Orthopädie Dr. S. am 26.08.2004 die Auffassung der Beklagten, dass die Klägerin in ihrem Beruf als Damenoberbekleidungsverkäuferin sechs Stunden täglich arbeiten könne. In internen Stellungnahmen schloss sich die beratende Ärztin Dr. J. dieser Auffassung an.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.11.2004 wies die Bekagten den Widerspruch zurück, weil die dem Ablehnungsbescheid zugrunde liegende sozialmedizinische Leistungsbeurteilung bestätige, dass die Klägerin in der Lage sei, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes und in ihrem bisherigen Beruf als Verkäuferin mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Auch die im Widerspruchsverfahren beigezogenen ärztlichen Unterlagen und die rheumatologische Zusatzbegutachtung hätten keine weiteren Einschränkungen des bisher festgestellten Leistungsvermögens ergeben.

Hiergegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Würzburg erhoben. Sie trägt vor, dass ihr Leistungsbild maximal mit drei bis unter sechs Stunden zu beschreiben sei. Das ärztliche Attest des behandelnden Arztes Dr. S. vom 29.04.2004 bestätige dieses Leistungsbild. Das bestehende chronische Schmerzsyndrom fibromyalgieformer Prägung, das laut Gutachten der Dr. S. bereits zu einer gewissen generellen Erschöpfung geführt habe, sei nicht in die Beurteilung des Orthopäden Dr. L. mit einbezogen worden.

Die Kammer hat Befundberichte und ärztliche Unterlagen des J.Spitals W., des Allgemeinarztes Dr. S., des Arztes für Psychosomatik und Psychotherapie Dr. S. sowie die Akte der 3. Kammer des Sozialgerichts Würzburg (S 3 SB 1069/03) und die Beklagtenakten beigezogen. Anschließend hat die Kammer den Arzt für Orthopädie, Arbeitsmedizin, Sportmedizin Dr. B. gehört. Dr. B. hat in seinem Gutachten vom 14.02.2006 als Gesundheitsstörungen ein Halswirbelsäulensyndrom (Cervicalsyndrom), ein Lendenwirbelsäulensyndrom (Lumbalsyndrom), eine Belastungseinschränkung der Schultergelenke (Zustand nach Arthroskopie beider Schultergelenke), eine diskret beginnende Dysplasie-Coxarthrose beiderseits und ein chronisches Schmerzsyndrom fibromyalgieformer Prägung festgestellt. Unter Berücksichtigung dieser Gesundheitsstörungen sei der Klägerin zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes eine leichte körperliche Tätigkeit in wechselnder Stellung, vorwiegend in geschlossenen Räumen, ohne besondere nervliche Belastung, nicht an unfallgefährdeten Arbeitsplätzen, ohne besondere Belastung des Bewegungs- und Stützsystems und nicht unter ungünstigen äußeren Bedingungen zumutbar. Die Ausübung des Berufes als Verkäuferin sei aus orthopädischer Sicht nur dann sechs Stunden möglich, wenn sie nicht überwiegendes Stehen erfordere. Hinzukomme aus nervenärztlicher Sicht die Einschränkung, dass keine Tätigkeiten mit besonderer nervlicher Belastung zumutbar seien.

Auf Hinweis des Gerichts, dass die Tätigkeit als Verkäuferin ein überwiegendes Stehen erfordere, hat die Beklagte als zumutbare Verweisungstätigkeiten kaufmännische Tätigkeiten oder Tätigkeiten einer Verwaltungsangestellten benannt.

Die Klägerin hat hierzu vorgetragen, dass sie weder privat noch beruflich bisher mit einem Computer gearbeitet habe.

Die Klägerin stellt den Antrag:

1. Der Bescheid vom 17.02.2004 in der Fassung des Wider spruchsbescheides vom 02.11.2004 wird abgeändert.

2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin eine Rente we gen teilweiser Erwerbsminderung ab 01.03.2006 (Leistungs fall 14.02.2006) wegen Berufsunfähigkeit auf Dauer zu ge währen.

Der Vertreter der Beklagten beantragt,

die Klage abzuweisen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf den Inhalt der Beklagtenakten und der Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig. Sie ist auch begründet. Der Klägerin steht ab 01.03.2006 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu.

Gemäß § 240 Abs. 1 6. Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres auch Versicherte, die 1. vor dem 02.01.1961 geboren und 2. berufsunfähig sind.

Nach § 240 Abs. 2 SGB VI sind berufsunfähig Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

Ausgangspunkt der Beurteilung der Berufsunfähigkeit ist der bisherige Beruf. Darunter ist im Allgemeinen diejenige versicherungspflichtige Beschäftigung zu verstehen, die zuletzt auf Dauer, d. h. mit dem Ziel verrichtet worden ist, sie bis zum Eintritt der gesundheitlichen Unfähigkeit oder bis zum Erreichen der Altersgrenze auszuüben. In der Regel ist das die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit, jedenfalls dann, wenn sie die qualitativ höchste ist (BSG Urteil vom 20.07.2005 - B 13 RJ 29/04 R).

