Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 10 U 00604/02
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 U 4976/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 11. Oktober 2002 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung und Entschädigung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 1317 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung streitig.
Die Klägerin ist die Ehefrau des im Dezember 1946 geborenen und am 22. Oktober 2004 verstorbenen Versicherten H. (im folgenden: V), mit dem sie bis zu dessen Tod in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat. V war vom 2. August 1965 bis 12. September 1969 als Papiermaschinengehilfe bei der Papierfabrik A. GmbH und Co beschäftigt; dabei oblagen ihm u. a Reinigungsarbeiten bei Maschinenstillständen sowie die Mithilfe bei Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten, bei denen nach den Feststellungen des Technischen Aufsichtsbeamten Dr.-Ing. B. zeitweise bis zu 200 Liter TRI pro Schicht, im Normalfall jedoch sehr viel weniger, manchmal nur 1 bis 2 Liter pro Mann und Woche verbraucht wurden. Ferner bestand während des gesamten Beschäftigungszeitraums eine Exposition gegenüber Pentachlorphenol (PCP), das täglich in pulverisierter Form aus 10 kg Säcken - nach späteren Angaben des V und der Zeugen P. und K. aus 25 kg Säcken - direkt in den Papiermaschinen-Wasserkreislauf gegeben wurde; der dabei entstehenden starken Staubentwicklung habe man durch "Kopf drehen" versucht zu entgehen. Von 1970 bis 1972 wurde V auf Kosten des Arbeitsamts L. - Dienststelle Bad S. - (AA) zum Großhandelskaufmann umgeschult und war danach 1973/1974 bei der Deutschen Bundesbahn im Schalterdienst und im Anschluss daran bis 2000 bei der Bundeszollverwaltung im Abfertigungsdienst tätig.
Am 3. Januar 2000 beantragte V bei der Beklagten formlos die Anerkennung seiner schweren Depressionen, die er auf die berufliche Exposition gegenüber PCP in den Jahren 1965 bis 1969 zurückführte, als BK; dazu gab er im Fragebogen an, wegen dauernder Beschwerden (Magen, Hautausschlägen, Schlafstörungen) in den Jahren 1968 bis 1970 vom Hausarzt zum Nervenarzt überwiesen worden zu sein, und legte zahlreiche ärztliche Unterlagen vor, u. a. - auszugsweise - den Bericht der H.-Klinik S. B. - Fachklinik für Psychosomatische Erkrankungen - vom 24. November 1981, der die Diagnose "psychosomatisches Syndrom und funktionelle Oberbauchbeschwerden bei zwangsneurotisch-depressiver Persönlichkeitsstruktur" enthielt; die übrigen vorgelegten Unterlagen betrafen den Zeitraum ab 1993 (Nierenkrebserkrankung des V). Die Beklagte leitete Ermittlungen ein: sie zog das Vorerkrankungsregister der AOK Bad S. und der DAK, Bezirksgeschäftsstelle Karlsruhe, die Zeiträume von April 1961 bis September 1969 sowie Februar 1970 bis Juni 1972 betreffend, bei, die keine Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen psychischer bzw. psychovegetative Erkrankungen auswiesen. Ferner erhob die Beklagte von den früher oder aktuell behandelnden Ärzten Dr. G., Dr. K., Dr. B., Dr. Ge. und Dr. Gei., Auskünfte, wobei Dr. Ge. - ohne Angabe von Befunden - über eine Erstkonsultation bei seinem Vorgänger im Oktober 1982 berichtete und Dr. G. zwei Arztbriefe vom Dezember 1988 und Juli 1989 (Diagnose: chronische Prostatitis mit fraglicher psychosomatischer Überlagerung und Ausgestaltung) übersandte. In der Folgezeit wurde V auf Veranlassung der Beklagten arbeitsmedizinisch von Prof. Dr. D., Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Erlangen-Nürnberg, und neurologisch-psychiatrisch von Prof. Dr. G., Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, begutachtet. Professor Dr. G. führte in seinem Gutachten vom 3. November 2000 aus, bei unauffälligem neurologischen Untersuchungsbefund ergäben sich keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Schädigung des zentralen oder peripheren Nervensystems; die vorliegenden Aktenunterlagen wiesen zudem nicht auf eine organische psychische Störung hin, da deren klinisches Erscheinungsbild und deren Langzeitverlauf nicht der im Rahmen einer toxischen Enzephalopathie zu erwartenden Symptomatik entspräche. Damit ergäben sich weder für eine toxische Enzephalopathie noch für eine toxische Polyneuropathie ausreichende Anhaltspunkte. Professor Dr. D. führte in seinem Gutachten vom 27. November 2000 aus, unter synoptischer Betrachtung der Aktenlage und der im Rahmen der Untersuchung am 16. und 17. Oktober 2000 festgestellten Befunde könne das Vorliegen einer toxischen Enzephalopathie oder Polyneuropathie nicht mit hinreichender Sicherheit nachgewiesen werden; auch könne das angegebene vielschichtige Beschwerdebild im Sinne psycho-vegetativer Beschwerden und eines psychosomatischen Beschwerdekomplexes nach derzeitigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als Folge einer Belastung mit PCP angesehen werden. Nachdem die Staatliche Gewerbeärztin G. eine BK nicht zur Anerkennung vorschlug, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 6. April 2001 die Feststellung und Entschädigung einer BK nach Nr. 1317 ab, wobei sie ausführte, im Hinblick auf die Rückwirkungsklausel des § 6 BKV vom 31. Oktober 1997 könne eine BK schon aus formalen Gründen nicht anerkannt werden, ferner lägen auch die medizinischen Voraussetzungen für diese BK (toxische Enzephalopathie oder Polyneuropathie) nach der Beurteilung der gehörten Sachverständigen nicht vor. Der hiergegen erhobenen Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2002).
