L 6 SB 3647/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 3 SB 1507/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 3647/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 11. August 2004 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Anerkennung als Schwerbehinderte mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50.

Die 1956 geborene Klägerin beantragte am 08.11.2002 beim Versorgungsamt Rottweil (VA) die Feststellung von Behinderungen und die Ausstellung eines Schwerbehinderten-Ausweises. Das VA holte von der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. T.-A. den Befundbericht vom 25.11.2002 und von dem Orthopäden Dr. B. den Befundbericht vom 20.02.2003, jeweils mit weiteren ärztlichen Unterlagen, ein. In Auswertung der versorgungsärztlichen (vä) Stellungnahme vom 25.03.2003 stellte das VA sodann mit Bescheid vom 31.03.2003 den GdB seit Antragstellung mit 30 fest, wobei es als Funktionsbeeinträchtigungen "Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, Funktionsbehinderung des linken Ellenbogengelenks, Mittelnervendruckschädigung links (Einzel-GdB 20), Funktionsbehinderung des linken Kniegelenkes, Funktionsstörung durch linksseitige Zehenfehlform, Funktionsstörung durch beidseitige Fußfehlform (Einzel-GdB 20), depressive Verstimmung (Einzel-GdB 10), Adipositas permagna, Verlust der Gallenblase, Nierensteinleiden, Nabelbruch mit Nabelverlust (Einzel-GdB 10)" berücksichtigte.

Mit ihrem dagegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, der GdB sei zu gering bewertet. Wegen ihrer Gesundheitsstörungen habe sie erhebliche Schwierigkeiten am Arbeitsplatz. Der GdB betrage mindestens 50. Nach Einholung der vä Stellungnahme vom 30.04.2003 wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20.05.2003 zurück.

Dagegen erhob die Klägerin am 28.05.2003 Klage vor dem Sozialgericht Reutlingen (SG). Das SG holte von dem Orthopäden B. die sachverständige Zeugenauskunft vom 07.11.2003 sowie auf Antrag der Klägerin gem. § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von Prof. Dr. H. das orthopädische Gutachten vom 26.02.2004 und von Dr. M. das neurologisch-psychiatrische Gutachten vom 16.07.2004 ein. Der Orthopäde B. beschrieb chronische Dorsalgien mit rezidivierender ISG-Blockierung, Senk-/Spreizfüße beidseits ohne Sensibilitätsstörungen sowie eine Superduktusstellung der Zehe II links. Der vom Beklagten festgestellte Gesamt-GdB von 30 erscheine zutreffend, wenngleich seines Erachtens auch ein Gesamt-GdB von 40 angenommen werden könne. Prof. Dr. H. beschrieb einen Zustand nach Karpaltunneloperation links mit Dekompression des Radialisnerven, rezidivierende Arthralgien im Zeigefinger- und Mittelfingergrundgelenk rechts sowie einen Weichteilverlust der Daumenkuppe rechts. Des weiteren beschrieb er ein funktionelles Halswirbelsäulen (HWS)-Syndrom, ein fehlstatisch bedingtes Thorakolumbalsyndrom bei diskretem degenerativem Bandscheibenschaden L3/L4, ein peripatellares Schmerzsyndrom (Chondropathia patellae) und eine initiale mediale Gonarthrose sowie einen Zustand nach Korrekturosteotomie des ersten Mittelfußstrahls rechts bei Hallux valgus, Zustand nach zweifacher Hohmann’scher Operation des II. Zehs rechts und deutliche Senk-Spreizfüße beidseits mit leichter Großzehengrundgelenksarthrose rechts. Die Situation im Bereich der Hände, HWS sowie der Kniegelenke sei sozialmedizinisch irrelevant, die Wirbelsäulensituation werde vor allem durch die Rumpfwirbelsäulenfehlstatik bestimmt, wobei bei großzügiger Auslegung der Richtlinien ein Einzel-GdB von 20 begründbar sei. Aufgrund der Situation des linken Fußes sei ein Einzel-GdB von 10 begründbar. Bei großzügiger Auslegung sei ein Gesamt-GdB von 30 begründbar. Dr. M. beschrieb bei der Klägerin eine ängstliche Persönlichkeitsstörung mit Somatisierungstendenz, eine reizlose Narbe nach Karpaltunneloperation links sowie eine Abschwächung des Achillessehnenreflexes links ohne Krankheitswert. Für die ängstliche Persönlichkeitsstörung mit Neigung zu Bruxismus und ausgeprägter Somatisierungstendenz sei ein Einzel-GdB von 10 anzunehmen. Soweit es aus neurologisch-psychiatrischer Sicht beurteilbar sei, scheine ein Gesamt-GdB von 30 zutreffend.

