Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 40 VG 141/00
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VG 30/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Juni 2002 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darum, ob die Verletzungen, welche die Klägerin am 1. Mai 1999 erlitt, als Schädigungsfolgen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) anzuerkennen sind.
Die im Jahre 1976 geborene Klägerin nahm am 1. Mai 1999 an der "Revolutionären 1. Mai Demonstration" in Berlin-Kreuzberg teil. Gegen 20.30 Uhr kam es im Bereich Kottbusser Damm / Sanderstraße zu Gewalttätigkeiten zwischen Teilnehmern des Aufzugs und Polizeikräften, weshalb der Veranstalter den Aufzug vorzeitig beendete. Die Klägerin, die sich zu diesem Zeitpunkt in der Bürknerstraße auf dem Weg zum Kottbusser Damm befand, begab sich mit ihren Begleitern, den Zeugen B und G, in die Spremberger Straße. Dort kam sie während eines Polizeieinsatzes zu Fall und zog sich eine offene Unterschenkelmehrfragmentfraktur rechts zu. Bis zum 31. Oktober 1999 war sie arbeitsunfähig. Als Folge des Unfallereignisses besteht bei der Klägerin nach der Einschätzung des Dr. M in seinem orthopädischen Gutachten vom 16. Oktober 2001 eine ganz geringe Instabilität des Kapselbandapparates des rechten Kniegelenkes.
Die Klägerin erstattete am 30. Juli 1999 Strafanzeige gegen unbekannte Polizeibeamte wegen Körperverletzung im Amt. Das Ermittlungsverfahren wurde von der Staatsanwaltschaft mit der Begründung eingestellt, dass die Ermittlungen keinen Erfolg versprächen.
Ihren Antrag auf Leistungen nach dem OEG lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 7. Oktober 1999 ab: Zwar sei nicht auszuschließen, dass die Klägerin Opfer eines Angriffs im Sinne des § 1 OEG geworden sei, jedoch seien Leistungen nach § 2 Abs. 1 OEG zu versagen, weil sie selbst eine wesentliche Bedingung für ihre Verletzung gesetzt habe. Denn wegen der immer wieder bei den Demonstrationen am 1. Mai auftretenden Auseinandersetzungen müsse ein Teilnehmer damit rechnen, körperliche Schäden davon zu tragen.
Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. September 2000 zurück: Es ergäben sich keine zweifelsfreien Feststellungen, aus denen zwangsläufig auf einen gegen die Klägerin gerichteten vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff zu schließen wäre. Es habe nicht festgestellt werden können, wie der zu der Schädigung führende Vorfall zustande gekommen sei.
Die Klägerin hat daraufhin bei dem Sozialgericht Berlin Klage auf Leistungen nach dem OEG erhoben. Sie hat hierzu vorgetragen: Als sie sich in der Bürknerstraße auf dem Weg zum Kottbusser Damm befunden habe, habe sie bemerkt, dass es dort zu Auseinandersetzungen zwischen Versammlungsteilnehmern und Polizeibeamten gekommen sei, und habe sich zurückziehen wollen. In Begleitung der Zeugen B und G habe sie sich in die Spremberger Straße in Richtung Schinkestraße begeben. Als sie sich auf der Hälfte des Weges befunden habe, habe sie wahrgenommen, dass sich an der Ecke zur Schinkestraße starke Polizeikräfte zusammengezogen hätten. Sie sei mit ihren Begleitern in einiger Entfernung zu der Personengruppe, die sich zwischen ihnen und der Polizei befunden habe, in der Mitte des Bürgersteigs stehen geblieben und habe das Geschehen kurze Zeit beobachtet. Dabei habe sie bemerkt, dass sich auch aus der Bürknerstraße Polizeikräfte genähert hätten. Einer der Demonstranten habe den sich hinter ihnen befindenden Polizeibeamten etwas zugerufen. Sie habe daraufhin in dessen Richtung geschaut und nicht bemerkt, dass die anrückenden Polizeibeamten in ihre Richtung zu laufen begonnen hätten. Auf dieses Geschehen sei sie erst aufmerksam geworden, als der neben ihr stehende Zeuge B auf sie gefallen und sie dadurch rückwärts auf den Boden gestürzt sei. In diesem Moment habe sie noch keine Schmerzen im Bein verspürt und auch keine Handlungen wahrgenommen, die zu Verletzungen hätten führen können. Sie habe lediglich rennende Polizeibeamte, Uniformen und Stiefel gesehen. Als sie jedoch habe aufstehen wollen, habe sie starke Schmerzen im Bein gehabt.
Bei normalen Tätigkeiten des täglichen Lebens habe sie keine großen Probleme mehr. Wenn sie jedoch Rad fahre, wandere oder schwimme, merke sie Einschränkungen im rechten Bein, die sich in Schmerzen äußerten.
Die Klägerin ist der Ansicht, dass das Einschreiten der Polizei gegen die Personengruppe, von der keine Bedrohungen oder Aggressionen ausgegangen seien, nicht gerechtfertigt gewesen sei, zumal die eigentlichen Auseinandersetzungen etwa 300 Meter entfernt am Kottbusser Damm stattgefunden hätten. Erst recht habe kein Grund bestanden, gegen sie und ihre Begleiter vorzugehen. Dies hätten die Polizeibeamten erkennbar auch nicht vorgehabt. Jedoch wäre es für diese ohne weiteres möglich gewesen, zu der Personengruppe zu gelangen, ohne sie und ihre Begleiter über den Haufen zu rennen, da auf der Straße und dem Bürgersteig genügend Platz vorhanden gewesen sei, sie zu umlaufen.