Deswegen hat V am 25. Februar 2002 Klage zum Sozialgericht Freiburg erhoben und geltend gemacht, er habe vor 1992 nicht an Depressionen gelitten. Die Behandlung in der Psychosomatischen Klinik sei nicht wegen seelischer Störungen, sondern ausschließlich wegen Magenbeschwerden erfolgt. Das SG hat die Klage (ohne Durchführung von Ermittlungen) mit Urteil vom 11. Oktober 2002 abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es - gestützt auf die Gutachten von Prof. Dr. G. und Prof. Dr. D. - ausgeführt, eine toxische Enzephalopathie oder Polyneuropathie sei nicht nachgewiesen.
Gegen das am 10. Dezember 2002 zugestellte Urteil hat V am 20. Dezember 2002 Berufung eingelegt und an seinem Begehren festgehalten.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg von 11. Oktober 2002 sowie den Bescheid vom 6. April 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Februar 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die psychische Erkrankung ihres verstorbenen Ehemanns E. H. als Folge einer toxischen Enzephalopathie als Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung anzuerkennen und zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung im Ergebnis für zutreffend.
Die Klägerin hat im Laufe des Berufungsverfahrens von dem zunächst gem. § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gestellten Antrag auf Einholung eines Gutachtens bei Prof. Dr. D., Zentrum Umwelt- und Arbeitsmedizin, Universität G., Abstand genommen. Ferner haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gem. § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.
Zum weiteren Vorbringen der Beteiligten wird auf Verwaltungsakte der Beklagten (zwei Bände) sowie auf die Prozessakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.
Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten gem. § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.
Die statthafte (§ 143, § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG) sowie frist- und formgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Die Klägerin hat - als Sonderrechtsnachfolgerin im Sinne des § 56 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I ) - gegenüber der Beklagten keinen Anspruch auf Feststellung (und Entschädigung) einer BK nach Nr. 1317 der Anlage zur BKV.
Auf den zutreffend im Wege der Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) i.V.m. der Feststellungsklage (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG) geltend gemachten Anspruch finden die Vorschriften des ab 1. Januar 1997 geltenden Sozialgesetzbuchs Siebtes Buch (SGB VII) Anwendung. Ferner ist die BKV vom 31. Dezember 1997 zu beachten; hier insbesondere § 6 Abs. 1 BKV, wonach eine Krankheit nach (u. a) Nr. 1317 auf Antrag als BK anzuerkennen ist, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1992 eingetreten ist (vgl. zur Verfassungsmäßigkeit der Stichtagsregelung BVerfG, 9. Oktober 2000, VB 1/2001 = HV-Info 2, 2001, 123). Nach § 26 SGB VII haben Versicherte nach Maßgabe der folgenden Vorschriften Anspruch auf Leistungen. Grundvoraussetzung für die Gewährung einer Rente ist gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII, dass die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus, um wenigstens 20 v.H. gemindert ist. Nach § 7 Abs. 1 SGB VII sind Versicherungsfälle Arbeitsunfälle und BKen. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind BKen Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Bken bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden; dazu zählt nach Nr. 1317 der Anlage zur BKV "Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische". Voraussetzung für die Anerkennung einer BK ist, dass die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigenden Einwirkungen sowie die Erkrankung, derentwegen Entschädigung begehrt wird, nachgewiesen sind. Es muss ein so hoher Grad an Wahrscheinlichkeit vorliegen, dass alle Umstände des Einzelfalls nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung hiervon zu begründen (BSGE 61, 127, 128). Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (BSGE 61, 127, 129). Dies bedeutet, dass nach sachgerechter Abwägung aller medizinischen Gesichtspunkte des Einzelfalls aufgrund der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang sprechen muss, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (BSGE 60, 58, 59).
