S 59 AS 6912/06 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
59
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 59 AS 6912/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin gewährt. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum 1. August 2006 bis 31. Januar 2007 als Kosten für die Unterkunft 351,- EUR monatlich zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Der Antragsgegner trägt die Hälfte der Kosten des Verfahrens.

Gründe:

I.

Der Antragsteller (Ast.) zog im laufenden Alg II-Bezug mit anerkannten Unterkunftskosten von 311,- EUR (320,- EUR Bruttomiete abzüglich 9.- EUR Warmwasserpauschale) zum 1.4.2006, Mietvertragsschluss am 16.3.2006, in eine andere Wohnung im selben Haus um. Die Miete der neuen Wohnung beträgt 400,- EUR (= 320,- EUR Kaltmiete plus 130,- EUR Betriebskostenabschlag plus 50,- EUR Heizung und Warmwasser-Vorauszahlung).

Auf einen Fortzahlungsantrag für den Bewilligungsabschnitt 1.8.2006 bis 31.1.2007 gewährte der Antragsgegner (Ag.) nur die zuvor anerkannten Unterkunftskosten von 311,- EUR; der Ast. sei ohne vorherige Zusicherung umgezogen (Bescheid vom 5.7.2006, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 28.7.2006).

Hiergegen richtet sich ein am 2.8.2006 anhängig gemachtes Eilverfahren auf Übernahme der vollen, hilfsweise der Richtlinien-Miete von 360,- EUR. Der Ast. habe wegen erheblicher, nicht auf gütlichem Wege abzustellender Lärmbelästigungen eines früheren Nachbarn vom Vermieter die jetzige Wohnung angeboten bekommen. Auf dieses Angebot habe er schnell reagieren müssen, bei Einleitung eines förmlichen Zusicherungsverfahrens wäre die Wohnung anderweitig vergeben worden.

Der Ag. hat auf den Vergleichsvorschlag des Gerichts - einstweilige Übernahme der Richtlinienmiete - nicht geantwortet.

II.

Der nach § 86 b Abs. 2 SGG zulässige Antrag ist mit dem Hilfsantrag erfolgreich. Der Ast. hat jedenfalls Anspruch auf die Richtlinienmiete von 360,- EUR abzüglich 9,- EUR Warmwasserpauscha- le.

Das Zusicherungserfordernis in § 22 Abs. 2 SGB II hat lediglich eine Warnfunktion; wurde die Zusicherung nicht eingeholt und hätte sie auch nicht erteilt werden müssen, besteht nach § 22 Abs. 1 SGB II dennoch ein Anspruch auf Übernahme der neuen Miete, soweit diese angemessen ist (einhellige Auffassung in der Kommentarliteratur).

Die Neuregelung in § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II nach dem ab 1.8.2006 geltenden Fortentwick-lungsgesetz bestätigt diese Auffassung insofern, als die Notwendigkeit gesehen wurde, eine solche Regelung ausdrücklich ins Gesetz aufzunehmen. Die Reduzierung auf die günstigere, angemessene Alt-Miete kann somit nicht unter die allgemeine Selbsthilfeobliegenheit des § 2 Abs. 1 SGB II gefasst werden. Neben einem Verstoß gegen § 31 SGB I wäre eine solche Argumentation nicht mit dem auch für SGB II-Bezieher geltenden Grundrecht auf Freizügigkeit zu vereinbaren, weil mit Rückgriff auf § 2 SGB II auch ein erforderlicher Umzug auf eine Miete unterhalb festgelegter Richtlinienwerte gedrückt werden könnte. Allein die Sonderregelung des § 22 Abs. 1 SGB II bestimmt daher den Umfang der zu übernehmenden Unterkunftskosten und nicht ein unkonturiertes Gebot zu sparsamem Verhalten.

Die Regelung des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II n.F. stützt die angefochtene Kürzung der Unter-kunftskosten auf die Alt-Miete ab August 2006 nicht. Denn dies liefe auf eine Rückwirkung dieser Bestimmung hinaus, für die es keine Rechtfertigung gibt. Zwingende Gründe des Gemeinwohls sind vom Gesetzgeber nicht vorgebracht worden. Bei sachorientierter, nüchterner Betrachtung gibt es keine "Hartz IV-Kostenexplosion", insbesondere ist ein Anstieg der Unterkunftskosten aufgrund nicht erforderlicher Umzüge nicht nachgewiesen, wenn überhaupt seriös dokumentiert. Im vorliegenden Fall erfolgte der Umzug zu einem Zeitpunkt, zu dem das Vertrauen in den Fortbestand der alten, über die Richtwerte ohnehin schon restriktiven Regelung, noch nicht durch erkennbare gesetzgeberische Aktivitäten, vor allem den Gesetzesbeschluss des Bundestages, erschüttert war (vgl. dazu BSG, Urteil vom 25.6.1998 – B 7 AL 2/98 R).

Schließlich kann dieser Regelung nicht die Bedeutung einer bloßen Klarstellung vorbesteh-ender Regelungsbefugnis beigemessen werden. Selbst für reine Klarstellungsregelungen gibt es keinen Grundsatz, dass sie rückwirkend angewandt werden, erst recht gilt das für Normen, mit denen eine echte Rechtsänderung verbunden ist, worauf hier auch die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16 /1410, S, 23) hindeutet (vgl. dazu BSG, Urteil vom 6.4.2006 – B 7a AL 74/05 R).

Damit steht ungeachtet der im Hauptsacheverfahren aufzuklärenden Frage, ob hier ein erforderlicher Umzug vorlag und ob die 360,- EUR eine dem aktuellen Wohnungsmarkt außerhalb ghettoisierter Randgebiete adäquate Richtgröße abbilden, fest, dass der Ast. Anspruch auf Übernahme von 351,- EUR monatliche Unterkunftskosten hat.

Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass wegen Unterdeckung der Wohnkosten Mietschulden und damit der Verlust der Wohnung droht. Solange dies nicht ansteht, bleiben solche Erwägungen spekulativ (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 22.11.2005 – L 12 B 38/05 AS ER).

Nach summarischer Prüfung ist ein Anspruch auf Übernahme der vollen Mietkosten abzüglich der Warmwasser-Pauschale dagegen unwahrscheinlich. Denn bislang haben die für Berlin zuständigen Sozial und Landessozialgerichte die Werte der AV-Wohnen nicht beanstandet, so dass auch bei Annahme eines erforderlichen Umzug nur die Angemessenheitsmiete von 351,- EUR zu übernehmen ist. Die 6-monatige Suchfrist greift nicht, da der Ag. die neue Miete zu keinem Zeitpunkt akzeptiert hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass der Eilantrag nicht die noch offene Klage gegen den Widerspruchbescheid vom 28.7.2006 ersetzt!
Rechtskraft
Aus
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