L 1 KR 23/03

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 84 KR 969/98-36
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 23/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob dem Anspruch der Klägerin auf Weiterleitung ihr zustehender Rentenver-sicherungsbeiträge ein Recht der beklagten Einzugsstelle auf Einbehaltung der gesetzlich vorgesehenen Vergütung über den in der einschlägigen Rechtsverordnung bestimmten Umfang hinaus entgegensteht.

Bis zum 31. Dezember 1997 richtete sich die von den Trägern der Rentenversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit (jetzt: Bundesagentur für Arbeit) an die Krankenkassen (Einzugs-stellen) u. a. für den Einzug, die Verwaltung und die Weiterleitung der Sozialversicherungs-beiträge zu zahlende Vergütung nach der Verordnung über die Vergütung für den Einzug des Gesamtsozialversicherungsbeitrags und die Durchführung der Meldeverfahren (Beitrags-einzugs- und Meldevergütungsverordnung) vom 18. Oktober 1996 – BGBl. I Seite 1525 – (BeitrEinzVergV alter Fassung - a. F. -). Mit Wirkung vom 1. Januar 1998 wurde die Höhe der Vergütung durch die BeitrEinzVergV vom 12. Mai 1998 – BGBl. I Seite 915 – (Neuer Fassung - n. F. -) bestimmt. Die neue – bis Ende 2004 gültig gewesene – Vergütungsverordnung behielt die bisherige Berechnungsgrundlage bei, nämlich die jeweilige Vormonatszahl (1.) der Beschäftigten, für die ein Gesamtsozialversicherungsbeitrag entrichtet wurde, (2.) der insoweit geführten Arbeitgeber-Beitragskonten, (3.) der Anmeldungen sowie (4.) der Anmeldungen für geringfügig Beschäftigte. Sie ersetzte jedoch den Faktor, mit dem diese Zahlen zu ver-vielfältigen waren, nämlich mit unterschiedlichen Werten für einzelne Kassenarten, angesichts u. a. weitgehender Angleichung des Aufgabenspektrums der Krankenkassen durch einen anderen – kassenübergreifenden – Vervielfältigungsfaktor, nämlich unterschiedliche Werte für einzelne Kassengrößen (vier Größenklassen). Dabei waren den größeren Kassen niedrigere, den kleineren Kassen höhere Werte zugeordnet, was zu einer relativ höheren Vergütung führte, je kleiner die Kasse war. Dem lag der Gedanke zugrunde, dass die Höhe der Kosten des Beitragseinzugs und des Meldewesens in der Regel von der Größe der Kassen abhänge und Krankenkassen umso kostengünstiger arbeiten könnten, je größer sie seien, je mehr Mitglieder sie also hätten. Übereinstimmend regelten beide Verordnungen, dass die Einzugsstelle die Vergütung von den weiterzuleitenden Beiträgen einbehält.

Die – bundesweit tätige – beklagte Ersatzkasse behielt von den an die Klägerin für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 1998 weiterzuleitenden Rentenversicherungsbeiträgen eine noch nach der BeitrEinzVergV a. F. berechnete Vergütung für die Durchführung des Beitrags-einzugs und des Meldeverfahrens ein. Nach der neuen Verordnung stand ihr jedoch nur eine geringere Vergütung zu, sodass sie mit deren Inkrafttreten einen entsprechenden Betrag von weiteren 10.841.673,33 DM an die Klägerin hätte weiterleiten müssen. Das lehnte die Beklagte jedoch mit der Begründung ab, die neue Vergütungsverordnung sei verfassungswidrig, weil sie sie als große Kasse (Zugehörigkeit zur Größenklasse 1: Krankenkassen mit mehr als 3 Millionen Mitgliedern ohne Rentner) gegenüber kleineren Kassen willkürlich benachteilige. Es treffe insbesondere nicht zu, dass sie als große Kasse kostengünstiger arbeiten könne. Ab Juli 1998 werde sie von den weiterzuleitenden Beiträgen zwar die ihr nach der neuen Vergütungs-verordnung zustehende (geringere) Vergütung einbehalten, jedoch nur unter Vorbehalt. Im Übrigen rechtfertige sich die Zurückbehaltung eines Teils des vorgenannten Betrages von 10.841.673,33 DM, nämlich i. H. v. 3.996.818,22 DM auch im Falle der Verfassungsmäßigkeit der neuen Verordnung. Denn es sei eine gesonderte Berechnung für die Rechtskreise West und Ost vorzunehmen mit der Folge, dass sie im Rechtskreis Ost der Größenklasse 2 (mehr als 250.000 bis zu 3 Millionen Mitglieder ohne Rentner) unterfalle.