Zwischen den Beteiligten ist unumstritten, dass V von 1965 bis 1969 als Papiermaschinengehilfe eine versicherte Tätigkeit ausgeübt hat und hierbei auch organischen Lösungsmitteln - dazu zählt jedenfalls TRI - ausgesetzt gewesen ist. Ob neben diesem Stoff auch das in erster Linie von V angeschuldigte PCP zu den organischen Lösungsmitteln oder deren Gemische zählt, lässt der Senat offen; ebenso lässt der Senat offen, in welchem Ausmaß V gegenüber diesen Stoffen exponiert war. Denn der geltend gemachte Anspruch scheitert daran, dass die in der Listen-Nr. 1307 genannte Erkrankung - Polyneuropathie bzw. Enzephalopathie - bei V nicht nachgewiesen werden konnte. Der Senat stützt seine Entscheidung auf die im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten von Prof. Dr. G. und Prof. Dr. D ... Der von Prof. Dr. G. erhobene neurologische Befund (Hirnnerven, Sensibilität, Motilität, Reflexe, Koordination, vegetatives Nervensystem, EEG, elektromyografische Untersuchungen) war zum Zeitpunkt der Untersuchung regelrecht. Die hieraus gezogene Schlussfolgerung, ausreichende Anhaltspunkte für eine Schädigung des zentralen oder peripheren Nervensystems lägen nicht vor, überzeugt den Senat. Angesichts des psychischen Befundes, der keine Hinweise auf Merkfähigkeits- oder Gedächtnisstörungen, auf einen verlangsamten oder nicht folgerichtigen Gedankengang, auf Beeinträchtigung von Auflassungsgabe oder Umstellungsfähigkeit, auf vorschnelle Ermüdungserscheinungen oder Konzentrationsbeeinträchtigung ergeben hat, und angesichts der in den Akten dokumentierten Entwicklung der psychischen Störungen des V, die - entgegen Vs Darstellung - keine Hinweise für nervenärztliche Konsultationen im Zeitraum von 1965 bis 1969 enthalten (das Vorerkrankungsregister ist diesbezüglich leer, ärztliche Befunde aus dieser Zeit mit entsprechender Diagnose fehlen gänzlich), sondern solche frühestens ab Oktober 1981 - und damit ca. 11 Jahre nach Aufgabe der belastenden Tätigkeit - belegen, überzeugt den Senat auch die weitere Beurteilung des Gutachters, der mit Blick auf das klinische Erscheinungsbild und den Langzeitverlauf der psychischen Störungen eine toxische Enzephalopathie bei V nicht feststellen konnte. Dieser Beurteilung hat sich Prof. Dr. D. uneingeschränkt angeschlossen. Auch der Umstand, dass V 1970 auf Kosten des AA umgeschult wurde, zwingt nicht zu der Annahme, damals hätte eine toxische Enzephalopathie bei V vorgelegen; im Gegenteil ist vielmehr die Annahme gerechtfertigt, dass bei einer solchen Erkrankung die Umschulung nicht bewilligt worden wäre, weil deren erfolgreicher Abschluss kaum hätte prognostiziert werden können.
Bei nicht nachgewiesener Erkrankung erübrigt sich ein Eingehen auf die Rückwirkungsklausel des § 6 BKV. Soweit Prof. Dr. D. darüber hinaus darauf hingewiesen hat, dass nach derzeitigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand auch das vielschichtige psycho-vegetative Beschwerdebild des V nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als Folge einer Belastung mit PCP angesehen werden kann, ist dies im Rahmen der BK nach Nr. 1317 nicht entscheidungsrelevant.
