L 1 U 574/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 6 U 3398/02
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 574/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 2. Januar 2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, in welcher Höhe dem Kläger Verletztenrente für den von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfall vom 08.10.1999 zusteht.

Der als Polier beschäftigte, 1944 geborene Kläger war am 08.10.1999 auf einer Baustelle von einer ca. 2,5 Meter hohen Betonmauer auf Rücken und Hinterkopf gestürzt. Er wurde nach notärztlicher Versorgung in die unfallchirurgische Abteilung des Krankenhauses B. eingeliefert, wo eine Schädelfraktur mit Schädelhirntrauma ersten Grades, eine Thoraxflankenprellung rechts mit Verdacht auf Fraktur der 7. Rippe rechts, eine Lendenwirbelsäulen(LWS)-Prellung rechts bei vorbekannten degenerativen Veränderungen und eine Hüftprellung rechts diagnostiziert wurde. Der erhobene Röntgenbefund ergab neben der Schädelfraktur für die Halswirbelsäule (HWS) keinen Nachweis einer frischen knöchernen Verletzung (Durchgangsarztbericht von Prof. Dr. F. vom 13.10.1999). Der Kläger wurde vom 08.10. bis 23.10.1999 stationär im Krankenhaus B. behandelt und mit der Diagnose einer occipitalen (den Hinterkopf betreffende) Schädelfraktur mit contusio cerebri (Hirnprellung) in die ambulante Behandlung entlassen (Entlassungsbericht von Prof. Dr. F. vom 26.10.1999).

Die W. B.-Berufsgenossenschaft, eine Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Nachfolgenden durchgehend: Beklagte), holte das Gutachten vom 20.03.2000 ein. Darin beschrieb Prof. Dr. H. als Unfallfolgen einen noch nicht knöchern ausgeheilten Bruch des Hinterhauptes sowie eine Prellung des rechten Brustkorbes mit in regelrechter Stellung verheilten Brüchen der 7. bis 10. rechten Rippen. Als Röntgenbefund der HWS wurde eine Steilstellung ohne Anhalt für einen Bruch oder Luxation mit Osteochondrose zwischen 6. und 7. Halswirbelkörper und Randkantenausziehungen der Vorderkante des 3., 4. und 5. Halswirbelkörpers beschrieben. Als unfallunabhängig wurden u. a. bekannte wirbelsäulenbedingte Beschwerden eingestuft. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) aufgrund der Unfallfolgen wurde von Prof. Dr. H. auf unfallchirurgischem Gebiet mit weniger als 10 v.H. eingestuft. Im nervenärztlichen Gutachten von Dr. J. vom 25.04.2000 mit Ergänzung vom 31.05.2000 wurden als Diagnosen ein depressives Syndrom, ein hirnorganisches Psychosyndrom, ein Zustand nach Bandscheibenoperation der Lendenwirbelsäule 1992, ein Bandscheibenvorfall beim Halswirbelkörper-Segment 4/5 ohne Raumforderung mit degenerativen HWS-Veränderungen aufgeführt. Unfallfolgen seien das postcontusionelle hirnorganische Psychosyndrom mit vorwiegend depressiver Symptomatik, schneller Ermüdbarkeit, Reizbarkeit, Störung der Konzentration und des geistigen Leistungsvermögens, des Gedächtnisses und ausgeprägte verminderte Belastbarkeit sowie das depressive Syndrom, das durch die eingetretene Hirnläsion mit aufrechterhalten werde. Das degenerative HWS-Syndrom habe zu einem ausgeprägten chronischen Schmerzsyndrom geführt, das zu einem Tramadol-Abusus mit Auswirkungen ebenfalls auf die Hirnleistung geführt habe. Dr. J. schätzte die unfallbedingte MdE mit 100 v.H. für drei Monate, danach für ein Jahr mit 70 v.H. ein, danach sei eine neue Begutachtung angezeigt. Aufgrund der beratungsärztlichen Stellungnahme von Dr. M. vom 08.06.2000, der aus den erhobenen Befunden nur einen Hirnschaden mit geringer Leistungsbeeinträchtigung hat entnehmen können, gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 28.08.2000 dem Kläger eine Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 20 v.H. ab 27.12.1999.