Das Sozialgericht hat Berichte des Polizeipräsidenten in Berlin eingeholt. In der Stellungnahme der Direktion 5 vom 23. April 2001 zum damaligen Ermittlungsverfahren wurde u.a. ausgeführt: Nach Beendigung des Aufzuges hätten die krawallartigen Ausschreitungen insbesondere im Bereich Kottbusser Damm zwischen Hohenstaufenplatz und Kottbusser Brücke angedauert. Die eingesetzten Polizeikräfte hätten wiederholt Räummaßnahmen, zum Teil unter Einsatz des Wasserwerfers, auch im Bereich Bürknerstraße durchgeführt. Zur angegebenen Zeit seien von den Kräften der Direktionshundertschaft 6 Störer aus dem Bereich Bürknerstraße in Richtung Maybachufer auch über die Spremberger Straße in Richtung Schinkestraße abgedrängt worden.
Nach Vernehmung der Zeugen B und G zu den Vorgängen, die zu der Verletzung der Klägerin geführt haben, hat das Sozialgericht mit Urteil vom 17. Juni 2002 den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin eine Unterschenkelfraktur des rechten Beines mit verbleibender leichtgradiger Außendrehfehlstellung des rechten Fußes und geringer Instabilität des rechten Kniegelenkes als Folge schädigender Einwirkungen im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG aufgrund des Ereignisses vom 1. Mai 1999 anzuerkennen. Zur Begründung führte es insbesondere aus:
Die Klägerin sei am 1. Mai 1999 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden und habe in dessen Folge eine Unterschenkelfraktur des rechten Beines mit den genannten Folgeschäden erlitten. Das Umstoßen des Zeugen B durch einen Polizisten stelle einen tätlichen Angriff gegen die Klägerin dar, da der Zeuge wie ein Werkzeug gegen diese eingesetzt worden sei. Der konkret handelnde Polizist habe hinsichtlich der Begehung dieses tätlichen Angriffs zumindest mit bedingtem Vorsatz gehandelt. Mangels Kenntnis des konkreten Schädigers könne nur aufgrund der Verwirklichung des objektiven Tatbestandes auf das Vorliegen des subjektiven Tatbestandes geschlossen werden. Hierbei sei davon auszugehen, dass jemand, der im schnellen Laufschritt in mit mehreren Schutzelementen ausgestatteter Polizeieinsatzkleidung auf eine Gruppe leicht gekleideter Personen, die eng beieinander ständen, zurenne und im Laufen einen aus dieser Gruppe gewaltsam umstoße, erkennen müsse, dass durch diese Handlungsweise ein körperlich wirkender Zwang bei der umstoßenden Person oder aber auch bei einer direkt daneben stehenden Person hervorgerufen werden könne und dadurch eine Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit verursacht werden könne. Dass der handelnde Polizist den Eintritt der konkreten Verletzungsfolge bei der Klägerin vorausgesehen habe, sei nicht erforderlich. Der Angriff sei auch rechtswidrig, da keine Rechtfertigungsgründe bestanden hätten. Versagungsgründe nach § 2 Abs. 1 OEG lägen nicht vor. Danach seien Leistungen nach dem OEG zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht habe oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchsstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Die Klägerin habe keine wesentliche Bedingung für die eingetretene Schädigung gesetzt, da sie nicht damit habe rechnen müssen, dass sie aufgrund der bloßen Teilnahme an einer Demonstration, die zwar in der Vergangenheit häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Teilen der Demonstranten und der Polizei geführt habe, aber nicht verboten worden sei, in gewalttätige Auseinandersetzungen einbezogen und verletzt würde. Es könne nicht geklärt werden, wie die Unterschenkelfraktur verursacht worden sei. Dies könne durch den Aufprall der Klägerin auf den Boden, den Sturz des Zeugen B auf die Klägerin oder durch einen Tritt auf das Bein geschehen sein. Alle möglichen Kausalverläufe seien jedoch dem Umstoßen des Zeugen B durch einen unbekannten Polizeibeamten objektiv zurechenbar.
Gegen das Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt und vorgebracht: Ein Vorsatz des handelnden Polizeibeamten liege nicht vor. Im Rahmen eines Polizeieinsatzes seien mehrere Polizisten die Straße entlang gerannt, in der sich die Klägerin und zwei Begleiter aufgehalten hätten, um zu ihrem Einsatzort zu gelangen. Eine vorsätzliche Handlung, die eine Verletzung der Klägerin bzw. ihrer Begleiter bewusst billigend in Kauf genommen hätte, könne aus diesem Verhalten nicht unterstellt werden. Allenfalls handele es sich um fahrlässiges Verhalten, das jedoch keinen Anspruch auf Leistungen nach dem OEG begründen könne.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Juni 2002 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie ist der Ansicht, dass die Polizeibeamten mit bedingtem Vorsatz gehandelt hätten, denn sie seien bereit gewesen, die von ihnen erkannte Möglichkeit des Erfolgseintritts in Kauf zu nehmen, entweder weil sie es darauf hätten ankommen lassen wollen, weil es ihnen gleichgültig gewesen sei oder weil ihnen das Ziel, nämlich an das andere Ende der Straße zu gelangen, als so wichtig erschienen sei, dass sie die Verletzung der Klägerin in Kauf genommen hätten, um dieses Ziel zu erreichen. Denn sie hätten nichts getan, um Verletzungen auf Seiten der Gruppe der Klägerin zu vermeiden.
Der Senat hat die Akten des Landgerichts Berlin in dem bürgerlichen Rechtsstreit zum Az. 13 O 221/01 beigezogen, welches das Land Berlin mit Urteil vom 30. November 2004 wegen fahrlässiger Amtspflichtverletzung zur Leistung von Schadensersatz und Schmerzensgeld an die Klägerin verurteilt hat.
Es ist zu den Vorgängen am 1. Mai 1999 in der Spremberger Straße in Berlin-Kreuzberg, die zu der Verletzung der Klägerin geführt haben, durch Vernehmung der Zeugen B, G, K und L Beweis erhoben worden.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte, der Akte des sozialgerichtlichen Verfahrens, des Verwaltungsvorgangs des Beklagten, der Akte des Landgerichts Berlin und des Hefters der T Krankenkasse verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet.