Die Berufung der Klägerin ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung und Entschädigung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 1317 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung streitig.
Die Klägerin ist die Ehefrau des im Dezember 1946 geborenen und am 22. Oktober 2004 verstorbenen Versicherten H. (im folgenden: V), mit dem sie bis zu dessen Tod in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat. V war vom 2. August 1965 bis 12. September 1969 als Papiermaschinengehilfe bei der Papierfabrik A. GmbH und Co beschäftigt; dabei oblagen ihm u. a Reinigungsarbeiten bei Maschinenstillständen sowie die Mithilfe bei Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten, bei denen nach den Feststellungen des Technischen Aufsichtsbeamten Dr.-Ing. B. zeitweise bis zu 200 Liter TRI pro Schicht, im Normalfall jedoch sehr viel weniger, manchmal nur 1 bis 2 Liter pro Mann und Woche verbraucht wurden. Ferner bestand während des gesamten Beschäftigungszeitraums eine Exposition gegenüber Pentachlorphenol (PCP), das täglich in pulverisierter Form aus 10 kg Säcken - nach späteren Angaben des V und der Zeugen P. und K. aus 25 kg Säcken - direkt in den Papiermaschinen-Wasserkreislauf gegeben wurde; der dabei entstehenden starken Staubentwicklung habe man durch "Kopf drehen" versucht zu entgehen. Von 1970 bis 1972 wurde V auf Kosten des Arbeitsamts L. - Dienststelle Bad S. - (AA) zum Großhandelskaufmann umgeschult und war danach 1973/1974 bei der Deutschen Bundesbahn im Schalterdienst und im Anschluss daran bis 2000 bei der Bundeszollverwaltung im Abfertigungsdienst tätig.
Am 3. Januar 2000 beantragte V bei der Beklagten formlos die Anerkennung seiner schweren Depressionen, die er auf die berufliche Exposition gegenüber PCP in den Jahren 1965 bis 1969 zurückführte, als BK; dazu gab er im Fragebogen an, wegen dauernder Beschwerden (Magen, Hautausschlägen, Schlafstörungen) in den Jahren 1968 bis 1970 vom Hausarzt zum Nervenarzt überwiesen worden zu sein, und legte zahlreiche ärztliche Unterlagen vor, u. a. - auszugsweise - den Bericht der H.-Klinik S. B. - Fachklinik für Psychosomatische Erkrankungen - vom 24. November 1981, der die Diagnose "psychosomatisches Syndrom und funktionelle Oberbauchbeschwerden bei zwangsneurotisch-depressiver Persönlichkeitsstruktur" enthielt; die übrigen vorgelegten Unterlagen betrafen den Zeitraum ab 1993 (Nierenkrebserkrankung des V). Die Beklagte leitete Ermittlungen ein: sie zog das Vorerkrankungsregister der AOK Bad S. und der DAK, Bezirksgeschäftsstelle Karlsruhe, die Zeiträume von April 1961 bis September 1969 sowie Februar 1970 bis Juni 1972 betreffend, bei, die keine Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen psychischer bzw. psychovegetative Erkrankungen auswiesen. Ferner erhob die Beklagte von den früher oder aktuell behandelnden Ärzten Dr. G., Dr. K., Dr. B., Dr. Ge. und Dr. Gei., Auskünfte, wobei Dr. Ge. - ohne Angabe von Befunden - über eine Erstkonsultation bei seinem Vorgänger im Oktober 1982 berichtete und Dr. G. zwei Arztbriefe vom Dezember 1988 und Juli 1989 (Diagnose: chronische Prostatitis mit fraglicher psychosomatischer Überlagerung und Ausgestaltung) übersandte. In der Folgezeit wurde V auf Veranlassung der Beklagten arbeitsmedizinisch von Prof. Dr. D., Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Erlangen-Nürnberg, und neurologisch-psychiatrisch von Prof. Dr. G., Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, begutachtet. Professor Dr. G. führte in seinem Gutachten vom 3. November 2000 aus, bei unauffälligem neurologischen Untersuchungsbefund ergäben sich keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Schädigung des zentralen oder peripheren Nervensystems; die vorliegenden Aktenunterlagen wiesen zudem nicht auf eine organische psychische Störung hin, da deren klinisches Erscheinungsbild und deren Langzeitverlauf nicht der im Rahmen einer toxischen Enzephalopathie zu erwartenden Symptomatik entspräche. Damit ergäben sich weder für eine toxische Enzephalopathie noch für eine toxische Polyneuropathie ausreichende Anhaltspunkte. Professor Dr. D. führte in seinem Gutachten vom 27. November 2000 aus, unter synoptischer Betrachtung der Aktenlage und der im Rahmen der Untersuchung am 16. und 17. Oktober 2000 festgestellten Befunde könne das Vorliegen einer toxischen Enzephalopathie oder Polyneuropathie nicht mit hinreichender Sicherheit nachgewiesen werden; auch könne das angegebene vielschichtige Beschwerdebild im Sinne psycho-vegetativer Beschwerden und eines psychosomatischen Beschwerdekomplexes nach derzeitigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als Folge einer Belastung mit PCP angesehen werden. Nachdem die Staatliche Gewerbeärztin G. eine BK nicht zur Anerkennung vorschlug, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 6. April 2001 die Feststellung und Entschädigung einer BK nach Nr. 1317 ab, wobei sie ausführte, im Hinblick auf die Rückwirkungsklausel des § 6 BKV vom 31. Oktober 1997 könne eine BK schon aus formalen Gründen nicht anerkannt werden, ferner lägen auch die medizinischen Voraussetzungen für diese BK (toxische Enzephalopathie oder Polyneuropathie) nach der Beurteilung der gehörten Sachverständigen nicht vor. Der hiergegen erhobenen Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2002).
