Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 91 AS 101334/05 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 B 1338/05 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. November 2005 aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 2005 wird angeordnet. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Gründe:
I.
Streitig ist die vorläufige Weiterzahlung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Der 1949 geborene Antragsteller beantragte am 10. Januar 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II). In dem Formularantrag gab er zu seinen persönlichen Verhältnissen an, alleinstehend zu sein. Er legte einen Mietvertrag vor, wonach er gemeinsam mit Frau C eine 90 m² große Drei-Zimmer-Wohnung angemietet hatte, und einen mit Frau C geschlossenen Untermietvertrag, der dieser 1½ Zimmer zur eigenen Nutzung sowie Küche, Bad und Toilette zur Mitbenutzung überließ. Der Antragsgegner merkte intern die Überprüfung des Bestehens einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft sowie der Frage der Angemessenheit des Wohnraums vor und bewilligte dem Antragsteller durch Bescheid vom 9. Februar 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bis zum 31. Juli 2005. Auf erneuten Antrag vom 4. Juli 2005 mit der Angabe, die persönlichen Verhältnisse seien unverändert, gewährte der Antragsgegner mit Bescheiden vom 11. Juli 2005 und 9. August 2005 dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 1. August 2005 bis 31. Januar 2006 in Höhe von 730,08 EUR monatlich. Bei der Berechnung der Leistungen waren die gesamten Kosten der Drei-Zimmer-Wohnung als Bedarf des Antragstellers und der von Frau C gezahlte Untermietzins als Einkommen berücksichtigt worden.
Am 24. August 2005 führte der Außendienst des Antragsgegners einen Hausbesuch in der Wohnung des Antragstellers durch. Anschließend hob der Antragsgegner durch Bescheid vom 15. September 2005 die Bewilligung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit ab 1. Oktober 2005 unter Berufung auf § 48 Abs. 2 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X), § 40 Abs. 1 und 2 SGB II und § 330 Abs. 3 und § 331 Abs. 1 des Dritten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB III) auf. Der Hausbesuch habe ergeben, dass mit Frau C eine eheähnliche Gemeinschaft unterhalten werde. Eine Trennung der Lebensbereiche in der gemeinsam bewohnten Wohnung sei nicht erkennbar gewesen, die eheähnliche Gemeinschaft als Einstandsgemeinschaft anzusehen. Der Antragsteller könne für die Zeit ab 1. Oktober 2005 erneut Leistungen beantragen, habe dann aber Angaben zu Frau C und Nachweise über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnissen beizufügen. Die Rücknahme der Bewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit werde noch geprüft, gegebenenfalls ein weiterer Bescheid erteilt.
Der Antragsteller legte Widerspruch ein, mit dem er geltend machte, dass zwischen ihm und Frau C keine eheähnliche Lebensgemeinschaft bestehe. In seinem zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 17. Oktober 2005 führte der Antragsgegner aus, dass aufgrund des Hausbesuches festzustellen sei, dass nicht – wie vom Antragsteller zunächst angegeben – ein Untermietverhältnis mit Frau C bestehe, sondern vielmehr eine eheähnliche Gemeinschaft. Denn es sei lebensfremd, dass bei einer nur zum Zwecke der Mietkostenteilung unterhaltenen Wohngemeinschaft keine räumliche Trennung vorgenommen worden sei.
Dagegen hat der Antragsteller Klage vor dem Sozialgericht Berlin zum Az. S 91 AS 10134/95 erhoben. Mit dem am 24. Oktober 2005 eingegangenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt der Antragsteller die Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ab dem 1. Oktober 2005. Das Sozialgericht hat den Antrag abgelehnt (Beschluss vom 14. November 2005). Das auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86 b Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gerichtete Begehren des Antragstellers könne mangels eines erkennbaren Anordnungsanspruches keinen Erfolg haben. Die Hilfebedürftigkeit des Antragstellers ergebe sich insbesondere nicht aus seiner Behauptung, es bestehe keine eheähnliche Lebensgemeinschaft. Diese Behauptung werde dadurch entkräftet, dass es sich bei dem mit Frau C abgeschlossenen Untermietvertrag nur um ein Scheingeschäft gehandelt haben könne, weil Frau C bereits Hauptmieterin sei. Auch sei sie ausweislich der vorgelegten Kontoauszüge gemeinsam mit dem Antragsteller Inhaber eines bei der B S bestehenden Kontos. Schließlich habe der unangemeldete Hausbesuch eine Trennung der räumlichen Lebensbereiche in der Wohnung nicht bestätigt.