Auf Widerspruch des Klägers holte die Beklagte das neurologische Gutachten von Prof. Dr. S. vom 15.05.2001 ein, das auf mehrere Zusatzgutachten (neuroradiologisches Zusatzgutachten von Dr. B. vom 20.04.2001, psychologisches Gutachten von Dipl. Psychologe N. vom 05.05.2001, hirnelektrisches Zusatzgutachten von Dr. M. vom 27.04.2001, elektrophysiologisches Zusatzgutachten von Dr. B. vom 27.04.2001) gestützt war. Prof. Dr. S. bewertete als unfallabhängig 1. ein geschlossenes Schädel-Hirn-Trauma mit occipitaler Schädelkalottenfraktur, contusio cerebri mit generalisiertem Hirnödem, Kontusionszone rechts fronto-basal mit Einblutung, Kontusionszone links fronto-basal, Kontusionszone rechts parieto-occipital mit traumatischer Subarachnoidalblutung, Subduralhämatom, hirnorganischem Psychosyndrom, Anpassungsstörung, phobischem Schwindel 2. eine Thoraxprellung rechts mit Fraktur der Rippen sieben bis zehn rechts 3. Zervikobrachialgie beidseits 4. eine LWS-Prellung 5. eine Hüftprellung. Als unfallunabhängig bezeichnete er u. a. einen Bandscheibenvorfall beim Lendenwirbelkörpersegment 4/5 sowie degenerative HWS-Veränderungen. Hinweise auf eine radikuläre Schädigung durch die HWS-Degeneration seien weder klinisch noch durch Kernspintomographie oder physiologische Untersuchungen zu verifizieren gewesen. Die erst nach dem Unfall aufgetretene Schmerzsymptomatik sei als unfallbedingte richtungsweisende Verschlechterung des degenerativen HWS-Syndroms zu werten. Außerdem sei eine vorbestehende Schwindelsymptomatik mit auslösergebundenen Schwindelattacken und begleitender vegetativer Symptomatik zu berücksichtigen. Die Anpassungsstörung stütze sich auf die nach dem Unfall aufgetretene Interessenverarmung, den sozialen Rückzug, ungerichtete Angstgefühle, Nervosität, Unruhe und vegetative Begleitsymptome. Vergesslichkeit, Konzentrations- und Belastungsminderung sowie Affektlabilität seien auf das hirnorganische Psychosyndrom als Folge der contusio cerebri zurückzuführen. Seitens der Rippenfrakturen und der Thoraxprellung habe der Kläger keinerlei Beschwerden mehr. Eine relevante eigenständige Depression oder eine reaktive depressive Episode auf den Tod des Bruders werde nicht gesehen. Die unfallbedingte MdE betrage 60 v.H. Dr. M. verneinte in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 21.06.2001 den unfallbedingten Zusammenhang der beschriebenen Zervikobrachialgie. Er schätzte die Teil-MdE für einen Hirnschaden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung auf 40 v.H. und die Anpassungsstörung mit phobischem Schwindel mit einer Teil-MdE von 20 v.H. ein und stimmte im Ergebnis einer unfallbedingten MdE von 60 v.H. zu.

Mit Bescheid vom 26.07.2001 änderte die Beklagte ihren Bescheid vom 28.08.2000 ab und gewährte ab 27.12.1999 eine Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 60 v.H. Als weitere Unfallfolge wurde anerkannt ein Hirnschaden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung bei aktuell schlechter Anpassung mit deutlichem, phobischem Schwindel und vorübergehender Anpassungsstörung.

Die Beklagte veranlasste zur Entscheidung über die Gewährung einer Rente auf unbestimmte Zeit eine Nachuntersuchung bei Prof. Dr. S ... Dieser schätzte in seinem Gutachten vom 21.05.2002 die unfallbedingte MdE mit 40 v.H. ein für die von ihm noch angenommenen Unfallfolgen eines hirnorganischen Psychosyndroms mit ängstlich-depressiver Färbung und einer leichten phobischen Schwindelsymptomatik. Die Schmerzsymptomatik im Rahmen der Zervikobrachialgie, die zu einer passageren Bewegungseinschränkung geführt habe, habe sich zurückgebildet, funktionelle Einschränkungen lägen nicht mehr vor. Ebenso habe der Schwindel abgenommen und trete nur noch unter Belastung oder bei Blick nach oben auf. Stark einschränkend sei nach wie vor das hirnorganische Psychosyndrom, hier müsse von einer Chronifizierung des depressiv-ängstlichen Syndroms auf dem Boden der Hirnleistungsstörung ausgegangen werden.

Nach Anhörung des Klägers (Anhörungsschreiben vom 20.06.2002) gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 25.07.2002 dem Kläger an Stelle der vorläufigen Entschädigung Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 40 v.H. ab 01.08.2002. Als Folge des Arbeitsunfalls wurden anerkannt: ein hirnorganisches Psychosyndrom mit depressiv-ängstlicher Färbung, Anpassungsstörung und gelegentlich auftretendem phobischem Schwindel nach Schädel-Hirn-Trauma mit durchbautem Bruch des Hinterhauptes und abgelaufener Subarachnoidalblutung, Leistungsbeeinträchtigung in Form von Vergesslichkeit, Konzentrationsstörungen, verminderter Belastbarkeit.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, denn entgegen den Ausführungen von Prof. Dr. S. habe sich die Schmerzsymptomatik im Rahmen der Zervikobrachialgie nicht zurückgebildet. Er habe weiterhin Schmerzen im Halsbereich und müsse insoweit Medikamente einnehmen. Mit Widerspruchsbescheid vom 13.12.2002 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Der Kläger hat am 23.12.2002 beim Sozialgericht Heilbronn (SG) Klage erhoben und zur Begründung sein bisheriges Vorbringen vertieft unter Vorlage eines Arztbriefes von Dr. L. vom 12.06.2003, in dem als HWS-Befund ein degeneratives Zervikalyndrom angeführt ist.

