L 13 AL 4566/05 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 5 AL 3701/04 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AL 4566/05 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Wird wegen der Aufhebung der Bewilligung von Leistungen wegen Arbeitslosigkeit nach dem SGB III und ihrer Erstattung Anfechtungsklage erhoben und während des Klageverfahrens die sofortige Vollziehung der Erstattungsforderung angeordnet, ist ein Begehren auf ""Aussetzung der sofortigen Vollziehung"" als auf Anordnung der Kraft Gesetzes entfallenen aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage wegen der Aufhebung und Wiederherstellung der aufschiebende Wirkung wegen der Erstattung gerichtet anzusehen. Hätte der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung wegen der Aufhebung, bei der die wesentlichen verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Fragen zu entscheiden sind, Erfolg, dürfte es dem Leistungsträger solange verwehrt sein, wegen der Erstattung die sofortige Vollziehung anzuordnen.
2. Auch während des Klageverfahrens bleibt die Ausgangsbehörde für die Anordnung des Sofortvollzugs zuständig.
3. Mit der Begründung in der Sofortvollzugsanordnung, dass die Anfechtungsklage wegen der Erstattung kaum Aussicht auf Erfolg habe und der Kläger mit dem Rechtsstreit die Rückzahlung nur hinauszögern
wolle, lässt sich das besondere öffentliche Vollzugsinteresse nicht
begründen.
4. Bei Geldforderungen ist ein besonderes Interesse an der sofortigen
Vollziehung nur gegeben, wenn deren Vollstreckung gefährdet erscheint.
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 17. August 2005 abgeändert. Die Anordnung des Sofortvollzugs wegen der Erstattung von Arbeitslosenhilfe im Bescheid vom 18. Juni 2004 (Widerspruchsbescheid vom 19. August 2004) wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist zulässig, sachlich aber nur teilweise begründet.

Gegenstand der beim Sozialgericht Reutlingen anhängigen Anfechtungsklage sind zwei Bescheide der Agentur für Arbeit R. vom 18. Juni 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. August 2004. Im ersten Bescheid hat sie die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 1. Juli 2000 bis 10. April 2004 teilweise in Höhe von 6.955,46 EUR aufgehoben, weil der Ehefrau des Klägers mit Bescheid vom 31. März 2004 eine bis 30. Juni 2006 befristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit ab 1. Juli 2000 zuerkannt worden ist und diese Rente als Einkommen auf die Alhi anzurechnen sei; gleichzeitig wurde die Erstattung von Alhi in Höhe von 6.955,46 EUR gefordert. Mit dem zweiten Bescheid vom 18. Juni 2004 wurde die Erstattungsforderung mit dem Anspruch des Klägers auf Alhi ab 1. Juni 2004 in Höhe von 4,64 EUR täglich aufgerechnet.

Die am 26. August 2004 "gegen den Bescheid vom 18. Juni 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids" erhobene zulässige Anfechtungsklage war, wie der Prozessantrag vom 8. November 2004 zeigt, gegen beide Bescheide gerichtet. Diese Klage hatte, soweit sie die Kassation der teilweisen Aufhebung der Bewilligung zum Inhalt hatte, keine aufschiebende Wirkung, denn es handelte sich um eine Entziehung laufender Leistungen in Angelegenheiten der Bundesanstalt für Arbeit im Sinn von § 86a Abs. 2 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), auf welchen § 336a Satz 2 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) ausdrücklich verweist (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 9. Januar 2003 - L 13 AL 4260/02 ER-B veröffentlicht in Juris und Senatsbeschluss vom 25. August 2003 - L 13 AL 2374/03 ER). Soweit die Anfechtungsklage auf Beseitigung der Erstattung und der Aufrechnung abzielt, hat sie nach § 86a Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGG aufschiebende Wirkung (vgl. Senatsbeschlüsse vom 9. Januar und 25. August 2003 a.a.O.). Deshalb hat die Agentur für Arbeit R. am 22. September 2004 die sofortige Vollziehung des "Bescheids vom 18. Juni 2004" (Widerspruchsbescheid vom 19. August 2004) angeordnet. Welcher der beiden Bescheide damit gemeint ist, ergibt sich aus dem Ausspruch der Vollziehbarkeitsanordnung nicht. Der Begründung der Anordnung ist jedoch mit hinreichender Klarheit zu entnehmen, dass die Beklagte nur die sofortige Vollziehung der Erstattung angeordnet hat und anordnen wollte mit dem Ziel, die Erstattung, zunächst durch Aufrechnung, zu realisieren. Dagegen hat der Kläger am 8. November 2004 die "Aussetzung der sofortigen Vollziehung" beantragt und verfolgt dieses Ziel im Beschwerdeverfahren weiter. Sinngemäß erstrebt er damit die Anordnung der Kraft Gesetzes entfallenen aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage wegen der Aufhebung der Leistungsbewilligung sowie die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung wegen der Erstattung. Da nach § 50 Abs. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) die Aufhebung der Leistungsbewilligung ohne weiteres die Erstattung begründet und bei der Aufhebung die wesentlichen verwaltungsverfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Fragen zu entscheiden sind, hat der Kläger wegen der Aufhebung der Leistungsbewilligung auch ein Interesse an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Hätte ein solcher Antrag Erfolg, dürfte es der Beklagten solange verwehrt sein, wegen der Erstattung die sofortige Vollziehung anzuordnen. Das Interesse des Klägers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, kann ihm auch nicht deshalb abgesprochen werden, weil, was die Beklagte meint, wegen des Altersrentenbezugs seit 1. November 2004 und Beendigung des Bezugs von Alhi auch die Aufrechnung beendet worden ist. Das ändert nichts daran, dass die von der Beklagten nicht für hinfällig erklärte Anordnung des Sofortvollzugs nach wie vor wirksam ist, so dass diese jederzeit in der Lage ist, wegen der Erstattungsforderung - wie bereits angekündigt - die Vollstreckung einzuleiten oder beim Rentenversicherungsträger ein Verrechnungsersuchen zu stellen.