Mit Gerichtsbescheid vom 11.08.2004 wies das SG die Klage ab. Der Einzel-GdB für die Wirbelsäule betrage nicht mehr als 20, die Funktionsbehinderung des linken Kniegelenkes, die Funktionsstörung durch eine linksseitige Zehenfehlform und eine beidseitige Fußfehlform sei durch den Beklagten zutreffend mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet worden. Ob bei der Klägerin - wie vom Beklagten angenommen - eine depressive Verstimmung oder - wie von Dr. M. dargelegt - eine ängstliche Persönlichkeitsstörung mit Somatisierungstendenz vorliege, könne dahingestellt bleiben. Jedenfalls könne für die psychische Störung kein höherer Einzel-GdB als 10 angenommen werden. Auch für die vom Beklagten berücksichtigten internistischen Leiden (Adipositas permagna, Verlust der Gallenblase, Nierensteinleiden, Nabelbruch mit Nabelverlust) sei der vom Beklagten festgesetzte Einzel-GdB von 10 zutreffend. Unter Berücksichtigung dieser Einzel-GdB Werte könne der Gesamt-GdB nicht höher als mit 30 bewertet werden.

Dagegen hat die Klägerin am 24.08.2004 Berufung eingelegt. Ihre erheblichen Gesundheitsbeeinträchtigungen seien falsch eingeschätzt worden. Es bestehe die Gefahr eines erneuten Nabelbruchs, auch sei in absehbarer Zeit eine weitere Operation an den Füßen erforderlich, da das Großzehen-Grundgelenk links in der Endphase bewegungsgestört und auch die Beweglichkeit der zweiten Zehe links gestört sei. Die Klägerin hat u. a. den Arztbrief der Radiologischen Gemeinschaftspraxis Dres. H./B./B. vom 12.05.2004 über das Ergebnis einer Kernspintomographie der HWS vorgelegt.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 11.08.2004 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 31.03.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.05.2003 abzuändern und den Beklagen zu verurteilen, bei ihr einen GdB von mindestens 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat von der früheren Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg (LVA) - jetzt Rentenversicherung Land Baden-Württemberg - die Rentenakten der Klägerin, u. a. mit dem Entlassungsbericht der Reha-Klinik Ü., I., vom 05.04.2005 über den stationären Aufenthalt vom 23.02. bis 23.03.2005, beigezogen. Außerdem hat der Senat auf Antrag der Klägerin gem. § 109 SGG von Prof. Dr. W., Ärztlicher Direktor der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik, T., das unfallchirurgische Gutachten vom 03.01.2006 eingeholt. Prof. Dr. W. schätzte den Einzel-GdB für Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen auf 10 sowie für Fußdeformitäten mit statischer Auswirkung stärkeren Grades auf 20. Unter Berücksichtigung der auf nervenärztlichem Fachgebiet bestehenden Funktionsstörung bewertete er den Gesamt-GdB mit 30.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akten des SG und des Senats sowie die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten gem. § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor. Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG ist nicht zu beanstanden, denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 30.

Das SG hat die Rechtsvorschriften und Grundsätze zur Feststellung des GdB, insbesondere die Anwendbarkeit der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AP) zutreffend dargestellt. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat deshalb auf die entsprechenden Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung Bezug. Ergänzend ist lediglich darauf hinzuweisen, dass die AP nicht mehr in der Fassung der Ausgabe 1996, sondern in der nunmehr vorliegenden Fassung der Ausgabe 2004 (mit geändertem Titel: nicht mehr "Anhaltspunkte ... und nach dem Schwerbehindertengesetz" sondern " ... und nach dem Schwerbehindertenrecht") anzuwenden sind. Inhaltlich ergibt sich jedoch hinsichtlich der bei der Klägerin vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen keine Abweichung.

Das SG hat auch zutreffend festgestellt, dass bei der Klägerin kein höherer Gesamt-GdB als 30 in Betracht kommt. Auch insoweit wird auf die ausführlichen und zutreffenden Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.

Auch die im Berufungsverfahren durchgeführten Ermittlungen haben keine Ergebnisse erbracht, die eine andere Beurteilung zulassen. So wird z. B. im Entlassungsbericht der Reha-Klinik Ü. sowohl im Aufnahme- als auch im Entlassungsbefund eine freibewegliche Wirbelsäule beschrieben, auch wenn bei der Aufnahme der Klägerin die HWS-Muskulatur extrem verspannt war. Auch Prof. Dr. W. hat keine Bewegungseinschränkungen im Bereich der Wirbelsäule festgestellt, ebenso wenig wie im Übrigen Prof. Dr. H. in seinem für das SG erstatteten Gutachten. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es bei der Klägerin zu gelegentlichen behandlungsbedürftigen Schmerzzuständen im Bereich der Wirbelsäule kommt, wie der Orthopäde B. beschrieben hat, ist nach Auffassung des Senats mit Prof. Dr. W. für den Bereich der Wirbelsäule ein Einzel-GdB von 10 anzunehmen. Dies hat im Grund auch Prof. Dr. H. bestätigt, der nur bei großzügiger Auslegung der AP zu einem Einzel-GdB von 20 für die Wirbelsäule gekommen ist. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick darauf, dass relevante Nervenwurzelreizerscheinungen bei der Klägerin nicht beschrieben worden sind. Wenn somit der Beklagte für degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, Funktionsbehinderung des linken Ellenbogengelenkes (die nicht - jedenfalls nicht dauerhaft - vorliegt, so Prof. Dr. W.) und eine Mittelnervendruckschädigung links einen Einzel-GdB von 20 zugrunde gelegt hat, ist dies nicht zu Ungunsten der Klägerin erfolgt.