Das SG hat eine ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. S. vom 15.07.2003 eingeholt. Darin hat Prof. Dr. S. unter Hinweis auf die in seinem Gutachten vom 21.05.2002 enthaltene unfallbedingte Diagnose einer passageren Exazerbation einer Zervikobrachialgie beidseits an seiner MdE-Einschätzung von 40 v.H. festgehalten. Aufgrund der deutlichen Rückbildung der Schmerzsymptomatik als auch der Schwindelsymptomatik und der hierdurch bedingten initial vorgelegenen funktionellen Einschränkung sei die MdE um 40 v.H. gerechtfertigt.

Das SG hat in nichtöffentlicher Sitzung am 16.07.2004 mit den Beteiligten die Sach- und Rechtslage erörtert.

Mit Gerichtsbescheid vom 02.01.2006 hat das SG die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat das SG ausgeführt, bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach vorläufiger Entschädigung könne die MdE abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert hätten. Nach dem Gutachten von Prof. Dr. S. rechtfertigten die jetzt noch vorliegenden Unfallfolgen nur eine MdE von 40 v.H. Dies entspreche auch den Vorgaben in der Rentenliteratur, wonach bei mäßiggradigen Hirnschädigungen mit organisch-psychischen Störungen von einer MdE-Spanne von 40 bis 50 v.H. auszugehen sei. Soweit der Kläger sich weiterhin auf Schmerzen im Halsbereich und damit einhergehenden Schlafstörungen berufe, sei darauf hinzuweisen, dass die HWS-Veränderungen nicht als Unfallfolgen in dem angefochtenen Bescheid anerkannt seien, auch nicht in den Bescheiden zur vorläufigen Entschädigung. An der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung bestünden auch keine Zweifel, wenn man eine Bindungswirkung der Vorbescheide verneinen wolle. Eine richtungsweisende Verschlimmerung durch den Unfall, wie von Prof. Dr. S. angenommen, liege nach den ersten Befundberichten, u. a. von PD Dr. F., und nach dem Gutachten von Prof. Dr. H. nicht vor.

Der Kläger hat am 03.02.2006 Berufung gegen den Gerichtsbescheid eingelegt und zur Begründung wiederholend darauf hingewiesen, er leide weiterhin unter Schmerzen im Halsbereich, sei zur Einnahme von Medikamenten gezwungen und die vorliegenden Schmerzen führten zu Schlafstörungen. Es werde die Einholung eines neurologischen Gutachtens angeregt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgericht Heilbronn vom 02.01.2006 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 25.07.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.12.2002 abzuändern sowie die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 01.08.2002 eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 60 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf die für zutreffend erachteten Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid.

Der Senat hat die Verwaltungsakte der Beklagten und die Akte des SG beigezogen. Auf diese Unterlagen und die beim Senat angefallene Akte des Berufungsverfahrens wird verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gem. §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten mit Urteil ohne mündliche Verhandlung hat entscheiden können (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG), ist auch im Übrigen zulässig.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid ist nicht zu beanstanden. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer höheren Verletztenrente auf unbestimmte Zeit.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente. Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 vom Hundert mindern (§ 56 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch Gesetzliche Unfallversicherung - SGB VII -). Während der ersten drei Jahre nach dem Versicherungsfall soll der Unfallversicherungsträger die Rente als vorläufige Entschädigung festsetzen, wenn der Umfang der MdE noch nicht abschließend festgestellt werden kann (§ 62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall wird die vorläufige Entschädigung als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet. Bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung kann der Vomhundertsatz der MdE abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben (§ 62 Abs. 2 SGB VII).

Nach diesen Grundsätzen ist es für die rechtliche Beurteilung ohne Belang, ob bei den unfallbedingten Gesundheitsstörungen eine Änderung, entweder eine Besserung oder eine Verschlechterung, im Vergleich zu den Verhältnissen zum Zeitpunkt der Entscheidung über eine vorläufige Entschädigung eingetreten ist. Die erstmalige Entscheidung über die Gewährung einer Rente auf unbestimmte Zeit erfolgt unter Berücksichtigung der zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Unfallfolgen.

