L 6 V 2365/03

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 6 V 3434/01
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 V 2365/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 5. Mai 2003 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht die Gewährung höherer Entschädigungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) infolge kriegsbedingter Verletzungen.

Die Klägerin ist 1924 geboren. Sie wurde am 25. April 1945 bei einem Tieffliegerangriff schwer am Kopf und linken Arm verwundet. Ihr wurde der linke Arm bis auf einen Stumpf von 20 cm amputiert. Mit Bescheid vom 24. April 1946 anerkannte das Versorgungsamt Stuttgart (VA) als Körperschaden nach der Personenschädenverordnung (PSch VO) eine Kopfverletzung sowie Amputation des linken Armes. Mit vorläufigem Bescheid vom 20. März 1948 stellte die Landesversicherungsanstalt Württemberg wegen des Verlusts des linken Arms (20 cm Stumpf) und erheblichen Kopfschmerzen nach Schussverletzung der linken Schläfengegend eine teilweise Erwerbsunfähigkeit von 70 v.H. fest. Mit dem Umanerkennungsbescheid vom 26. Juli 1951 bewilligte das VA Beschädigtenrente nach dem BVG nach einer MdE um 70 v.H. bei gleicher Bezeichnung der Schädigungsfolgen. Mit Bescheid vom 1. Juni 1954 stellte das VA als Schädigungsfolgen den "Verlust des linken Armes. Schmerzen in der linken Schläfe nach Kopfverletzung mit Hirnquetschung, Weichteilstecksplitter und Narben in der linken Stirnschläfengegend" sowie eine MdE um 90 v.H. fest. Mit Bescheid vom 1. Juni 1971 wurden die Schädigungsfolgen wie folgt neu bezeichnet: "Verlust des linken Armes, Schmerzen in der linken Schläfe nach Kopfverletzung mit Hirnquetschung. Weichteilstecksplitter und Narben in der linken Stirnschläfenbeingegend und in der oberen Brustwand links". Die MdE wurde weiterhin mit 90 v.H. bewertet. Mit Bescheid vom 21. Juni 1993 (nach Neufeststellungsantrag der Klägerin) erfolgte eine weitere Neubezeichnung der Schädigungsfolgen. Als solche wurden anerkannt: "Verlust des linken Armes, Schmerzen in der linken Schläfe und Gesichtsnerventeillähmung nach Kopfverletzung mit Hirnquetschung. Weichteilstecksplitter und Narbe in der linken Stirnschläfenbeingegend und in der oberen Brustwand links".

Mit Antrag vom 21. April 1999 beantragte die Klägerin höhere Versorgungsleistungen und brachte zur Begründung vor, der Gesundheitszustand des rechten Armes und der rechten Hand habe sich verschlimmert. Sie habe darin keine Kraft und könne den Arm nicht richtig hochheben. Der Verlust des linken Armes habe zu einer Mehrbeanspruchung des rechten Arms geführt. Erstmals 1991 sei sie gestürzt und sei 1997 am Unterarm und 1999 an der Schulter operiert worden.