Das Begehren des Klägers ist insoweit begründet, als die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage wegen der Erstattung wiederherzustellen ist. Sein weiteres Begehren, die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage wegen der teilweisen Aufhebung der Leistungsbewilligung anzuordnen, hat keinen Erfolg.

Bei summarischer Prüfung spricht nach dem bisherigen Ergebnis des Verfahrens alles dafür, dass der Kläger mit der Anfechtungsklage wegen der teilweisen Aufhebung der Bewilligungen von Alhi nicht durchdringt. Voraussetzung für den Anspruch auf Alhi ist, dass der Arbeitlose bedürftig ist (vgl. § 190 Abs. 1 Nr. 5 SGB III). Nach § 193 Abs. 1 SGB III ist bedürftig ein Arbeitslosser, soweit das zu berücksichtigende Einkommen die Alhi, d.h. den dem Kläger zustehenden Leistungssatz nicht erreicht. Zu dem zu berücksichtigenden Einkommen gehört das Einkommen des vom Arbeitslosen nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatte, soweit es den Freibetrag übersteigt (§ 194 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III). Einkommen sind alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert einschließlich der Leistungen, die von Dritten beansprucht werden können (§ 194 Abs. 2 Satz 1 SGB III). Die befristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, die der Ehefrau mit Bescheid vom 31. März 2004 für die Zeit vom 1. Juli 2000 bis 30. Juni 2006 in Höhe von anfänglich 1.379,50 DM netto, ab 1. Mai 2004 in Höhe von 729,55 EUR netto zuerkannt wurde, gehört zu diesen Einnahmen in Geld. Sie ist, soweit sie über dem Freibetrag liegt, in vollem Umfang zu berücksichtigen, denn sie zählt nicht zu dem nach § 194 Abs. 3 SGB III privilegierten Einkommen. Der Umstand, dass die Rente erst nach Zuerkennung unter Abzug eines Erstattungsanspruchs zugeflossen ist, ändert nichts daran, dass es sich um Einkommen handelt, das für die Zeit ab 1. Juli 2000 mit dem Bezug von Alhi des Klägers zusammenfiel. Ebenso wie bei wiederkehrenden im Voraus gezahlten Leistungen als Einkommen ein Zufluss im jeweiligen Zahlungszeitraum der Alhi nicht Voraussetzung ist (vgl. BSGE 79, 297 f.; 88, 258 f.), ist auch bei nachträglich gewährten Leistungen ein Zufluss im Zahlungszeitraum nicht erforderlich, vielmehr sind die wiederkehrenden Leistungen in dem Zeitraum, für den sie bestimmt sind, als Einkommen anzusehen (so bereits BSG SozR ´3-4100 § 115 Nr. 3 zum Verletztengeld). Die Ermittlung des Freibetrags weist bei summarischer Prüfung keine Fehler zu Lasten des Klägers auf (zum Freibetrag bei Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vgl. BSG SozR 3-4100 § 138 Nr. 12, bestätigt durch BSG SozR 3-4100 § 138 Nr. 14), solche sind auch vom Kläger nicht gerügt worden. Das Recht und die Pflicht zur teilweisen Aufhebung der Leistungsbewilligungen folgt aus § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X in der Modifizierung durch § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III. Angesichts dessen, dass derzeit alles für die Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Leistungsbewilligungen spricht, hat es beim gesetzlichen Regelfall der fehlenden aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage zu bleiben.

Erfolg hat hingegen das Begehren des Klägers, die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage wegen der Erstattung von Alhi wiederherzustellen.

Dass in § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 SGG die nach der Anordnung des Sofortvollzugs vom Belastenden erstrebte Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung im Gegensatz zu § 80 Abs. 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nicht eigens aufgeführt ist, schadet nicht, denn aus der ausdrücklichen Erwähnung einer Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung in § 86b Abs. 2 Satz 3 SGG ergibt sich, dass der Gesetzgeber auch bei Sofortvollzuganordnungen einstweiligen Rechtsschutzes durch Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung hat einräumen wollen.

Nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesse an der sofortigen Vollziehung anordnet. Entgegen der Auffassung des Klägers bleibt die Ausgangsbehörde während des Klageverfahrens auch für die Anordnung des Sofortvollzugs zuständig (vgl. Funke-Kaiser in Bader, VwGO, 3. Auflage, § 80 Rz. 51; Finkelnburg/Jank, vorläufiger Rechtschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Auflage, Rz. 731; Puttler in Sodan/Ziekow, VwGO, § 80 Rz. 77). Zwar ist das formelle Erfordernis, dass die Agentur für Arbeit die Vollziehungsanordnung erlassen und das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der im Bescheid vom 18. Juni 2004 verfügten Erstattung schriftlich begründet hat, erfüllt. Die Agentur für Arbeit R. hat im Wesentlichen ausgeführt, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung gerechtfertigt sei, wenn nach einer Interessenabwägung das Vollziehungsinteresse überwiege, ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung regelmäßig dann zu bejahen sei, wenn wegen Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes die Rechtsverfolgung keinerlei Aussicht auf Erfolg verspreche und der Kläger den Rechtsstreit offenkundig nur deshalb führe, um Zeit zu gewinnen und die Rückzahlung hinaus zu zögern. Damit enthält die Anordnung gerade noch eine auf den konkreten Einzelfall abstellende Darlegung, weshalb wegen eines besonderen öffentlichen Interesses ausnahmsweise die sofortige Vollziehung der Erstattung notwendig ist und dass hinter dieses öffentliche Interesse das Interesse des Klägers, weiter in den Genuss der aufschiebenden Wirkung zu kommen, zurücktreten muss.

Mit den in der Vollziehungsanordnung genannten Gründen lässt sich ein besonderes öffentliches Interesse gerade an der sofortigen Vollziehung nicht rechtfertigen. Der auf den konkreten Fall bezogene Hinweis, der Rechtsstreit werde offenkundig nur geführt, um Zeit zu gewinnen und die Rückzahlung hinauszuzögern, verspreche aber keinerlei Erfolg, vermag ein besonderes öffentliches Vollziehungsinteresse hier noch nicht zu rechtfertigen. Zwar trifft zu, dass die Agentur für Arbeit und auch das Gericht bei der Frage, ob ein besonderes das Aufschubinteresse des Klägers übersteigendes besonderes Vollziehungsinteresse besteht, die Erfolgsaussicht in der Hauptsache in den Blick nehmen kann und muss (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) NVwZ 1996, 58, 59 m.w.N; Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg VBlBW 1997, 392; Senatsbeschluss vom 25. August 2003 a.a.O.). Mit der hier möglichen Feststellung, dass die Anfechtungsklage wegen der Erstattung bei summarischer Prüfung kaum Aussicht auf Erfolg hat, lässt sich aber das besondere öffentliche Vollzugsinteresse allein nicht begründen. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung stellt eine Ausnahme vom Regelfall des § 86a Abs. 1 SGG dar, wonach auch der Rechtsbehelf gegen eine rechtmäßige Erstattungsentscheidung grundsätzlich so lange aufschiebende Wirkung hat, bis abschließend in der Hauptsache entschieden worden ist. Für die Vollziehungsanordnung ist ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinaus geht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (ständige Rechtsprechung des BVerfG a.a.O. m.w.N.). Das besondere öffentliche Interesse muss vielmehr gerade an der sofortigen Vollziehung bestehen. Die Ansicht der Agentur für Arbeit, der Kläger wolle mit dem Rechtsstreit nur Zeit gewinnen und die Rückzahlung hinauszögern, zeigt kein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung auf. Wenn die Behörde damit hat zum Ausdruck bringen wollen, dass dieses Hinauszögern sie an der Realisierung der Erstattungsforderung hindere, so würde auch das nicht genügen. Zwar können auch fiskalische Interessen ein öffentliches Interesse darstellen (allgemeine Meinung vgl. Bayrischer VGH NVwZ 1988, 745). Indes ist nach allgemeiner Meinung bei Geldforderungen ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung nur gegeben, wenn deren Vollstreckung gefährdet erscheint (vgl. Hessischer VGH NVwZ-RR 1989, 329 und 1990, 42; VGH Baden-Württemberg NVwZ-RR 1993, 392; Senatsbeschluss vom 25. August 2003 a.a.O.). Auf eine solche Gefährdung hat sich die Agentur für Arbeit in der Anordnung nicht berufen und hierfür auch keine tatsächlichen Anhaltspunkte aufgezeigt. Damit fehlt es an einem besonderen die sofortige Vollziehung des Erstattungsbescheids rechtfertigenden öffentlichen Interesse mit der Folge, dass die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage wegen der Anfechtung des Erstattungsbescheids wiederherzustellen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Diese Entscheidung kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (vgl. § 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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