Das Sozialgericht Berlin hat den Beklagten im Urteil vom 17. Juni 2002 zu Unrecht verurteilt, bei der Klägerin eine Unterschenkelfraktur des rechten Beines mit verbleibender leichtgradiger Außendrehfehlstellung des rechten Fußes und geringer Instabilität des rechten Kniegelenkes als Folge schädigender Einwirkung im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG in Verbindung mit dem BVG aufgrund des Ereignisses vom 1. Mai 1999 anzuerkennen, da die Klägerin hierauf keinen Anspruch hat.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die Klägerin eine Schädigung nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen ihre oder eine andere Person erlitten hat.
Die anspruchsbegründenden Tatsachen müssen zur Überzeugung des Gerichts erwiesen sein, d.h. es muss von einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit oder von einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden können, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt (vgl. Bundessozialgericht –BSG–, Urteil vom 29. Oktober 2002, L 13 VG 2/01, bei Juris). Auch nach der Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmung in der mündlichen Verhandlung vom 23. Mai 2006 ist der Ablauf des Geschehens, das am 1. Mai 1999 in der Spremberger Straße zur Verletzung der Klägerin führte, ungeklärt.
Die Klägerin behauptet, sie sei im Zuge eines Polizeieinsatzes zu Schaden gekommen, als sie sich in Begleitung von zwei Bekannten, den Zeugen B und G, auf dem Bürgersteig der Spremberger Straße befunden habe. Polizeibeamte hätten den neben ihr stehenden Zeugen B umgerannt, der sie im Stürzen umgerissen habe. Es bleiben nach Ansicht des Senats Zweifel, ob diese Darstellung dem tatsächlichen Geschehen entspricht. Denn das Vorbringen der Klägerin steht hinsichtlich der näheren Umstände des Geschehens zu den Aussagen der Zeugen im Widerspruch. Während die Klägerin vorträgt, der zwischen fünf und acht Beamte umfassende Polizeitrupp habe sich in ca. 3 m Abstand zu ihr befunden, wobei sie sich nicht mehr daran erinnern könne, in welcher Formation die Polizisten gestanden hätten, hat der Zeuge B in seiner Vernehmung am 23. Mai 2006 ausgesagt, dass die Polizeibeamten ca. 50 m entfernt gewesen und – in zwei oder drei Reihen mit je drei Personen – auf dem Bürgersteig auf sie zu gelaufen seien. Einen – hiervon abweichenden – dritten Geschehensablauf hat der Zeuge G in seiner Aussage vor dem Sozialgericht Berlin am 17. Dezember 2001, auf die er in seiner Vernehmung durch den Senat Bezug genommen hat, geschildert: Die Polizisten hätten sich zunächst langsam in ihre Richtung in Bewegung gesetzt, seien stehen geblieben und dann im vollen Laufschritt auf der gesamten Breite des Bürgersteigs auf sie zu gerannt. Alle drei – bereits miteinander nicht in Deckung zu bringenden – Darstellungen sind mit der Aussage des Zeugen L nicht zu vereinbaren, der als Zugführer mit ca. zwanzig Beamten an dem Polizeieinsatz in der Spremberger Straße beteiligt war. Dieser hat ausdrücklich bekundet, dass die Polizeikräfte allein auf der Fahrbahn gelaufen seien. Es besteht für den Senat kein Anlass, an der Glaubwürdigkeit dieses Zeugen zu zweifeln. Hingegen leidet die Überzeugungskraft der Klägerin und der Zeugen B und G an den genannten Widersprüchen ihres Vortrags bzw. ihrer Aussagen und dem Umstand, dass sie auch auf Nachfragen durch das Gericht nur unpräzise Angaben zu dem Geschehen gemacht haben. Auch sind ihre Bekundungen, sich an den Vorfall nicht mehr genau erinnern zu können, nicht nachvollziehbar. Denn es handelte sich hierbei ihrem eigenen Vorbringen zufolge um ein derart einschneidendes Erlebnis, dass zu erwarten gewesen wäre, dass sie die näheren Umstände, die im unmittelbaren Zusammenhang der Verletzung der Klägerin gestanden haben, nicht innerhalb von sechs Jahren nach dem Vorfall teilweise vergessen haben. Bedenken gegen den Vortrag der Klägerin ergeben sich auch aus dem Umstand, dass sie – im Anschluss an ihre Strafanzeige gegen unbekannt gebliebene Polizeibeamte – während des gesamten Verfahrens betont, es hätte kein Grund für ein Einschreiten der Polizeikräfte gegen die Demonstranten, die sich in der Spremberger Straße in Richtung Schinkestraße aufgehalten hätten, bestanden, da von diesen weder Gewalt noch eine Bedrohung ausgegangen sei. Dies war gerade nicht der Fall, was für die Klägerin, die ihrem Vorbringen zufolge in diese Richtung schaute, auch erkennbar war. Wie der Zeuge L überzeugend dargelegt hat, ist er mit Teilen seines Zuges gerade deshalb in die Spremberger Straße gelaufen, weil die Polizeibeamten von dort mit Steinen beworfen wurden. Es kann deshalb nicht die Rede davon sein, dass, wie der Zeuge G vor dem Sozialgericht Berlin ausgesagt hat, "die ganze Situation ruhig und nicht angespannt" gewesen wäre.
Selbst wenn man zugunsten der Klägerin unterstellte, dass der Zeuge B von einem der die Spremberger Straße in Richtung Schinkestraße laufenden Polizeibeamten umgerissen worden sei und sie zu Fall gebracht habe, führte dies nicht zum Erfolg der Klage. Denn es steht nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit fest, dass es sich hierbei um einen "vorsätzlichen" Angriff im Sinne des im Sinne des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG handelte.