Das VA zog von der S.-Klinik S., OA Dr. L., den Operations- und Entlassungsbericht vom 18. bzw. 24. März 1999 nach stationärem Aufenthalt der Klägerin vom 16. bis 22. März 1999 bei. Im Entlassungsbericht waren als Diagnosen ein Impingementsyndrom rechts bei Rotatorenmanschettenmassenruptur und AC-Gelenksarthrose sowie drittgradiger Omarthrose und Zustand nach Oberarmamputation links aufgeführt. Vorgelegt wurde weiter der OP-Bericht vom 29. Oktober 1997 über eine endoskopische Dekompression bei Medianus-Kompression rechts sowie der Bericht über die am 30. November 1998 durchgeführte Kernspintomographie der rechten Schulter und des proximalen Oberarms vom 1. Dezember 1998 (Radiologische Praxis Dr. T.-Z.). Darin waren aufgeführt ein hochgradiges Impingement mit kompletter Ruptur der Supraspinatus, begleitende hochgradige, lipoatrophe Veränderungen des Musculus supraspinatus, geringergradig auch des Infraspinatus und Subscapularis, Omarthrose und Gelenkerguss sowie Ausbildung einer paralabralen Ganglionzyste. Im Bericht über das am 6. Juni 2000 durchgeführte MRT vom gleichen Tag, Gemeinschaftspraxis Diagnostische Radiologie, Dr. B., wurde über einen Sturz im Januar 2000 berichtet. Der Zustand der rechten Schulter bzw. des rechten Oberarms wurde mit einer fortgeschrittenen Rotatorenmanschettendestruktion mit kompletter Ruptur der Supraspinatussehne, weitgehender Ruptur der Subscapularissehne und entsprechender Atrophie der Muskulatur, Subluxationsstellung des Humeruskopfes nach apical und dorsal, Neoarthrose zwischen Humeruskopf und Acromion mit deutlichen Destruktionen am Humeruskopf, deformiertes/destruiertes AC-Gelenk sowie deutlicher Gelenkerguss beschrieben. In seinem Befundbericht vom 2. August 2000 berichtet OA Dr. L. über einen Sturz der Klägerin kurz vor Ostern 2000, wobei es zu einem fortgeleiteten Trauma in Extensionsstellung des Arms gekommen sei. Seither bestehe ein hochgradig schmerzhafter Zustand, ohne Möglichkeit, den rechten Arm aktiv vom Körper weg zu bewegen.

Im versorgungsärztlichen (vä) Gutachten vom 28. Dezember 2000 führte der Chirurge Dr. B. aus, die Ursache für die von der Klägerin im Bereich des rechten Arms und der rechten Schulter geklagten Beschwerden stellten degenerative Veränderungen dar. Entsprechende Veränderungen fänden sich auch am Bewegungsapparat, insbesondere an der Wirbelsäule und den Beinen. Es sei darüber hinaus nicht erwiesen, dass es durch einen Gliedmaßenverlust an der verbliebenen paarigen Gliedmaße zu Schäden durch "Überlastungen" komme. Die Gewährung einer Pflegezulage Stufe 1 werde allerdings vorgeschlagen.

Mit Bescheid vom 27. Februar 2001 lehnte das VA den Neufeststellungsantrag ab, da in den tatsächlichen Verhältnissen, die dem Bescheid vom 15. Oktober 1958 zugrunde lagen, keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 12. Juni 2001 zurückwies.

Dagegen erhob die Klägerin am 10. Juli 2001 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) und führte zur Begründung aus, im ärztlichen Abschlussbericht der T.-Klinik B. D. vom 27. September 2000 sei eine deutliche Überlastungsschmerzsymptomatik im Bereich des rechten Schultergelenks bestätigt worden. Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erstattete unter dem 28. August 2002 Prof. Dr. P., Klinikum S., O.-Hospital, ein fachorthopädisches Gutachten. Darin führte er aus, bei der Klägerin bestehe an der rechten Schulter eine ausgeprägt degenerative Veränderung sowohl des Humeroglynoidalgelenks als auch des Schultereckgelenks. Diese degenerativen Veränderungen könnten durchaus von einer jahrzehntelangen verstärkten Belastung des Schultergelenks bei Einarmigkeit herrühren. Daher sei man der Auffassung, dass es nach einer über 50 Jahre lang anhaltenden Mehrbelastung des rechten Schultergelenks zu einer Omarthrose bzw. AC-Gelenksarthrose gekommen sei mit Entwicklung einer Impingementsymptomatik aufgrund von Veränderungen des subacromialen Raumes und hiermit zu Schäden der Rotatorenmanschette, die empfindlich auf Veränderungen des subacromialen Raumes reagiere. Die Schädigungsfolgen an der rechten Schulter rechtfertigten eine MdE um 30 v.H., so dass insgesamt eine MdE um 100 v.H. vorgeschlagen werde. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 3. Februar 2003 nahm Prof. Dr. P. zu den Bedenken des Dr. W. in der vä Stellungnahme vom 5. November 2002 Stellung. Darin führte er aus, das Fehlen einer paarigen unteren Gliedmaße und die insoweit beobachteten fehlenden Auswirkungen auf die vorhandene Gliedmaße könnten sich nicht ohne Weiteres auf die oberen Gliedmaße übertragen lassen. Während ein im Bereich der unteren Gliedmaßen Teilamputierter weniger gehe als ein Gesunder und damit auch die verbliebene Gliedmaße nicht überbeanspruche, habe die Klägerin in den letzten 40 Jahren ihren Haushalt und die zwei Kinder im wesentlichen ohne fremde Hilfe versorgt und damit den verbliebenen Arm gerade nicht schonen können. Dies habe gegenüber Personen ohne Oberarmamputation sogar eine Mehrbelastung bedingt. Da allerdings auch bei jüngeren Menschen aufgrund der besonderen Schultergelenksanatomie, insbesondere bei Überkopfarbeiten, häufig Impingementsyndrome aufträten, sei bei der Klägerin abzuwägen, ob der Rotatorenmanschettenruptur ein schicksalsmäßiger Verlauf oder eine schädigungsbedingte Mehrbelastung zugrunde liege.