Die Klägerin ist nach ihrem beruflichen Werdegang und nach der von ihr bisher ausgeübten Tätigkeit als Verkäuferin (Facharbeiterin) zu beurteilen. Eine solche Tätigkeit kann sie weder aus orthopädischer Sicht noch aus nervenärztlicher Sicht sechs Stunden täglich ausüben. Denn nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. B. und der Rentengutachterin Dr. S. ist der Klägerin weder überwiegendes Stehen noch eine Tätigkeit unter besonderer nervlicher Belastung zumutbar. Aus dem BerufeNET der Arbeitsagentur ergibt sich, dass Textilverkäuferinnen die unterschiedlichsten Textilien verkaufen, beispielsweise Bekleidung aller Art für Damen, Herrn und Kinder. Sie ermitteln die Wünsche der Kunden und informieren diese über Neuheiten, Sonderangebote und Trends, über Eigenschaften, Funktionen und Nutzen von Produkten bzw. geben Ratschläge zu modischen Farben und Kollektionen. Angelieferte Textilien nehmen sie entgegen, prüfen die Lieferung auf Vollständigkeit und Mängel, zeichnen die Preise aus, räumen die Waren in Regale ein oder hängen sie auf Kleidungsständer. Auch die Warenpräsentation, z. B. die Dekoration von Schaufenstern oder die Ausstattung von Schaufensterpuppen, kann zu ihren Tätigkeiten gehören. Textilverkäuferinnen arbeiten in Bekleidungsgeschäften, Warenhäusern, Wäsche- oder Stofffachgeschäften.

Die Kammer geht davon aus, dass eine solche Tätigkeit überwiegend im Stehen verrichtet wird und deshalb der Klägerin nicht mehr sechs Stunden täglich zumutbar ist. Hinzukommt, dass eine solche Tätigkeit zumindest teilweise mit erhöhtem Arbeitsstress verbunden ist und auch deshalb der Klägerin nicht zugemutet werden kann.

Auch eine Kauffrau im Einzelhandel - Textil, Bekleidung - arbeitet vorwiegend im Verkauf in Fachgeschäften oder in Fachabteilungen von Kauf- und Warenhäusern oder Discountern (BerufeNET der Arbeitsagentur). Je nach Größe und Spezialisierung des Betriebes kann sich das Warensortiment entweder auf spezielle Produkte konzentrieren oder die gesamte Palette von Herren-, Damen- und Kinderbekleidung, Wäsche und Badebekleidung über Bettwaren, Haus- und Küchenwäsche, Teppiche und Heimtextilien bis zu Handarbeitsartikeln, Meterwaren und Kurzwaren umfassen. Im Verkaufsgespräch gehen Kaufleute auf die jeweiligen Kundenwünsche ein, bieten sachkundige, freundliche Beratung beispielsweise über Material, Qualität, Marken- und Preisunterschiede und geben Pflegehinweise. Neben Beratung und Verkauf kümmern sich Kaufleute im Einzelhandel auch um den Einkauf und sorgen dafür, dass das Warenangebot immer in ausreichendem Umfang und der Nachfrage der Kunden entsprechend zur Verfügung steht. Dabei beachten sie, dass bestimmte Artikel, insbesondere im Verkauf der Bekleidung, oft nur innerhalb einer Saison verkäuflich sind. Schließlich bereiten sie die Ware für den Verkauf vor, indem sie die Artikel auszeichnen und im Verkaufsraum ansprechend präsentieren. Als verkaufsfördernde Maßnahmen planen und führen sie beispielsweise auch Sonderaktionen durch oder planen, gestalten und platzieren Anzeigen in Medien.

Nach Überzeugung der Kammer ist auch eine solche Tätigkeit überwiegend mit Stehen verbunden und bringt teilweise besonderen Leistungsdruck mit enormer psychischer Belastung mit sich.

Falls die Beklagte mit den genannten Verweisungsberufen "kaufmännische Tätigkeiten oder Tätigkeiten einer Verwaltungsangestellten" Fachkräfte für kaufmännische Organisation und Verwaltung meinen sollte, sind solche Tätigkeiten wegen fehlender Kenntnisse und Kompetenzen nicht zumutbar. Nach den Ausführungen im BerufeNET der Arbeitsagentur muss eine kaufmännische Assistentin - Sekretariat u. a. EDV-Kenntnisse, Kenntnisse in Büro- und Verwaltungsarbeiten, in Büroorganisation und in der Korrespondenz aufweisen.

Da die Klägerin glaubhaft versichert hat, dass sie sich bisher weder beruflich noch privat EDV-Kenntnisse angeeignet hat und die Beklagte der Klägerin zur Erlangung solcher Kenntnisse auch keine Maßnahmen zur Teilhabe am Erwerbsleben angeboten hat, kann die Klägerin solche Tätigkeiten nicht zumutbar verrichten.

Da der Sachverständige Dr. B. die festgestellte geminderte Erwerbsfähigkeit als eine dauernde ansieht und sich die Kammer dieser Einschätzung anschließt, ist eine verminderte Erwerbsfähigkeit bei Berufsunfähigkeit auf Dauer anzunehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz. Da die Klägerin bis zur mündlichen Verhandlung eine volle Erwerbsminderungsrente beantragt hat, erscheint es der Kammer angemessen, der Beklagten nicht sämtliche Kosten der Klägerin aufzuerlegen, sondern lediglich die Hälfte. Bei der Abwägung kommt hinzu, dass die Rente nicht ab Antragstellung, sondern erst ab dem Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zusteht.
Rechtskraft
Aus
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