Für das Vorliegen des Vorsatzes genügt es, dass der Täter eine körperliche Beeinträchtigung des Opfers in seinen Willen aufgenommen (direkter Vorsatz) oder eine solche Beeinträchtigung zumindest für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat (bedingter Vorsatz); das heißt, der Täter muss sich im Augenblick der Tathandlung zumindest über die Möglichkeit des Erfolgseintrittes (also einer Körperverletzung) im Klaren gewesen sein und diese in Kauf genommen haben (vgl. BSG, Urteil vom 4. Februar 1998, B 9 VG 5/96 R, BSGE 81, 288 = SozR 3-3800 § 1 Nr. 12). Es ist jedoch nicht erforderlich, dass sich der Täter weiterer Folgen der unmittelbaren körperlichen Einwirkung bewusst war, er sich beispielsweise einen entsprechenden Kausalverlauf mit bestimmten Verletzungen oder sonstigen Folgen vorstellte bzw. solche für möglich hielt (BSG, Urteil vom 3. Februar 1999, B 9 VG 7/97 R, SozR 3-3800 § 1 Nr. 14). Der Vorsatz muss sich danach nur auf den Angriff als solchen, also auf eine unmittelbare körperliche Einwirkung, nicht aber auf den entstandenen Körperschaden gerichtet haben (vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 1995, 9 RVg 1/94, SozR 3-3800 § 10a Nr. 1). Ebenso wenig ist auch erforderlich, dass der Täter bewusst eine bestimmte individualisierbare Person angegriffen hat (missverständlich: BSG, Urteil vom 3. Februar 1999 a.a.O.). Vielmehr genügt es für die Annahme eines solchen Angriffs, dass der Täter die Verletzung e i n e s (beliebigen) Anderen in seinen Vorsatz aufgenommen hat (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 4. Februar 1998 a.a.O.).
Der Vorsatz des Angreifers bedarf des Nachweises. Ist der Täter – wie vorliegend – unbekannt geblieben, darf aus den festgestellten äußeren Umständen auf das Vorliegen des (bedingten) Vorsatzes geschlossen werden (vgl. BSG, Urteile vom 24. April 1991, 9a/9 RVg 1/89, SozR 3-3800 § 1 Nr. 1, und vom 4. Februar 1998 a.a.O. mit weiteren Nachweisen).
Auch auf der Grundlage der Angaben der Klägerin ist die Annahme eines bedingten Vorsatzes nicht gerechtfertigt, denn es lässt sich aus den von der Klägerin geschilderten äußeren Umständen nicht feststellen, welche Vorstellungen und welche Willensrichtung der Täter bei seiner zur Verletzung führenden Tat hatte.
Im Rahmen der Feststellungen nach § 1 OEG – auch hinsichtlich des inneren Tatbestandes – ist es zur Erleichterung der das Opfer treffenden (materiellen) Beweislast zulässig, die Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins heranzuziehen (so BSG, Urteil vom 4. Februar 1998 a.a.O.). Danach kann bei sog. typischen Geschehensabläufen von einer festgestellten Ursache auf einen bestimmten Erfolg oder von einem festgestellten Erfolg auf eine bestimmte Ursache geschlossen werden. Allerdings lässt sich ein Erfahrungssatz mit dem Inhalt, dass derjenige, der als Teil eines im Laufschritt auf dem Weg zu einem Einsatz befindlichen und mit Schutzkleidung ausgestatteter Trupps von Polizeibeamten eine im Weg stehende Gruppe von drei Zivilpersonen kreuzt, es für möglich hält und billigend in Kauf nimmt, dass einer von diesen umgeworfen wird und es hierbei zu einer Körperverletzung kommt, nicht begründen.
Entgegen der Ansicht der Klägerin ist nicht maßgebend, ob "die Polizeibeamten" bereit waren, die Möglichkeit des Erfolgseintritts in Kauf zu nehmen. Hinsichtlich der inneren Tatsachen ist vielmehr allein auf den Beamten abzustellen, der laut Vortrag der Klägerin den Zeugen B anstieß und damit die Kausalkette in Gang setzte, die schließlich zu der Verletzung der Klägerin geführt haben soll. Hinsichtlich dieses Beamten muss festgestellt werden, ob die subjektiven Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sind. Während die Erforderlichkeit und die im Einzelnen zu erfüllenden Anforderungen an das voluntative Element des bedingten Vorsatzes in Literatur und Rechtsprechung umstritten sind, besteht jedenfalls darüber Einigkeit, dass der Täter über die Möglichkeit des Erfolgseintritts reflektiert haben und sich im Augenblick der Tathandlung der möglichen Tatbestandsverwirklichung bewusst gewesen sein muss (vgl. Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 27. Aufl. 2006, Rn. 73ff. zu § 15 StGB). Vorliegend ist es nicht auszuschließen, dass der handelnde Polizeibeamte an die Möglichkeit des Erfolgseintritts überhaupt nicht dachte. Wenn er sich in einem hinteren Glied der Formation befand, ist es denkbar, dass er den Zeugen B nicht oder erst so spät bemerkte, dass ein Ausweichen nicht mehr möglich war. Gleichermaßen ist es angesichts der zum damaligen Zeitpunkt in der Spremberger Straße herrschenden Situation nicht von der Hand zu weisen, dass der Beamte sich während seines Laufes darauf konzentrierte, dem Angriff der in Richtung Schinkestraße stehenden Menschenansammlung, aus der Steine auf die Polizeikräfte geworfen wurden, zu begegnen, und sich deshalb die Gefahr, den ihm im Weg stehenden Zeugen anzustoßen, nicht bewusst machte. In diesem Fall würde ihn unter Umständen der Vorwurf der Fahrlässigkeit treffen, (bedingt) vorsätzlich handelte er jedoch nicht. Für diesen Geschehensablauf spricht auch, dass – wie die Klägerin einräumt – das Ziel der Polizeikräfte offensichtlich die hinter ihrer Gruppe stehende Ansammlung war.
Vorliegend geht die Nichtfeststellbarkeit des Vorsatzes nach den Grundsätzen der objektiven Beweis- oder Feststellungslast zu Lasten der Klägerin (vgl. auch BSG, Urteile vom 22. Juni 1988, 9/9a RVg 3/87, BSGE 63, 270 = SozR 1500 § 128 Nr. 34, sowie vom 4. Februar 1998 und 3. Februar 1999, jeweils a.a.O.).