Mit der im Oktober 1998 erhobenen Klage zum Sozialgericht (SG) Berlin verlangte die Klägerin die Zahlung des Differenzbetrages von 10.841.673,33 DM und, nachdem die Beklagte per Überweisung vom 30. Oktober 1998 einen Teilbetrag i. H. v. 10.500.000,00 DM geleistet hatte, den verbleibenden Rest von 341.673,33 DM nebst den gesetzlich zustehenden Zinsen. Die Vergütungsverordnung vom Mai 1998 sei verfassungsgemäß, eine Aufteilung der bundesweit tätigen Krankenkassen in einen Rechtskreis Ost und einen Rechtskreis West unzulässig.

Das SG folgte der Rechtsauffassung der Klägerin und verurteilte die Beklagte am 5. November 2002 antragsgemäß, an die Klägerin 174.694,80 EUR nebst Zinsen i. H. v. 2 % über dem jeweiligen Basiszinssatz aus einem Betrag von 5.543.259, 55 EUR vom 1. Juli 1998 bis 30. Oktober 1998 sowie aus einem Betrag von 174.694,97 EUR seit dem 1. November 1998 zu zahlen. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot lasse sich nicht feststellen. Für eine Vergütung getrennt nach Rechtskreisen Ost und West fehle es an einer Rechtsgrundlage. Der Zins-anspruch folge aus § 28 r Sozialgesetzbuch (SGB) IV.

Mit der Berufung macht die Beklagte weiterhin die Verfassungswidrigkeit der BeitrEinzVergV n. F. geltend und führt im Einzelnen aus, dass das der Verordnung zugrunde liegende, von der Beigeladenen in Auftrag gegebene Gutachten der BDO Unternehmensberatung GmbH in sich widersprüchlich sei, fehlerhafte Berechnungen aufweise und falsche Schlussfolgerungen enthalte, die sich unmittelbar auf die Verordnung auswirkten und deren Regelungsgehalt als willkürlich erscheinen ließen. Die ihr als großer Krankenkasse nach der neuen Verordnung zustehende Vergütung sei nicht annähernd kostendeckend, während sie für kleinere Kassen – was auch der Bundesrechnungshof inzwischen gerügt habe – den Grad der Kostendeckung weit übersteige, ja zum Teil sogar absolut höher sei als sie sich für sie errechne.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. November 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält ihrerseits an ihrem gegenteiligen Standpunkt fest, meint aber im Übrigen, auf die Verfassungsmäßigkeit der BeitrEinzVergV n. F. komme es im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits nicht an. Es fehle in jedem Falle an einer Rechtsgrundlage, von den an sie weiterzuleitenden Rentenversicherungsbeiträgen als Vergütung mehr einzubehalten, als die für verfassungswidrig gehaltene Verordnung hergebe.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (einschließlich der Akte des SG - S 84 KR 969/98-36 -) und der Akten der Klägerin (Leitzordner) und der Beklagten (Kassenakten) sowie auf das Gutachten der BDO Unternehmensberatung GmbH vom September 1997 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unbegründet.

Das SG hat den eingeklagten Anspruch im Ergebnis zutreffend zugesprochen. Rechtsgrundlage ist § 28 k SGB IV. Danach leitet die Einzugsstelle u. a. dem zuständigen Träger der Renten-versicherung die für diesen gezahlten Beiträge weiter.

Allerdings durfte die Beklagte die ihr für den Beitragseinzug und die Durchführung der Meldeverfahren nach § 28 l SGB IV zustehende Vergütung von den weiterzuleitenden Beiträgen einbehalten. Das bestimmte nicht nur die von der Beklagten für verfassungswidrig gehaltene BeitrEinzVergV n. F. (§ 3) sondern auch die Beitragszahlungsverordnung (BZVO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 28. Juli 1997 (dort § 5 Abs. 3 Satz 1), sodass dahinstehen kann, ob der Einbehalt auch unter dem Gesichtspunkt zulässiger Aufrechnung (§ 387 Bürgerliches Gesetzbuch) gerechtfertigt gewesen wäre. Deshalb stellt die Klägerin auch nicht in Abrede, dass die Beklagte die ihr nach der BeitrEinzVergV n. F. zustehende Ver-gütung einbehalten durfte.

Doch fehlt es an einer Rechtsgrundlage für den Einbehalt einer höheren Vergütung als der nach der BeitrEinzVergV n. F. festgelegten. Dies gilt sowohl für den Fall der Verfassungsmäßigkeit der Verordnung als auch für den Fall ihrer Verfassungswidrigkeit. Im Falle der Ver- fassungswidrigkeit wäre die Verordnung oder jedenfalls ihre hier maßgebliche Berechnungs-vorschrift (§ 2 i. V. m. den Anlagen) zwar nicht mehr anzuwenden (vgl. Urteil des Bundes-sozialgerichts [BSG] vom 09.12.2004 – B 7 AL 22/04 R). Doch könnte auch nicht mehr auf die BeitrEinzVergV a. F. zurückgegriffen werden. Denn diese ist nicht erst durch die BeitrEinzVergV n. F. aufgehoben worden, sodass sie bei deren Unwirksamkeit wieder Geltung beanspruchen könnte. Vielmehr hat sich die BeitrEinzVergV a. F. selbst von vornherein nur begrenzte Geltungsdauer beigemessen, indem sie in ihrem § 5 nicht nur ihr Inkrafttreten am 1. Juli 1996 sondern zugleich auch ihr Außerkrafttreten am 31. Dezember 1997 bestimmte. Nach Darstellung der Beigeladenen geschah dies im Übrigen insbesondere auf Drängen der Ersatzkassen – mithin auch der Beklagten. Bis Ende 1997 habe eine wettbewerbsneutrale, nicht auf die Kassenart abstellende Lösung gefunden werden sollen.