Gegen den ihm am 23. November 2005 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde des Antragstellers vom 28. November 2005, mit der er geltend macht, dass zwischen ihm und Frau C keine eheähnliche Lebensgemeinschaft bestehe. Dies hat auch Frau Cgegenüber dem Senat erklärt, die im Übrigen angibt, 509,94 EUR Rente monatlich zu erhalten und, wenn es sich anbiete, 250,00 EUR bis 350,00 EUR dazuverdienen zu können.
Der Antragsteller beantragt (nach dem Sinn seines Vorbringens),
den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. November 2005 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 2005 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Gewährung von Leistungen an den Antragsteller unter Berücksichtigung des Einkommens von Frau C sei nur möglich, wenn ein erneuter Antrag gestellt werde und Frau C sich vollständig zu ihrem Einkommen erklärt habe. Es handele sich vorliegend um einen Fall der nachträglichen Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse, weil er – der Antragsgegner – erst nach dem durchgeführten Hausbesuch habe erkennen können, dass der Antragsteller entgegen seinen Angaben eine eheähnliche Gemeinschaft unterhalte. Sollte der erkennende Senat diese Auffassung nicht teilen, so sei der Aufhebungsbescheid vom 15. September 2005 entsprechend § 43 SGB X in Verbindung mit § 40 SGB II in eine auf § 45 SGB X zu stützende Rücknahme des Bescheides vom 11. Juli 2005 in der Form des "Änderungsbescheides" vom 9. August 2005 umzudeuten. Der Antragsteller sei bösgläubig gewesen, weil er zumindest grob fahrlässig unrichtige Angaben zur Art des Zusammenlebens mit Frau C gemacht habe. Eine Ermessensausübung sei nicht möglich, weil er – der Antragsgegner – gemäß § 40 Abs. 1 Satz Nr. 1 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 2 SGB III verpflichtet sei, einen rechtswidrigen begünstigen Verwaltungsakt auch für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die den Antragsteller betreffende Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind.
II.
Der Beschluss des Sozialgerichts ist schon deswegen fehlerhaft, weil es zu Unrecht über den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG entschieden hat. Bei einer interessegerechten, am Rechtsschutzziel ausgerichteten Auslegung begehrt der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage. Der Bescheid des Antragsgegners vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 2005, der Anlass des vorliegenden Rechtsschutzbegehrens ist, greift nämlich in eine Rechtstellung ein, die dem Antragsteller durch die Bescheide vom 11. Juli 2005 und 9. August 2005 von dem Antragsgegner bereits eingeräumt worden ist. Zur Frage, ob dem Antragsteller über den ursprünglichen Bewilligungszeitraum (31. Januar 2006) hinaus noch weitere Leistungen zu gewähren sind, hat der Antragsgegner – jedenfalls in den hier angegriffenen Bescheiden - noch nicht entschieden, sie kann daher nicht Gegenstand des vorliegenden, auf die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz gerichteten Verfahrens sein.
Nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Diese Vorschrift findet vorliegend Anwendung, weil nach § 39 SGB II Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung haben. Maßstab für die Entscheidung des Gerichts über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist, inwieweit die in der Hauptsache eingelegten Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg haben (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 8. Auflage, § 86 b Rdnr. 12c). Danach ist hier die aufschiebende Wirkung anzuordnen, weil erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 2005 bestehen.
§ 48 SGB X in Verbindung mit § 40 Abs. 1 SGB II und § 330 Abs. 3 SGB III kann keine Rechtsgrundlage für die Entziehung der bereits bewilligten Leistungen sein. Diese Vorschriften setzen eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse voraus. Insoweit kommt es darauf an, ob sich die tatsächlichen Verhältnisse nach dem Erlass eines Verwaltungsaktes verändert haben. Das ist nicht gleichbedeutend damit, ab wann die von Anfang an bestehenden Verhältnisse erkennbar geworden sind. Der Antragsgegner sieht eine Veränderung der Verhältnisse darin, dass der Antragsteller in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft lebt. Er geht aber selbst davon aus, dass dies bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung so gewesen ist. Es gibt auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sich Inhalt und Qualität der zwischen dem Antragsteller und Frau C bestehenden Beziehungen seit der erstmaligen Beantragung von Leistungen nach dem SGB II verändert haben könnten. Dann fehlt es aber jedenfalls an einer nachträglichen Änderung der Verhältnisse, womit eine Anwendung der §§ 48 Abs. 1 SGB X, 40 Abs. 1 SGB II und 330 Abs. 3 SGB III ausscheidet.