Die nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt, dass die Berufung des Beklagten Erfolg hat.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darum, ob die Verletzungen, welche die Klägerin am 1. Mai 1999 erlitt, als Schädigungsfolgen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) anzuerkennen sind.
Die im Jahre 1976 geborene Klägerin nahm am 1. Mai 1999 an der "Revolutionären 1. Mai Demonstration" in Berlin-Kreuzberg teil. Gegen 20.30 Uhr kam es im Bereich Kottbusser Damm / Sanderstraße zu Gewalttätigkeiten zwischen Teilnehmern des Aufzugs und Polizeikräften, weshalb der Veranstalter den Aufzug vorzeitig beendete. Die Klägerin, die sich zu diesem Zeitpunkt in der Bürknerstraße auf dem Weg zum Kottbusser Damm befand, begab sich mit ihren Begleitern, den Zeugen B und G, in die Spremberger Straße. Dort kam sie während eines Polizeieinsatzes zu Fall und zog sich eine offene Unterschenkelmehrfragmentfraktur rechts zu. Bis zum 31. Oktober 1999 war sie arbeitsunfähig. Als Folge des Unfallereignisses besteht bei der Klägerin nach der Einschätzung des Dr. M in seinem orthopädischen Gutachten vom 16. Oktober 2001 eine ganz geringe Instabilität des Kapselbandapparates des rechten Kniegelenkes.
Die Klägerin erstattete am 30. Juli 1999 Strafanzeige gegen unbekannte Polizeibeamte wegen Körperverletzung im Amt. Das Ermittlungsverfahren wurde von der Staatsanwaltschaft mit der Begründung eingestellt, dass die Ermittlungen keinen Erfolg versprächen.
Ihren Antrag auf Leistungen nach dem OEG lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 7. Oktober 1999 ab: Zwar sei nicht auszuschließen, dass die Klägerin Opfer eines Angriffs im Sinne des § 1 OEG geworden sei, jedoch seien Leistungen nach § 2 Abs. 1 OEG zu versagen, weil sie selbst eine wesentliche Bedingung für ihre Verletzung gesetzt habe. Denn wegen der immer wieder bei den Demonstrationen am 1. Mai auftretenden Auseinandersetzungen müsse ein Teilnehmer damit rechnen, körperliche Schäden davon zu tragen.
Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. September 2000 zurück: Es ergäben sich keine zweifelsfreien Feststellungen, aus denen zwangsläufig auf einen gegen die Klägerin gerichteten vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff zu schließen wäre. Es habe nicht festgestellt werden können, wie der zu der Schädigung führende Vorfall zustande gekommen sei.
Die Klägerin hat daraufhin bei dem Sozialgericht Berlin Klage auf Leistungen nach dem OEG erhoben. Sie hat hierzu vorgetragen: Als sie sich in der Bürknerstraße auf dem Weg zum Kottbusser Damm befunden habe, habe sie bemerkt, dass es dort zu Auseinandersetzungen zwischen Versammlungsteilnehmern und Polizeibeamten gekommen sei, und habe sich zurückziehen wollen. In Begleitung der Zeugen B und G habe sie sich in die Spremberger Straße in Richtung Schinkestraße begeben. Als sie sich auf der Hälfte des Weges befunden habe, habe sie wahrgenommen, dass sich an der Ecke zur Schinkestraße starke Polizeikräfte zusammengezogen hätten. Sie sei mit ihren Begleitern in einiger Entfernung zu der Personengruppe, die sich zwischen ihnen und der Polizei befunden habe, in der Mitte des Bürgersteigs stehen geblieben und habe das Geschehen kurze Zeit beobachtet. Dabei habe sie bemerkt, dass sich auch aus der Bürknerstraße Polizeikräfte genähert hätten. Einer der Demonstranten habe den sich hinter ihnen befindenden Polizeibeamten etwas zugerufen. Sie habe daraufhin in dessen Richtung geschaut und nicht bemerkt, dass die anrückenden Polizeibeamten in ihre Richtung zu laufen begonnen hätten. Auf dieses Geschehen sei sie erst aufmerksam geworden, als der neben ihr stehende Zeuge B auf sie gefallen und sie dadurch rückwärts auf den Boden gestürzt sei. In diesem Moment habe sie noch keine Schmerzen im Bein verspürt und auch keine Handlungen wahrgenommen, die zu Verletzungen hätten führen können. Sie habe lediglich rennende Polizeibeamte, Uniformen und Stiefel gesehen. Als sie jedoch habe aufstehen wollen, habe sie starke Schmerzen im Bein gehabt.
Bei normalen Tätigkeiten des täglichen Lebens habe sie keine großen Probleme mehr. Wenn sie jedoch Rad fahre, wandere oder schwimme, merke sie Einschränkungen im rechten Bein, die sich in Schmerzen äußerten.
Die Klägerin ist der Ansicht, dass das Einschreiten der Polizei gegen die Personengruppe, von der keine Bedrohungen oder Aggressionen ausgegangen seien, nicht gerechtfertigt gewesen sei, zumal die eigentlichen Auseinandersetzungen etwa 300 Meter entfernt am Kottbusser Damm stattgefunden hätten. Erst recht habe kein Grund bestanden, gegen sie und ihre Begleiter vorzugehen. Dies hätten die Polizeibeamten erkennbar auch nicht vorgehabt. Jedoch wäre es für diese ohne weiteres möglich gewesen, zu der Personengruppe zu gelangen, ohne sie und ihre Begleiter über den Haufen zu rennen, da auf der Straße und dem Bürgersteig genügend Platz vorhanden gewesen sei, sie zu umlaufen.