Mit Urteil vom 5. Mai 2003 hob das SG die angefochtenen Bescheide auf und verurteilte den Beklagten, der Klägerin Rente entsprechend einer MdE um 100 v.H. ab 1. April 1999 zu gewähren. Zur Begründung führte das SG aus, es stütze sich bei seiner Beurteilung auf die Beurteilung von Prof. Dr. P ... Dieser habe dargestellt, dass es zu den Folgen einer Gliedmaßenamputation im Bereich der Arme keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse gebe, ob und inwieweit sich diese auf die verbliebene Gliedmaße auswirkten. Deshalb komme es auf die Beurteilung im Einzelfall an, die aufgrund der erfolgten Belastungen infolge 50jähriger einarmiger Bewältigung aller Aufgaben des Haushalts den Schluss auf eine schädigungsbedingte Mehrbelastung rechtfertige.

Gegen das dem Beklagten am 21. Mai 2003 zugestellte Urteil hat dieser am 17. Juni 2003 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt er vor, gestützt auf die vä Stellungnahme vom 11. Juni 2003, dass die Annahme eines Überlastungsschadens im Bereich der rechten Schulter mit der wissenschaftlichen Lehrmeinung nicht in Übereinstimmung zu bringen sei. Vielmehr liege bei der Klägerin eine schädigungsunabhängige, degenerativ bedingte Rotatorenmanschettenruptur vor. Es müsse auch beachtet werden, dass die Klägerin im Oktober 1997, im Januar 2000 und kurz vor Ostern 2000 gestürzt sei. Insoweit sei noch offen, ob sich die Klägerin nicht dabei verletzt habe und ob die Stürze in ursächlichem Zusammenhang mit dem Verlust des linken Armes zu sehen seien.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 5. Mai 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erachtet die angefochtene Entscheidung als zutreffend.

Die Berichterstatterin des Verfahrens hat am 22. August 2005 den Sach- und Streitstand mit den Beteiligten erörtert. Auf die Sitzungsniederschrift vom gleichen Tag wird inhaltlich Bezug genommen. Das Gericht hat den behandelnden Arzt Dr. K. als sachverständigen Zeugen zu den Stürzen der Klägerin befragt. In seiner Auskunft vom 16. November 2005 hat er mitgeteilt, die Klägerin sei im Jahr 2000 vor allem wegen einer Rotatorenmanschettenruptur rechts und im Jahr 1997 wegen einer Gonarthrose rechts und einem Karpaltunnelsyndrom rechts in Behandlung gewesen. Der Auskunft beigefügt war auch der Befundbericht der S.-Klinik S. vom 30. Dezember 1998. Darin ist u.a. ausgeführt, dass die Klägerin seit einem traumatischen Ereignis im Oktober 1997 über deutliche Schmerzen und Einschränkungen im Bereich des rechten Schultergelenks klage. Im Befundbericht der S.-Klinik vom 5. April 2001 ist ausgeführt, die Klägerin sei nach einer Schulteroperation im März 1999 subjektiv zufrieden bei verbesserter Beweglichkeit und Minderung der Schmerzsymptomatik. Im April 2000 sei sie wieder auf die rechte Schulter gestürzt, nachfolgend seien erneut Beschwerden aufgetreten (so auch der ebenfalls beigefügte Arztbrief von Dr. K. an eine private Versicherung der Klägerin vom 16. Mai 2001). Über einen Sturz mit Ruptur der Rotatorenmanschette 4/2000 wird auch im Arztbrief der T.-Klinik vom 16. Juli 2002 nach stationärem Rehabilitationsaufenthalt vom 19. Juni bis 17. Juli 2002 berichtet.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten sowie der Gerichtsakten beider Instanzen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat hat den Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden, nachdem sich die Beteiligten mit dieser Verfahrenweise einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Die gemäß §§ 143, 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Ein Zusammenhang der von der Klägerin geklagten Beschwerden mit den erlittenen Kriegsverletzungen ist nicht wahrscheinlich.