Deswegen hat V am 25. Februar 2002 Klage zum Sozialgericht Freiburg erhoben und geltend gemacht, er habe vor 1992 nicht an Depressionen gelitten. Die Behandlung in der Psychosomatischen Klinik sei nicht wegen seelischer Störungen, sondern ausschließlich wegen Magenbeschwerden erfolgt. Das SG hat die Klage (ohne Durchführung von Ermittlungen) mit Urteil vom 11. Oktober 2002 abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es - gestützt auf die Gutachten von Prof. Dr. G. und Prof. Dr. D. - ausgeführt, eine toxische Enzephalopathie oder Polyneuropathie sei nicht nachgewiesen.
Gegen das am 10. Dezember 2002 zugestellte Urteil hat V am 20. Dezember 2002 Berufung eingelegt und an seinem Begehren festgehalten.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg von 11. Oktober 2002 sowie den Bescheid vom 6. April 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Februar 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die psychische Erkrankung ihres verstorbenen Ehemanns E. H. als Folge einer toxischen Enzephalopathie als Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung anzuerkennen und zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung im Ergebnis für zutreffend.
Die Klägerin hat im Laufe des Berufungsverfahrens von dem zunächst gem. § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gestellten Antrag auf Einholung eines Gutachtens bei Prof. Dr. D., Zentrum Umwelt- und Arbeitsmedizin, Universität G., Abstand genommen. Ferner haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gem. § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.
Zum weiteren Vorbringen der Beteiligten wird auf Verwaltungsakte der Beklagten (zwei Bände) sowie auf die Prozessakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.
Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten gem. § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.
Die statthafte (§ 143, § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG) sowie frist- und formgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Die Klägerin hat - als Sonderrechtsnachfolgerin im Sinne des § 56 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I ) - gegenüber der Beklagten keinen Anspruch auf Feststellung (und Entschädigung) einer BK nach Nr. 1317 der Anlage zur BKV.
Auf den zutreffend im Wege der Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) i.V.m. der Feststellungsklage (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG) geltend gemachten Anspruch finden die Vorschriften des ab 1. Januar 1997 geltenden Sozialgesetzbuchs Siebtes Buch (SGB VII) Anwendung. Ferner ist die BKV vom 31. Dezember 1997 zu beachten; hier insbesondere § 6 Abs. 1 BKV, wonach eine Krankheit nach (u. a) Nr. 1317 auf Antrag als BK anzuerkennen ist, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1992 eingetreten ist (vgl. zur Verfassungsmäßigkeit der Stichtagsregelung BVerfG, 9. Oktober 2000, VB 1/2001 = HV-Info 2, 2001, 123). Nach § 26 SGB VII haben Versicherte nach Maßgabe der folgenden Vorschriften Anspruch auf Leistungen. Grundvoraussetzung für die Gewährung einer Rente ist gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII, dass die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus, um wenigstens 20 v.H. gemindert ist. Nach § 7 Abs. 1 SGB VII sind Versicherungsfälle Arbeitsunfälle und BKen. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind BKen Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Bken bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden; dazu zählt nach Nr. 1317 der Anlage zur BKV "Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische". Voraussetzung für die Anerkennung einer BK ist, dass die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigenden Einwirkungen sowie die Erkrankung, derentwegen Entschädigung begehrt wird, nachgewiesen sind. Es muss ein so hoher Grad an Wahrscheinlichkeit vorliegen, dass alle Umstände des Einzelfalls nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung hiervon zu begründen (BSGE 61, 127, 128). Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (BSGE 61, 127, 129). Dies bedeutet, dass nach sachgerechter Abwägung aller medizinischen Gesichtspunkte des Einzelfalls aufgrund der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang sprechen muss, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (BSGE 60, 58, 59).