Das Sozialgericht hat Berichte des Polizeipräsidenten in Berlin eingeholt. In der Stellungnahme der Direktion 5 vom 23. April 2001 zum damaligen Ermittlungsverfahren wurde u.a. ausgeführt: Nach Beendigung des Aufzuges hätten die krawallartigen Ausschreitungen insbesondere im Bereich Kottbusser Damm zwischen Hohenstaufenplatz und Kottbusser Brücke angedauert. Die eingesetzten Polizeikräfte hätten wiederholt Räummaßnahmen, zum Teil unter Einsatz des Wasserwerfers, auch im Bereich Bürknerstraße durchgeführt. Zur angegebenen Zeit seien von den Kräften der Direktionshundertschaft 6 Störer aus dem Bereich Bürknerstraße in Richtung Maybachufer auch über die Spremberger Straße in Richtung Schinkestraße abgedrängt worden.
Nach Vernehmung der Zeugen B und G zu den Vorgängen, die zu der Verletzung der Klägerin geführt haben, hat das Sozialgericht mit Urteil vom 17. Juni 2002 den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin eine Unterschenkelfraktur des rechten Beines mit verbleibender leichtgradiger Außendrehfehlstellung des rechten Fußes und geringer Instabilität des rechten Kniegelenkes als Folge schädigender Einwirkungen im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG aufgrund des Ereignisses vom 1. Mai 1999 anzuerkennen. Zur Begründung führte es insbesondere aus:
Die Klägerin sei am 1. Mai 1999 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden und habe in dessen Folge eine Unterschenkelfraktur des rechten Beines mit den genannten Folgeschäden erlitten. Das Umstoßen des Zeugen B durch einen Polizisten stelle einen tätlichen Angriff gegen die Klägerin dar, da der Zeuge wie ein Werkzeug gegen diese eingesetzt worden sei. Der konkret handelnde Polizist habe hinsichtlich der Begehung dieses tätlichen Angriffs zumindest mit bedingtem Vorsatz gehandelt. Mangels Kenntnis des konkreten Schädigers könne nur aufgrund der Verwirklichung des objektiven Tatbestandes auf das Vorliegen des subjektiven Tatbestandes geschlossen werden. Hierbei sei davon auszugehen, dass jemand, der im schnellen Laufschritt in mit mehreren Schutzelementen ausgestatteter Polizeieinsatzkleidung auf eine Gruppe leicht gekleideter Personen, die eng beieinander ständen, zurenne und im Laufen einen aus dieser Gruppe gewaltsam umstoße, erkennen müsse, dass durch diese Handlungsweise ein körperlich wirkender Zwang bei der umstoßenden Person oder aber auch bei einer direkt daneben stehenden Person hervorgerufen werden könne und dadurch eine Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit verursacht werden könne. Dass der handelnde Polizist den Eintritt der konkreten Verletzungsfolge bei der Klägerin vorausgesehen habe, sei nicht erforderlich. Der Angriff sei auch rechtswidrig, da keine Rechtfertigungsgründe bestanden hätten. Versagungsgründe nach § 2 Abs. 1 OEG lägen nicht vor. Danach seien Leistungen nach dem OEG zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht habe oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchsstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Die Klägerin habe keine wesentliche Bedingung für die eingetretene Schädigung gesetzt, da sie nicht damit habe rechnen müssen, dass sie aufgrund der bloßen Teilnahme an einer Demonstration, die zwar in der Vergangenheit häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Teilen der Demonstranten und der Polizei geführt habe, aber nicht verboten worden sei, in gewalttätige Auseinandersetzungen einbezogen und verletzt würde. Es könne nicht geklärt werden, wie die Unterschenkelfraktur verursacht worden sei. Dies könne durch den Aufprall der Klägerin auf den Boden, den Sturz des Zeugen B auf die Klägerin oder durch einen Tritt auf das Bein geschehen sein. Alle möglichen Kausalverläufe seien jedoch dem Umstoßen des Zeugen B durch einen unbekannten Polizeibeamten objektiv zurechenbar.
Gegen das Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt und vorgebracht: Ein Vorsatz des handelnden Polizeibeamten liege nicht vor. Im Rahmen eines Polizeieinsatzes seien mehrere Polizisten die Straße entlang gerannt, in der sich die Klägerin und zwei Begleiter aufgehalten hätten, um zu ihrem Einsatzort zu gelangen. Eine vorsätzliche Handlung, die eine Verletzung der Klägerin bzw. ihrer Begleiter bewusst billigend in Kauf genommen hätte, könne aus diesem Verhalten nicht unterstellt werden. Allenfalls handele es sich um fahrlässiges Verhalten, das jedoch keinen Anspruch auf Leistungen nach dem OEG begründen könne.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Juni 2002 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie ist der Ansicht, dass die Polizeibeamten mit bedingtem Vorsatz gehandelt hätten, denn sie seien bereit gewesen, die von ihnen erkannte Möglichkeit des Erfolgseintritts in Kauf zu nehmen, entweder weil sie es darauf hätten ankommen lassen wollen, weil es ihnen gleichgültig gewesen sei oder weil ihnen das Ziel, nämlich an das andere Ende der Straße zu gelangen, als so wichtig erschienen sei, dass sie die Verletzung der Klägerin in Kauf genommen hätten, um dieses Ziel zu erreichen. Denn sie hätten nichts getan, um Verletzungen auf Seiten der Gruppe der Klägerin zu vermeiden.
Der Senat hat die Akten des Landgerichts Berlin in dem bürgerlichen Rechtsstreit zum Az. 13 O 221/01 beigezogen, welches das Land Berlin mit Urteil vom 30. November 2004 wegen fahrlässiger Amtspflichtverletzung zur Leistung von Schadensersatz und Schmerzensgeld an die Klägerin verurteilt hat.
Es ist zu den Vorgängen am 1. Mai 1999 in der Spremberger Straße in Berlin-Kreuzberg, die zu der Verletzung der Klägerin geführt haben, durch Vernehmung der Zeugen B, G, K und L Beweis erhoben worden.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte, der Akte des sozialgerichtlichen Verfahrens, des Verwaltungsvorgangs des Beklagten, der Akte des Landgerichts Berlin und des Hefters der T Krankenkasse verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet.