Ob die Aufhebungsentscheidung der Beklagten in eine auf §§ 45 SGB X, 40 Abs. 1 SGB II, 330 Abs. 2 SGB III zu stützende Rücknahme umgedeutet werden kann bzw. als solche rechtmäßig wäre, unterliegt erheblichen Zweifeln. Diese ergeben sich daraus, dass der Antragsgegner nach seinem eigenen Vortrag bei der Rücknahmeentscheidung kein Ermessen ausgeübt hat. Die Ausübung von Ermessen ist aber entgegen der Rechtsansicht des Antragsgegners – keineswegs von vornherein ausgeschlossen. § 330 Abs. 2 SGB III, der nach § 40 Abs. 1 SGB II hier entsprechend anwendbar ist, entbindet nur für die Fälle von einer Ermessensausübung, in denen die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 SGB X auch mit Wirkung für die Vergangenheit möglich ist, weil die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X vorliegen. Außerhalb dieser Fälle muss Ermessen ausgeübt werden (vgl. Niesel, SGB III, 3. Auflage, § 330 Rdnr. 24).
Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X kann der Begünstigte sich nicht auf Vertrauen berufen, wenn er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder in Folge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Ob vorliegend die Bösgläubigkeit des Antragstellers daraus hergeleitet werden kann, dass er im (ersten) Formularantrag nicht angab, in eheähnlicher Gemeinschaft zu leben, erscheint zweifelhaft, weil er gleichzeitig mit der Antragstellung Mietverträge vorlegte, aus denen sich ergibt, dass er mit Frau C eine Wohnung teilt. Die Tatsache eines langjährigen Zusammenlebens mit einer Frau hat der Antragsteller jedenfalls nicht verschwiegen. Vorgehalten werden könnte ihm allenfalls, dass er Frau C in dem Formularantrag nicht erwähnte, auch nicht als eine mit ihm in einem Haushalt zusammen lebende weitere Person. Selbst wenn darin Täuschung oder in wesentlicher Beziehung unvollständige Angaben zu sehen wären, fehlte es aber an einer Kausalität für die Bewilligungsentscheidung des Antragsgegners. Denn der den Antrag entgegennehmende Bedienstete hat in dem Formular das Zusammenleben des Antragstellers mit Frau C in einer Wohnung nachgetragen, es war demnach bei der Bewilligung bekannt.
Auch der Vorwurf, der Antragsteller habe die Rechtswidrigkeit der erteilten Bewilligung erkannt oder nur infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt, erscheint zweifelhaft. Ob eine eheähnliche Gemeinschaft vorliegt, ist Ergebnis einer rechtlichen Wertung. Von dem Antragsteller war eine entsprechende Einordnung seiner Beziehung zu Frau C schon deswegen nicht zu erwarten, weil in dem Antragsformular keinerlei Erläuterungen dazu zu finden sind, unter welchen Voraussetzungen vom Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft auszugehen ist. Der Antragsgegner hat – wie sich aus dem Aktenvermerk ergibt – von Anfang an zureichenden Anlass gesehen, die Frage des Bestehens einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft zu überprüfen. Dass er einige Monate verstreichen ließ, ehe sein Außendienst eine Überprüfung vornahm, vermag den Vorwurf der Bösgläubigkeit jedenfalls nicht zu begründen. Danach sprechen gewichtige Gründe dafür, dass die Leistungsbewilligung selbst wenn eine eheähnliche Gemeinschaft vorliegen sollte nur mit Wirkung für die Zukunft und nach Ausübung von Ermessen hätte zurückgenommen werden dürfen.
Nach alledem ist wegen erheblicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage anzuordnen. Der Antragsgegner hat demnach bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache die dem Antragsteller bis zum 31. Januar 2006 bereits bewilligten Leistungen zunächst auszuzahlen.
Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Gründe:
I.
Streitig ist die vorläufige Weiterzahlung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Der 1949 geborene Antragsteller beantragte am 10. Januar 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II). In dem Formularantrag gab er zu seinen persönlichen Verhältnissen an, alleinstehend zu sein. Er legte einen Mietvertrag vor, wonach er gemeinsam mit Frau C eine 90 m² große Drei-Zimmer-Wohnung angemietet hatte, und einen mit Frau C geschlossenen Untermietvertrag, der dieser 1½ Zimmer zur eigenen Nutzung sowie Küche, Bad und Toilette zur Mitbenutzung überließ. Der Antragsgegner merkte intern die Überprüfung des Bestehens einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft sowie der Frage der Angemessenheit des Wohnraums vor und bewilligte dem Antragsteller durch Bescheid vom 9. Februar 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bis zum 31. Juli 2005. Auf erneuten Antrag vom 4. Juli 2005 mit der Angabe, die persönlichen Verhältnisse seien unverändert, gewährte der Antragsgegner mit Bescheiden vom 11. Juli 2005 und 9. August 2005 dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit vom 1. August 2005 bis 31. Januar 2006 in Höhe von 730,08 EUR monatlich. Bei der Berechnung der Leistungen waren die gesamten Kosten der Drei-Zimmer-Wohnung als Bedarf des Antragstellers und der von Frau C gezahlte Untermietzins als Einkommen berücksichtigt worden.
Am 24. August 2005 führte der Außendienst des Antragsgegners einen Hausbesuch in der Wohnung des Antragstellers durch. Anschließend hob der Antragsgegner durch Bescheid vom 15. September 2005 die Bewilligung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für die Zeit ab 1. Oktober 2005 unter Berufung auf § 48 Abs. 2 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X), § 40 Abs. 1 und 2 SGB II und § 330 Abs. 3 und § 331 Abs. 1 des Dritten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB III) auf. Der Hausbesuch habe ergeben, dass mit Frau C eine eheähnliche Gemeinschaft unterhalten werde. Eine Trennung der Lebensbereiche in der gemeinsam bewohnten Wohnung sei nicht erkennbar gewesen, die eheähnliche Gemeinschaft als Einstandsgemeinschaft anzusehen. Der Antragsteller könne für die Zeit ab 1. Oktober 2005 erneut Leistungen beantragen, habe dann aber Angaben zu Frau C und Nachweise über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnissen beizufügen. Die Rücknahme der Bewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit werde noch geprüft, gegebenenfalls ein weiterer Bescheid erteilt.
Der Antragsteller legte Widerspruch ein, mit dem er geltend machte, dass zwischen ihm und Frau C keine eheähnliche Lebensgemeinschaft bestehe. In seinem zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 17. Oktober 2005 führte der Antragsgegner aus, dass aufgrund des Hausbesuches festzustellen sei, dass nicht – wie vom Antragsteller zunächst angegeben – ein Untermietverhältnis mit Frau C bestehe, sondern vielmehr eine eheähnliche Gemeinschaft. Denn es sei lebensfremd, dass bei einer nur zum Zwecke der Mietkostenteilung unterhaltenen Wohngemeinschaft keine räumliche Trennung vorgenommen worden sei.
Dagegen hat der Antragsteller Klage vor dem Sozialgericht Berlin zum Az. S 91 AS 10134/95 erhoben. Mit dem am 24. Oktober 2005 eingegangenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt der Antragsteller die Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ab dem 1. Oktober 2005. Das Sozialgericht hat den Antrag abgelehnt (Beschluss vom 14. November 2005). Das auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86 b Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gerichtete Begehren des Antragstellers könne mangels eines erkennbaren Anordnungsanspruches keinen Erfolg haben. Die Hilfebedürftigkeit des Antragstellers ergebe sich insbesondere nicht aus seiner Behauptung, es bestehe keine eheähnliche Lebensgemeinschaft. Diese Behauptung werde dadurch entkräftet, dass es sich bei dem mit Frau C abgeschlossenen Untermietvertrag nur um ein Scheingeschäft gehandelt haben könne, weil Frau C bereits Hauptmieterin sei. Auch sei sie ausweislich der vorgelegten Kontoauszüge gemeinsam mit dem Antragsteller Inhaber eines bei der B S bestehenden Kontos. Schließlich habe der unangemeldete Hausbesuch eine Trennung der räumlichen Lebensbereiche in der Wohnung nicht bestätigt.