Zwischen den Beteiligten ist unumstritten, dass V von 1965 bis 1969 als Papiermaschinengehilfe eine versicherte Tätigkeit ausgeübt hat und hierbei auch organischen Lösungsmitteln - dazu zählt jedenfalls TRI - ausgesetzt gewesen ist. Ob neben diesem Stoff auch das in erster Linie von V angeschuldigte PCP zu den organischen Lösungsmitteln oder deren Gemische zählt, lässt der Senat offen; ebenso lässt der Senat offen, in welchem Ausmaß V gegenüber diesen Stoffen exponiert war. Denn der geltend gemachte Anspruch scheitert daran, dass die in der Listen-Nr. 1307 genannte Erkrankung - Polyneuropathie bzw. Enzephalopathie - bei V nicht nachgewiesen werden konnte. Der Senat stützt seine Entscheidung auf die im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten von Prof. Dr. G. und Prof. Dr. D ... Der von Prof. Dr. G. erhobene neurologische Befund (Hirnnerven, Sensibilität, Motilität, Reflexe, Koordination, vegetatives Nervensystem, EEG, elektromyografische Untersuchungen) war zum Zeitpunkt der Untersuchung regelrecht. Die hieraus gezogene Schlussfolgerung, ausreichende Anhaltspunkte für eine Schädigung des zentralen oder peripheren Nervensystems lägen nicht vor, überzeugt den Senat. Angesichts des psychischen Befundes, der keine Hinweise auf Merkfähigkeits- oder Gedächtnisstörungen, auf einen verlangsamten oder nicht folgerichtigen Gedankengang, auf Beeinträchtigung von Auflassungsgabe oder Umstellungsfähigkeit, auf vorschnelle Ermüdungserscheinungen oder Konzentrationsbeeinträchtigung ergeben hat, und angesichts der in den Akten dokumentierten Entwicklung der psychischen Störungen des V, die - entgegen Vs Darstellung - keine Hinweise für nervenärztliche Konsultationen im Zeitraum von 1965 bis 1969 enthalten (das Vorerkrankungsregister ist diesbezüglich leer, ärztliche Befunde aus dieser Zeit mit entsprechender Diagnose fehlen gänzlich), sondern solche frühestens ab Oktober 1981 - und damit ca. 11 Jahre nach Aufgabe der belastenden Tätigkeit - belegen, überzeugt den Senat auch die weitere Beurteilung des Gutachters, der mit Blick auf das klinische Erscheinungsbild und den Langzeitverlauf der psychischen Störungen eine toxische Enzephalopathie bei V nicht feststellen konnte. Dieser Beurteilung hat sich Prof. Dr. D. uneingeschränkt angeschlossen. Auch der Umstand, dass V 1970 auf Kosten des AA umgeschult wurde, zwingt nicht zu der Annahme, damals hätte eine toxische Enzephalopathie bei V vorgelegen; im Gegenteil ist vielmehr die Annahme gerechtfertigt, dass bei einer solchen Erkrankung die Umschulung nicht bewilligt worden wäre, weil deren erfolgreicher Abschluss kaum hätte prognostiziert werden können.
Bei nicht nachgewiesener Erkrankung erübrigt sich ein Eingehen auf die Rückwirkungsklausel des § 6 BKV. Soweit Prof. Dr. D. darüber hinaus darauf hingewiesen hat, dass nach derzeitigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand auch das vielschichtige psycho-vegetative Beschwerdebild des V nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als Folge einer Belastung mit PCP angesehen werden kann, ist dies im Rahmen der BK nach Nr. 1317 nicht entscheidungsrelevant.
Die Berufung der Klägerin ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Login
BWB
Saved