Da die Klägerin eine Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen geltend macht, ist Maßstab der rechtlichen Überprüfung § 48 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Soweit die Änderung zu Gunsten des Betroffenen erfolgt, soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden (§ 48 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 SGB X).

Als wesentliche Änderung der Verhältnisse kommt dabei u.a. eine Verschlimmerung der als Schädigungsfolgen anerkannten oder das Hinzutreten neuer Gesundheitsstörungen in Frage. Die anspruchsbegründenden Tatsachen der Verschlechterung bzw. Besserung des Gesundheitszustandes müssen erwiesen sein (vgl. u.a. BSGE 32, 203, 207, 209; 45, 1, 9/10). Weitere Voraussetzung für eine Neufeststellung ist, dass die Verschlimmerung der anerkannten oder das Hinzutreten neuer Gesundheitsstörungen eine Schädigungsfolge ist und nicht etwa andere, von schädigungsbedingten Einflüssen unabhängige Umstände dafür verantwortlich sind (vgl. BSGE 6, 87, 90; 11, 161, 163; 21, 75, 76). Hierfür ist die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs erforderlich, aber auch ausreichend (§ 1 Abs. 3 Satz 1 BVG). Wahrscheinlich ist diejenige Möglichkeit, der nach sachgerechter Abwägung aller Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt, d. h. wenn unter Berücksichtigung der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSGE 32, 203, 209; 45, 1, 9; 60, 58, 59). Der ursächliche Zusammenhang ist vor allem nicht schon dann wahrscheinlich, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist. Ob eine wesentliche Änderung der schädigungsbedingten Gesundheitsstörungen vorliegt, ist durch einen Vergleich der für die letzte bindend gewordene Entscheidung maßgebenden Verhältnisse mit denjenigen zu ermitteln, die bei der Prüfung der Neufeststellung vorliegen (vgl. BSG in SozR 3100, Nr. 21 zu § 62 BVG; BSGE 27, 244). Ist ein Sachverhalt nicht erweisbar, so hat nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast der Beteiligte die Folgen zu tragen, der aus dem nicht festgestellten Sachverhalt Rechte für sich herleitet (vgl. BSGE 19, 52; 30, 121; 43, 110).

Die Gewährung einer - höheren - Beschädigtenrente kommt hier nur dann in Betracht, wenn die geltend gemachte Gesundheitsstörung der rechten Schulter als so genannte mittelbare Schädigungsfolge im Ursachenzusammenhang mit dem schädigungsbedingten Verlust des linken Armes steht.

Zur Überzeugung des Senats ist jedoch nicht wahrscheinlich, dass die jetzt im Streit stehende Rotatorenmanschettenruptur der rechten Schulter als weitere Schädigungsfolge wesentlich auf den Verlust des linken Armes zurückzuführen ist. Vielmehr spricht mehr für eine schädigungsunabhängige Verursachung der Erkrankung. Eine im Rechtssinne wesentliche Änderung der Verhältnisse ist damit nicht hinreichend nachgewiesen.