Das Sozialgericht Berlin hat den Beklagten im Urteil vom 17. Juni 2002 zu Unrecht verurteilt, bei der Klägerin eine Unterschenkelfraktur des rechten Beines mit verbleibender leichtgradiger Außendrehfehlstellung des rechten Fußes und geringer Instabilität des rechten Kniegelenkes als Folge schädigender Einwirkung im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG in Verbindung mit dem BVG aufgrund des Ereignisses vom 1. Mai 1999 anzuerkennen, da die Klägerin hierauf keinen Anspruch hat.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die Klägerin eine Schädigung nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen ihre oder eine andere Person erlitten hat.
Die anspruchsbegründenden Tatsachen müssen zur Überzeugung des Gerichts erwiesen sein, d.h. es muss von einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit oder von einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden können, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt (vgl. Bundessozialgericht –BSG–, Urteil vom 29. Oktober 2002, L 13 VG 2/01, bei Juris). Auch nach der Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmung in der mündlichen Verhandlung vom 23. Mai 2006 ist der Ablauf des Geschehens, das am 1. Mai 1999 in der Spremberger Straße zur Verletzung der Klägerin führte, ungeklärt.
Die Klägerin behauptet, sie sei im Zuge eines Polizeieinsatzes zu Schaden gekommen, als sie sich in Begleitung von zwei Bekannten, den Zeugen B und G, auf dem Bürgersteig der Spremberger Straße befunden habe. Polizeibeamte hätten den neben ihr stehenden Zeugen B umgerannt, der sie im Stürzen umgerissen habe. Es bleiben nach Ansicht des Senats Zweifel, ob diese Darstellung dem tatsächlichen Geschehen entspricht. Denn das Vorbringen der Klägerin steht hinsichtlich der näheren Umstände des Geschehens zu den Aussagen der Zeugen im Widerspruch. Während die Klägerin vorträgt, der zwischen fünf und acht Beamte umfassende Polizeitrupp habe sich in ca. 3 m Abstand zu ihr befunden, wobei sie sich nicht mehr daran erinnern könne, in welcher Formation die Polizisten gestanden hätten, hat der Zeuge B in seiner Vernehmung am 23. Mai 2006 ausgesagt, dass die Polizeibeamten ca. 50 m entfernt gewesen und – in zwei oder drei Reihen mit je drei Personen – auf dem Bürgersteig auf sie zu gelaufen seien. Einen – hiervon abweichenden – dritten Geschehensablauf hat der Zeuge G in seiner Aussage vor dem Sozialgericht Berlin am 17. Dezember 2001, auf die er in seiner Vernehmung durch den Senat Bezug genommen hat, geschildert: Die Polizisten hätten sich zunächst langsam in ihre Richtung in Bewegung gesetzt, seien stehen geblieben und dann im vollen Laufschritt auf der gesamten Breite des Bürgersteigs auf sie zu gerannt. Alle drei – bereits miteinander nicht in Deckung zu bringenden – Darstellungen sind mit der Aussage des Zeugen L nicht zu vereinbaren, der als Zugführer mit ca. zwanzig Beamten an dem Polizeieinsatz in der Spremberger Straße beteiligt war. Dieser hat ausdrücklich bekundet, dass die Polizeikräfte allein auf der Fahrbahn gelaufen seien. Es besteht für den Senat kein Anlass, an der Glaubwürdigkeit dieses Zeugen zu zweifeln. Hingegen leidet die Überzeugungskraft der Klägerin und der Zeugen B und G an den genannten Widersprüchen ihres Vortrags bzw. ihrer Aussagen und dem Umstand, dass sie auch auf Nachfragen durch das Gericht nur unpräzise Angaben zu dem Geschehen gemacht haben. Auch sind ihre Bekundungen, sich an den Vorfall nicht mehr genau erinnern zu können, nicht nachvollziehbar. Denn es handelte sich hierbei ihrem eigenen Vorbringen zufolge um ein derart einschneidendes Erlebnis, dass zu erwarten gewesen wäre, dass sie die näheren Umstände, die im unmittelbaren Zusammenhang der Verletzung der Klägerin gestanden haben, nicht innerhalb von sechs Jahren nach dem Vorfall teilweise vergessen haben. Bedenken gegen den Vortrag der Klägerin ergeben sich auch aus dem Umstand, dass sie – im Anschluss an ihre Strafanzeige gegen unbekannt gebliebene Polizeibeamte – während des gesamten Verfahrens betont, es hätte kein Grund für ein Einschreiten der Polizeikräfte gegen die Demonstranten, die sich in der Spremberger Straße in Richtung Schinkestraße aufgehalten hätten, bestanden, da von diesen weder Gewalt noch eine Bedrohung ausgegangen sei. Dies war gerade nicht der Fall, was für die Klägerin, die ihrem Vorbringen zufolge in diese Richtung schaute, auch erkennbar war. Wie der Zeuge L überzeugend dargelegt hat, ist er mit Teilen seines Zuges gerade deshalb in die Spremberger Straße gelaufen, weil die Polizeibeamten von dort mit Steinen beworfen wurden. Es kann deshalb nicht die Rede davon sein, dass, wie der Zeuge G vor dem Sozialgericht Berlin ausgesagt hat, "die ganze Situation ruhig und nicht angespannt" gewesen wäre.
Selbst wenn man zugunsten der Klägerin unterstellte, dass der Zeuge B von einem der die Spremberger Straße in Richtung Schinkestraße laufenden Polizeibeamten umgerissen worden sei und sie zu Fall gebracht habe, führte dies nicht zum Erfolg der Klage. Denn es steht nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit fest, dass es sich hierbei um einen "vorsätzlichen" Angriff im Sinne des im Sinne des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG handelte.