Als Rechtsgrundlagen für eine höhere Vergütung blieben allein die gesetzlichen Vorschriften des § 28 l SGB IV und die Verordnungsermächtigung des § 28 n SGB IV. Diesen Vorschriften lässt sich jedoch ein Vergütungsanspruch in bestimmter Höhe nicht entnehmen. Denn § 28 l SGB IV (Fassung bis 31.12.2004) begründete einen Vergütungsanspruch lediglich dem Grunde nach, wenn er (u. a.) bestimmte, dass die Krankenkassen für ihre Arbeit als Einzugsstellen eine Vergütung erhalten, mit der alle dadurch entstehenden Kosten abgegolten werden. Und § 28 n SGB IV (Fassung bis 31.12.2004) ermächtigte das zuständige Bundesministerium in Nr. 5 lediglich, die Höhe der Vergütung nach § 28 l SGB IV zu bestimmen, wobei eine pauschale Abgeltung vorgesehen werden könne. Diese Regelungen mögen zwar dahin zu interpretieren sein, dass die Vergütung – und sei es im Rahmen einer pauschalen Abgeltung – wenigstens annäherungsweise kostendeckend zu sein hatte. Dies ändert aber nichts daran, dass sich dem Gesetz allein ein Anspruch auf eine bestimmte Höhe der Vergütung nicht entnehmen ließ, diesen der Höhe nach zu bestimmen vielmehr dem Verordnungsgeber vorbehalten blieb.

Wäre also die BeitrEinzVergV n. F. verfassungswidrig und damit nicht anzuwenden gewesen, so hätte allenfalls fraglich sein können, ob eine Vergütung, solange die vermeintlich ver-fassungswidrige Verordnung nicht durch eine verfassungsgemäße ersetzt worden war, überhaupt – also wenigstens bis zur Höhe, die die verfassungswidrige Verordnung zugesteht – hätte einbehalten werden dürfen. Das steht hier jedoch nicht in Streit. Nicht zweifelhaft kann dagegen sein, dass, solange keine andere – verfassungsgemäße – Vergütungsverordnung rückwirkend in Kraft gesetzt worden ist, es an einer Rechtsgrundlage dafür fehlt, eine höhere Vergütung einzubehalten.

Deshalb braucht auch nicht weiter erwogen zu werden, ob das Gericht nicht die Möglichkeit gehabt hätte, die Verfassungswidrigkeit (oder auch mangelnde Ermächtigungskonformität) der BeitrEinzVergV n. F. durch Teilurteil festzustellen und den Rechtsstreit im Übrigen bis zum Erlass einer neuen Vergütungsverordnung auszusetzen. Selbst wenn dies verfahrensrechtlich an sich zulässig gewesen wäre, hätte einem solchen Vorgehen doch fehlende Entscheidungserheb- lichkeit entgegengestanden. Denn es hätte nichts daran geändert, dass die Beklagte bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein Recht hatte und hat, eine höhere Vergütung einzubehalten. Allein darauf aber kommt es hier an. Denn Streitgegenstand ist nicht der Vergütungsanspruch der Beklagten bzw. die Höhe desselben, sondern der Umfang des Einbehaltungsrechts gegenüber dem Weiterleitungsanspruch der Klägerin. Nach dem Sinn und Zweck des Einbehaltungsrechts kann immer nur das einbehalten werden, was nach gegenwärtiger Rechtslage betragsmäßig feststeht, nicht aber was erst aufgrund künftiger – rückwirkend in Kraft tretender – Rechtssetzung betragsmäßig feststehen könnte.

Hinsichtlich der Frage, ob auf der Grundlage der BeitrEinzVergV n. F. ein Vergütungs-anspruch getrennt nach Rechtskreisen Ost und West besteht – mit der Folge, dass die Beklagte hinsichtlich des Rechtskreises Ost der günstigeren Größenklasse 2 unterfallen würde – sowie hinsichtlich des Zinsanspruchs folgt der Senat den Darlegungen im angefochtenen Urteil als zutreffend. Insbesondere die Frage der Vergütung auf der Grundlage der Verfassungsmäßigkeit der BeitrEinzVergV n. F. ist von der Beklagten im Berufungsverfahren auch nicht mehr thematisiert worden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Kosten-vorschrift des § 197 a SGG war übergangsrechtlich noch nicht anzuwenden (Art. 17 Abs. 1 Satz 2 6. SGG ÄndG; BSG SozR 4 – 1500 § 183 Nr. 1).

Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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