Gegen einen Zusammenhang der Rotatorenmanschettenruptur rechts mit den anerkannten Schädigungsfolgen spricht bereits, dass keine medizinischen Erkenntnisse darüber vorliegen, dass bei paarigen Extremitäten das Fehlen der einen zu einer Überlastung der anderen führt. Dabei orientiert sich der Senat im Interesse der Gleichbehandlung aller Behinderten an den Bewertungsmaßstäben, wie sie in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht", Ausgabe 2004 (AP) niedergelegt sind (vgl. BSG SozR 3870 § 3 SchwbG Nr. 4; SozR 3 - 3870 § 4 SchwbG Nr. 19 und Urteil vom 07.11.2001 aaO). Die AP besitzen zwar keine Normqualität, weil sie weder auf einem Gesetz noch auf einer Verordnung oder auch nur auf Verwaltungsvorschriften beruhen. Sie sind vielmehr als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, die in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirken, und haben deshalb normähnliche Auswirkungen. Auch sind sie im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden (vgl. BSGE 72, 285, 286; BSG SozR 3 - 3870 aaO; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R).

Nach den AP Nr. 122 S. 255 ff sind im Bereich der Wirbelsäule Folgeerkrankungen beim Verlust einer oberen Extremität denkbar. Denn beim Verlust einer oberen Extremität, besonders im Oberarm oder im Schultergelenk, erfolgt in der Regel eine seitliche Verbiegung der Wirbelsäule, zusammen mit einer Anhebung des Schultergürtels der Amputationsseite. Diese Erscheinungen stellen im allgemeinen keine zusätzliche Behinderung, sondern einen Ausgleich der durch die Amputation veränderten Statik dar.

Nach Verlust einer unteren Extremität kann – statisch bedingt und fast immer mit einem Beckenschiefstand verbunden – ebenfalls eine kompensatorische seitliche Verbiegung der Wirbelsäule auftreten, die dann meist großbogig verläuft. Von entscheidender Bedeutung können hierbei vor allem die langdauernde Benutzung einer nicht längengerechten Prothese, die Unmöglichkeit des Tragens einer Prothese, erhebliche Bewegungseinschränkungen der verbliebenen Gelenke oder erschwerter Prothesengang infolge ungünstiger Stumpfverhältnisse sein. Liegt bei einem einseitig Beinamputierten eine seitliche Verbiegung der Wirbelsäule ohne solche Begleit- oder Folgeerscheinungen des Gliedmaßenverlustes vor, kann die Amputation im allgemeinen nicht als wesentliche Bedingung der seitlichen Verbiegung angesehen werden.

Es ist aber bisher nicht erwiesen, dass es durch einen Gliedmaßenverlust an der verbliebenen paarigen Gliedmaße zu Schäden (z.B. Arthrosen, Senkfüße, Krampfadern) durch "Überlastungen" kommt. Die Annahme von Schäden an unversehrten Gliedmaßen infolge einer Amputation kommt allenfalls dann in Betracht, wenn die Amputation zu einer langdauernden und sehr ausgeprägten Fehlbelastung geführt hat, wie es beispielsweise bei Beinamputierten bei der Unmöglichkeit, eine Prothese zu tragen, oder bei einer prothetisch nicht ausgleichbaren Hüftkontraktur der Fall sein kann.

Unzweifelhaft hat die Klägerin über viele Jahre hinweg den rechten Arm weitergehend zum Einsatz bringen müssen, als dies ein Nichtbeschädigter tun muss, dem beide Arme zur Verfügung stehen. Insoweit ist ein Zusammenhang der - degenerativen - Rotatorenmanschettenruptur mit der erhöhten Belastung zwar einerseits denkbar. Andererseits unterliegt die Rotatorenmanschette auch ohne besondere Einwirkungen in hohem Maß der Degeneration. Diese beginnt regelmäßig ab dem dritten Lebensjahrzehnt, nach dem 60. Lebensjahr steigt die Wahrscheinlichkeit eines Rotatorenmanschettendefekts je nach Studie, Alter u.a., auf 20% bis 100% (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage 2003 S. 504 ff). Bei der Klägerin traten in den 90er Jahren Beschwerden im Bereich der rechten Schulter auf, somit in einem Alter von über 70 Jahren. Daher ist es bereits rein statistisch gesehen wahrscheinlich, in diesem Alter - auch ohne Amputation einer Gliedmaße - einen Rotatorenmanschettendefekt zu erleiden.