Auch soweit der Beklagte einen Einzel-GdB für eine Funktionsbehinderung des linken Kniegelenkes sowie eine Funktionsstörung durch linksseitige Zehenfehlform und durch beidseitige Fußfehlform zugrunde gelegt hat, kann keine höhere Bewertung erfolgen, zumal eine Funktionsbehinderung des linken Kniegelenkes, worauf sowohl Prof. Dr. H. wie auch Prof. Dr. W. hingewiesen haben, nicht vorliegt, sondern lediglich eine Chondropathia patellae. Prof. Dr. -W. nimmt zwar - im Gegensatz zu Prof. Dr. H. - einen Einzel-GdB von 20 für die bei der Klägerin vorliegenden Fußdeformitäten mit statischer Auswirkung stärkeren Grades an; ein höherer Einzel-GdB als vom Beklagten seiner Bewertung bereits zugrunde gelegt wird jedoch auch von ihm nicht angenommen.

Für die Beschwerden auf psychischem Gebiet haben sowohl der Beklagte wie auch der Sachverständige Dr. M. einen Einzel-GdB von 10 zugrunde gelegt, wobei es auch nach Auffassung des Senats unerheblich ist, ob man die psychische Behinderung als depressive Verstimmung oder als ängstliche Persönlichkeitsstörung mit Somatisierungstendenz bezeichnet. Wesentliche Auswirkungen dieser psychischen Störung, die eine höhere Bewertung des Einzel-GdB rechtfertigen könnten, sind weder von den gehörten Ärzten noch von den Sachverständigen beschrieben worden. Auch aus dem Entlassungsbericht der Reha-Klinik Ü. ergeben sich insoweit keine Hinweise. Dort wurde sogar eine psychosoziale/psychosomatische Diagnostik nicht für erforderlich gehalten, da die Ergebnisse der klinischen Diagnostik und der vorliegenden morphologischen Befunde weitgehend zu den anamnestisch angegebenen Fähigkeits- und Funktionsstörungen der Klägerin passten.

Für das erhebliche Übergewicht der Klägerin (Adipositas permagna), den Verlust der Gallenblase, das Nierensteinleiden und den Nabelbruch mit Nabelverlust hat der Beklagte zutreffend einen Einzel-GdB von lediglich 10 angenommen, da insoweit keine besonderen funktionellen Auswirkungen vorliegen. Auch die Gefahr eines weiteren Nabelbruches rechtfertigt - anders als die Klägerin dies meint - keine Höherbewertung des GdB. Dasselbe gilt im Übrigen auch für evtl. weitere erforderliche Operationen im Bereich der Füße, deren Notwendigkeit durch die vorliegenden Gutachten jedoch nicht belegt ist.

Aus diesen Einzel-GdB-Werten hat der Beklagte zu Recht einen Gesamt-GdB von 30 gebildet.

Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist nach den Grundsätzen zu verfahren, wie sie in den AP (Abschnitt 19) ihren Niederschlag gefunden haben. Danach sind bei der Festsetzung des Gesamt-GdB die Auswirkungen aller Beeinträchtigungen unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander maßgebend (§ 69 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch [SGB] IX). Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, führen nicht zu einer Zunahme der Gesamtbeeinträchtigung, auch wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Gesundheitsstörungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Behinderung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB verursacht. Dann ist im Hinblick auf weitere Behinderungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung insgesamt größer wird und deshalb dem höchsten Einzel-GdB ein Behinderungsgrad von 10 oder 20 oder mehr hinzuzufügen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Mathematische Methoden, insbesondere eine Addition der einzelnen GdB-Werte, sind hierbei ausgeschlossen (BSG SozR 3870 § 3 SchwbG Nr. 4).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kommt im Fall der Klägerin bei Einzel-GdB-Werten von 2x 20 und 1x 10 ein höherer Gesamt-GdB als 30 nicht in Betracht, zumal sowohl Prof. Dr. H. wie auch Dr. M. und Prof. Dr. W. den vom Beklagten festgesetzten Gesamt-GdB für angemessen halten. Auch der Orthopäde B. hat den Gesamt-GdB von 30 für angemessen gehalten. Soweit er dargelegt hat, dass aus seiner Sicht auch ein Gesamt-GdB von 40 möglich wäre, kann der Senat dies angesichts der vorliegenden Befunde nicht nachvollziehen.

Die Berufung konnte daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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