Für das Vorliegen des Vorsatzes genügt es, dass der Täter eine körperliche Beeinträchtigung des Opfers in seinen Willen aufgenommen (direkter Vorsatz) oder eine solche Beeinträchtigung zumindest für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat (bedingter Vorsatz); das heißt, der Täter muss sich im Augenblick der Tathandlung zumindest über die Möglichkeit des Erfolgseintrittes (also einer Körperverletzung) im Klaren gewesen sein und diese in Kauf genommen haben (vgl. BSG, Urteil vom 4. Februar 1998, B 9 VG 5/96 R, BSGE 81, 288 = SozR 3-3800 § 1 Nr. 12). Es ist jedoch nicht erforderlich, dass sich der Täter weiterer Folgen der unmittelbaren körperlichen Einwirkung bewusst war, er sich beispielsweise einen entsprechenden Kausalverlauf mit bestimmten Verletzungen oder sonstigen Folgen vorstellte bzw. solche für möglich hielt (BSG, Urteil vom 3. Februar 1999, B 9 VG 7/97 R, SozR 3-3800 § 1 Nr. 14). Der Vorsatz muss sich danach nur auf den Angriff als solchen, also auf eine unmittelbare körperliche Einwirkung, nicht aber auf den entstandenen Körperschaden gerichtet haben (vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 1995, 9 RVg 1/94, SozR 3-3800 § 10a Nr. 1). Ebenso wenig ist auch erforderlich, dass der Täter bewusst eine bestimmte individualisierbare Person angegriffen hat (missverständlich: BSG, Urteil vom 3. Februar 1999 a.a.O.). Vielmehr genügt es für die Annahme eines solchen Angriffs, dass der Täter die Verletzung e i n e s (beliebigen) Anderen in seinen Vorsatz aufgenommen hat (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 4. Februar 1998 a.a.O.).
Der Vorsatz des Angreifers bedarf des Nachweises. Ist der Täter – wie vorliegend – unbekannt geblieben, darf aus den festgestellten äußeren Umständen auf das Vorliegen des (bedingten) Vorsatzes geschlossen werden (vgl. BSG, Urteile vom 24. April 1991, 9a/9 RVg 1/89, SozR 3-3800 § 1 Nr. 1, und vom 4. Februar 1998 a.a.O. mit weiteren Nachweisen).
Auch auf der Grundlage der Angaben der Klägerin ist die Annahme eines bedingten Vorsatzes nicht gerechtfertigt, denn es lässt sich aus den von der Klägerin geschilderten äußeren Umständen nicht feststellen, welche Vorstellungen und welche Willensrichtung der Täter bei seiner zur Verletzung führenden Tat hatte.
Im Rahmen der Feststellungen nach § 1 OEG – auch hinsichtlich des inneren Tatbestandes – ist es zur Erleichterung der das Opfer treffenden (materiellen) Beweislast zulässig, die Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins heranzuziehen (so BSG, Urteil vom 4. Februar 1998 a.a.O.). Danach kann bei sog. typischen Geschehensabläufen von einer festgestellten Ursache auf einen bestimmten Erfolg oder von einem festgestellten Erfolg auf eine bestimmte Ursache geschlossen werden. Allerdings lässt sich ein Erfahrungssatz mit dem Inhalt, dass derjenige, der als Teil eines im Laufschritt auf dem Weg zu einem Einsatz befindlichen und mit Schutzkleidung ausgestatteter Trupps von Polizeibeamten eine im Weg stehende Gruppe von drei Zivilpersonen kreuzt, es für möglich hält und billigend in Kauf nimmt, dass einer von diesen umgeworfen wird und es hierbei zu einer Körperverletzung kommt, nicht begründen.
Entgegen der Ansicht der Klägerin ist nicht maßgebend, ob "die Polizeibeamten" bereit waren, die Möglichkeit des Erfolgseintritts in Kauf zu nehmen. Hinsichtlich der inneren Tatsachen ist vielmehr allein auf den Beamten abzustellen, der laut Vortrag der Klägerin den Zeugen B anstieß und damit die Kausalkette in Gang setzte, die schließlich zu der Verletzung der Klägerin geführt haben soll. Hinsichtlich dieses Beamten muss festgestellt werden, ob die subjektiven Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sind. Während die Erforderlichkeit und die im Einzelnen zu erfüllenden Anforderungen an das voluntative Element des bedingten Vorsatzes in Literatur und Rechtsprechung umstritten sind, besteht jedenfalls darüber Einigkeit, dass der Täter über die Möglichkeit des Erfolgseintritts reflektiert haben und sich im Augenblick der Tathandlung der möglichen Tatbestandsverwirklichung bewusst gewesen sein muss (vgl. Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 27. Aufl. 2006, Rn. 73ff. zu § 15 StGB). Vorliegend ist es nicht auszuschließen, dass der handelnde Polizeibeamte an die Möglichkeit des Erfolgseintritts überhaupt nicht dachte. Wenn er sich in einem hinteren Glied der Formation befand, ist es denkbar, dass er den Zeugen B nicht oder erst so spät bemerkte, dass ein Ausweichen nicht mehr möglich war. Gleichermaßen ist es angesichts der zum damaligen Zeitpunkt in der Spremberger Straße herrschenden Situation nicht von der Hand zu weisen, dass der Beamte sich während seines Laufes darauf konzentrierte, dem Angriff der in Richtung Schinkestraße stehenden Menschenansammlung, aus der Steine auf die Polizeikräfte geworfen wurden, zu begegnen, und sich deshalb die Gefahr, den ihm im Weg stehenden Zeugen anzustoßen, nicht bewusst machte. In diesem Fall würde ihn unter Umständen der Vorwurf der Fahrlässigkeit treffen, (bedingt) vorsätzlich handelte er jedoch nicht. Für diesen Geschehensablauf spricht auch, dass – wie die Klägerin einräumt – das Ziel der Polizeikräfte offensichtlich die hinter ihrer Gruppe stehende Ansammlung war.
Vorliegend geht die Nichtfeststellbarkeit des Vorsatzes nach den Grundsätzen der objektiven Beweis- oder Feststellungslast zu Lasten der Klägerin (vgl. auch BSG, Urteile vom 22. Juni 1988, 9/9a RVg 3/87, BSGE 63, 270 = SozR 1500 § 128 Nr. 34, sowie vom 4. Februar 1998 und 3. Februar 1999, jeweils a.a.O.).
Die nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt, dass die Berufung des Beklagten Erfolg hat.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
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