Auch Prof. Dr. P. hat in seinem Gutachten sowie der ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme für das Sozialgericht letztlich die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs nicht zweifelsfrei bejaht. In seinem Gutachten hat er ausgeführt, bei der Klägerin bestehe an der rechten Schulter eine ausgeprägt degenerative Veränderung sowohl des Humeroglynoidalgelenks als auch des Schultereckgelenks. Diese degenerativen Veränderungen könnten durchaus von einer jahrzehntelangen verstärkten Belastung des Schultergelenks bei Einarmigkeit herrühren. In der ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme auf Nachfrage des Gerichts hat er allerdings ausgeführt, dass auch bei jüngeren Menschen aufgrund der besonderen Schultergelenksanatomie insbesondere bei Überkopfarbeiten häufig Impingementsyndrome aufträten und deshalb eine Abwägung zu erfolgen habe, ob die bei der Klägerin bestehenden Erkrankungen auf natürlich bedingte degenerative Abläufe oder auf die Folgen der Kriegseinwirkungen zurückzuführen seien.

Daher ist jedenfalls unter rein medizinischen Gesichtspunkten der Zusammenhang der geklagten Beschwerden mit den anerkannten Schädigungsfolgen nicht hinreichend wahrscheinlich.

Hinzu kommt, dass begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass nicht die Überlastung, sondern der Sturz der Klägerin vom Oktober 1997 wesentlich für die geklagten Beschwerden ist. Im Befundbericht der S.-Klinik Stuttgart vom 30. Dezember 1998 ist u.a. ausgeführt, dass die Klägerin nach einem traumatischen Ereignis im Oktober 1997 über deutliche Schmerzen und Einschränkungen im Bereich des rechten Schultergelenks geklagt hat. Im Befundbericht der Sportklinik vom 5. April 2001 wird weiter ausgeführt, die Klägerin sei nach einer Schulteroperation im März 1999 subjektiv zufrieden bei verbesserter Beweglichkeit und Minderung der Schmerzsymptomatik. Im April 2000 sei sie wieder auf die rechte Schulter gestürzt, nachfolgend seien erneut Beschwerden aufgetreten (so auch der ebenfalls beigefügte Arztbrief von Dr. K. an eine private Versicherung der Klägerin vom 16. Mai 2001). Über einen Sturz mit Ruptur der Rotatorenmanschette 4/2000 wird auch im Arztbrief der T.-Klinik vom 16. Juli 2002 nach stationärem Rehabilitationsaufenthalt vom 19. Juni bis 17. Juli 2002 berichtet.

Unter Berücksichtigung dessen kommt auch dem Sturz der Klägerin vom Oktober 1997 möglicherweise ebenfalls ursächliche Bedeutung für die geklagten Beschwerden zu.

Berücksichtigt man daher die mit dem Alter der Klägerin beinahe zwangsläufig verbundene Degeneration der Rotatorenmanschette, die auch im übrigen bestehenden degenerativen Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule und den Knien sowie den Umstand, dass die Klägerin nachweislich erst im Oktober 1997 nach einem Sturz über erhebliche Beschwerden im Bereich der rechten Schulter klagte, die sich - nach zwischenzeitlicher Besserung - nach einem erneuten Sturz im April 2000 wieder verschlechterten, kommt diesen Möglichkeiten neben dem Gesichtspunkt einer möglichen Mehrbelastung infolge der Amputation jedenfalls gleiches Gewicht zu. Dies hat letztlich auch Prof. Dr. P. in seinem Gutachten für das SG so gesehen, jedenfalls in Abwägung degenerativer Veränderungen zu der von der Klägerin vermuteten Überlastung, ohne allerdings auf die Stürze einzugehen. Der Nachweis eines wahrscheinlichen Zusammenhangs ist der Klägerin daher auch unter Würdigung der Ausführungen von Prof. Dr. P. nicht gelungen. Schließlich erkennt der Senat auch im Hinblick auf die Angaben der Klägerin im Termin vom 22. August 2005 keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Stürze durch die Einarmigkeit der Klägerin wesentlich bedingt gewesen sein könnten.

Der Senat teilt deshalb die Auffassung des SG, es sei wahrscheinlich, dass die Beschwerden ursächlich auf die Amputation des linken Arms zurückzuführen seien, nicht.

Daher war die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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