Gegen den ihm am 23. November 2005 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde des Antragstellers vom 28. November 2005, mit der er geltend macht, dass zwischen ihm und Frau C keine eheähnliche Lebensgemeinschaft bestehe. Dies hat auch Frau Cgegenüber dem Senat erklärt, die im Übrigen angibt, 509,94 EUR Rente monatlich zu erhalten und, wenn es sich anbiete, 250,00 EUR bis 350,00 EUR dazuverdienen zu können.
Der Antragsteller beantragt (nach dem Sinn seines Vorbringens),
den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. November 2005 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 2005 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Gewährung von Leistungen an den Antragsteller unter Berücksichtigung des Einkommens von Frau C sei nur möglich, wenn ein erneuter Antrag gestellt werde und Frau C sich vollständig zu ihrem Einkommen erklärt habe. Es handele sich vorliegend um einen Fall der nachträglichen Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse, weil er – der Antragsgegner – erst nach dem durchgeführten Hausbesuch habe erkennen können, dass der Antragsteller entgegen seinen Angaben eine eheähnliche Gemeinschaft unterhalte. Sollte der erkennende Senat diese Auffassung nicht teilen, so sei der Aufhebungsbescheid vom 15. September 2005 entsprechend § 43 SGB X in Verbindung mit § 40 SGB II in eine auf § 45 SGB X zu stützende Rücknahme des Bescheides vom 11. Juli 2005 in der Form des "Änderungsbescheides" vom 9. August 2005 umzudeuten. Der Antragsteller sei bösgläubig gewesen, weil er zumindest grob fahrlässig unrichtige Angaben zur Art des Zusammenlebens mit Frau C gemacht habe. Eine Ermessensausübung sei nicht möglich, weil er – der Antragsgegner – gemäß § 40 Abs. 1 Satz Nr. 1 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 2 SGB III verpflichtet sei, einen rechtswidrigen begünstigen Verwaltungsakt auch für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die den Antragsteller betreffende Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind.
II.
Der Beschluss des Sozialgerichts ist schon deswegen fehlerhaft, weil es zu Unrecht über den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG entschieden hat. Bei einer interessegerechten, am Rechtsschutzziel ausgerichteten Auslegung begehrt der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage. Der Bescheid des Antragsgegners vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 2005, der Anlass des vorliegenden Rechtsschutzbegehrens ist, greift nämlich in eine Rechtstellung ein, die dem Antragsteller durch die Bescheide vom 11. Juli 2005 und 9. August 2005 von dem Antragsgegner bereits eingeräumt worden ist. Zur Frage, ob dem Antragsteller über den ursprünglichen Bewilligungszeitraum (31. Januar 2006) hinaus noch weitere Leistungen zu gewähren sind, hat der Antragsgegner – jedenfalls in den hier angegriffenen Bescheiden - noch nicht entschieden, sie kann daher nicht Gegenstand des vorliegenden, auf die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz gerichteten Verfahrens sein.
Nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Diese Vorschrift findet vorliegend Anwendung, weil nach § 39 SGB II Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung haben. Maßstab für die Entscheidung des Gerichts über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist, inwieweit die in der Hauptsache eingelegten Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg haben (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 8. Auflage, § 86 b Rdnr. 12c). Danach ist hier die aufschiebende Wirkung anzuordnen, weil erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 15. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 2005 bestehen.
§ 48 SGB X in Verbindung mit § 40 Abs. 1 SGB II und § 330 Abs. 3 SGB III kann keine Rechtsgrundlage für die Entziehung der bereits bewilligten Leistungen sein. Diese Vorschriften setzen eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse voraus. Insoweit kommt es darauf an, ob sich die tatsächlichen Verhältnisse nach dem Erlass eines Verwaltungsaktes verändert haben. Das ist nicht gleichbedeutend damit, ab wann die von Anfang an bestehenden Verhältnisse erkennbar geworden sind. Der Antragsgegner sieht eine Veränderung der Verhältnisse darin, dass der Antragsteller in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft lebt. Er geht aber selbst davon aus, dass dies bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung so gewesen ist. Es gibt auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sich Inhalt und Qualität der zwischen dem Antragsteller und Frau C bestehenden Beziehungen seit der erstmaligen Beantragung von Leistungen nach dem SGB II verändert haben könnten. Dann fehlt es aber jedenfalls an einer nachträglichen Änderung der Verhältnisse, womit eine Anwendung der §§ 48 Abs. 1 SGB X, 40 Abs. 1 SGB II und 330 Abs. 3 SGB III ausscheidet.
Ob die Aufhebungsentscheidung der Beklagten in eine auf §§ 45 SGB X, 40 Abs. 1 SGB II, 330 Abs. 2 SGB III zu stützende Rücknahme umgedeutet werden kann bzw. als solche rechtmäßig wäre, unterliegt erheblichen Zweifeln. Diese ergeben sich daraus, dass der Antragsgegner nach seinem eigenen Vortrag bei der Rücknahmeentscheidung kein Ermessen ausgeübt hat. Die Ausübung von Ermessen ist aber entgegen der Rechtsansicht des Antragsgegners – keineswegs von vornherein ausgeschlossen. § 330 Abs. 2 SGB III, der nach § 40 Abs. 1 SGB II hier entsprechend anwendbar ist, entbindet nur für die Fälle von einer Ermessensausübung, in denen die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 SGB X auch mit Wirkung für die Vergangenheit möglich ist, weil die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X vorliegen. Außerhalb dieser Fälle muss Ermessen ausgeübt werden (vgl. Niesel, SGB III, 3. Auflage, § 330 Rdnr. 24).
Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X kann der Begünstigte sich nicht auf Vertrauen berufen, wenn er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder in Folge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Ob vorliegend die Bösgläubigkeit des Antragstellers daraus hergeleitet werden kann, dass er im (ersten) Formularantrag nicht angab, in eheähnlicher Gemeinschaft zu leben, erscheint zweifelhaft, weil er gleichzeitig mit der Antragstellung Mietverträge vorlegte, aus denen sich ergibt, dass er mit Frau C eine Wohnung teilt. Die Tatsache eines langjährigen Zusammenlebens mit einer Frau hat der Antragsteller jedenfalls nicht verschwiegen. Vorgehalten werden könnte ihm allenfalls, dass er Frau C in dem Formularantrag nicht erwähnte, auch nicht als eine mit ihm in einem Haushalt zusammen lebende weitere Person. Selbst wenn darin Täuschung oder in wesentlicher Beziehung unvollständige Angaben zu sehen wären, fehlte es aber an einer Kausalität für die Bewilligungsentscheidung des Antragsgegners. Denn der den Antrag entgegennehmende Bedienstete hat in dem Formular das Zusammenleben des Antragstellers mit Frau C in einer Wohnung nachgetragen, es war demnach bei der Bewilligung bekannt.
Auch der Vorwurf, der Antragsteller habe die Rechtswidrigkeit der erteilten Bewilligung erkannt oder nur infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt, erscheint zweifelhaft. Ob eine eheähnliche Gemeinschaft vorliegt, ist Ergebnis einer rechtlichen Wertung. Von dem Antragsteller war eine entsprechende Einordnung seiner Beziehung zu Frau C schon deswegen nicht zu erwarten, weil in dem Antragsformular keinerlei Erläuterungen dazu zu finden sind, unter welchen Voraussetzungen vom Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft auszugehen ist. Der Antragsgegner hat – wie sich aus dem Aktenvermerk ergibt – von Anfang an zureichenden Anlass gesehen, die Frage des Bestehens einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft zu überprüfen. Dass er einige Monate verstreichen ließ, ehe sein Außendienst eine Überprüfung vornahm, vermag den Vorwurf der Bösgläubigkeit jedenfalls nicht zu begründen. Danach sprechen gewichtige Gründe dafür, dass die Leistungsbewilligung selbst wenn eine eheähnliche Gemeinschaft vorliegen sollte nur mit Wirkung für die Zukunft und nach Ausübung von Ermessen hätte zurückgenommen werden dürfen.
Nach alledem ist wegen erheblicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage anzuordnen. Der Antragsgegner hat demnach bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache die dem Antragsteller bis zum 31. Januar 2006 bereits bewilligten Leistungen zunächst auszuzahlen.
Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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