Die Feststellung der Unfallfolgen im angefochtenen Bescheid der Beklagten ist auch nach Rechtsauffassung des Senats nicht zu beanstanden. Bereits das SG hat im angefochtenen Gerichtsbescheid zutreffend ausgeführt, dass nach dem auch für den Senat überzeugenden unfallchirurgischen Gutachten von Prof. Dr. H. vom 20.03.2000 hinsichtlich der HWS keine unfallbedingten Verletzungen oder Funktionseinschränkung vorlagen. Die aus dem Röntgenbefund ersichtlichen Veränderungen an den Halswirbelkörpern waren unfallunabhängigen vorbestehenden Degenerationserscheinungen zuzuordnen. Auch im nervenärztlichen Gutachten von Dr. J. vom 25.04.2000 wird ein degeneratives HWS-Syndrom mit Bandscheibenvorfall bei C 4/5, das zu einem ausgeprägten Schmerzsyndrom geführt hat, beschrieben und nicht als Unfallfolge gewertet. Zu einem gleichen Ergebnis kommt letztlich auch Prof. Dr. S., der zwar in seinem Gutachten zur vorläufigen Entschädigung von einer unfallbedingten richtunggebenden Verschlimmerung des vorbestehenden HWS-Syndroms ausgegangen ist, jetzt aber dies als eine passagere, also vorübergehende, Exazerbation, Hervorrufung, der Zervikobrachialgie beidseits unter Rückgang initialer Einschränkungen beurteilt. Er konnte bei der Untersuchung des Klägers am 18.04.2002 an Kopf und Hals keinen pathologischen Befund erheben. Anamnestisch gab der Kläger Nackenschmerzen an, die nicht in Schultern oder Arme ausstrahlen würden, die HWS-Beweglichkeit sei nicht mehr eingeschränkt. Entsprechende funktionelle Einschränkungen hat Prof. Dr. S. bei der Untersuchung des Klägers auch nicht erhoben. Soweit demzufolge noch HWS-Beschwerden beim Kläger vorliegen - sein Vorbringen als wahr unterstellt -, handelt es sich allenfalls um eine Beschwerdesymptomatik, die auf die bereits unfallvorbestehenden degenerativen Veränderungen zurückzuführen ist. Insoweit hat auch Prof. Dr. S. im Gutachten vom 21.05.2002 die analgetische und balneophysikalische Therapie des als nicht unfallbedingt bezeichneten chronischen Schmerzsyndroms bei degenerativen Wirbelsäulenveränderungen (der HWS und LWS) empfohlen.

Die Höhe der unfallbedingten MdE mit 40 v.H. ist ebenfalls nicht zu beanstanden, wie das SG bereits zutreffend ausgeführt hat. Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 S. 1 SGB VII; vgl. auch BSGE 63, 207, 209 = SozR 2200 § 581 Nr. 28). Dabei kommt es auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich wissenschaftlichem Gebiet. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung; sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind (vgl. BSG SozR 2200 § 581 Nrn. 22 und 23). Bei der Beurteilung der MdE sind aber auch die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie von dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten allgemeinen Erfahrungssätze zu beachten, die zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend sind, aber Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis bilden und einem ständigen Wandel unterliegen (vgl. BSG SozR 2200 § 581 Nr. 23 und 27). Bei einer Vielzahl von Unfallfolgen haben sich im Laufe der Zeit für die Schätzung der MdE Erfahrungswerte herausgebildet. Sie sind in Form von Rententabellen oder Empfehlungen zusammengefasst und dienen als Anhaltspunkte für die MdE Einschätzung im Einzelfall. Die in den Tabellen und Empfehlungen enthaltenen Richtwerte bilden lediglich die Basis für einen Vorschlag, den der medizinische Sachverständige zur Höhe der MdE unterbreitet, und gewährleisten, dass alle Betroffenen bei der medizinischen Begutachtung nach einheitlichen Kriterien beurteilt werden (Ruppelt in Schulin HS UV, § 48 RdNr 28). Den MdE Tabellen kommt nicht der Rechtscharakter einer gesetzlichen Norm zu. Sie können vielmehr als antizipierte Sachverständigengutachten angesehen werden, um den unbestimmten Rechtsbegriff der MdE auszufüllen (BSG SozR 3 2200 § 581 Nr. 5).

Nach diesen Grundsätzen ist die von Prof. Dr. S. vorgenommene MdE-Bewertung mit 40 v.H. für den Senat nachvollziehbar. Prof. Dr. S. hat dieser Bewertung nur die von ihm als Unfallfolgen diagnostizierten Gesundheitsstörungen zugrunde gelegt. Da funktionelle Beeinträchtigungen seitens der HWS nicht berücksichtigt wurden, beruht die MdE-Bewertung allein auf dem Befund des hirnorganischen Psychosyndroms und des phobischen Schwindels. Nach der unfallmedizinischen Literatur, auf die bereits das SG im angefochtenen Gerichtsbescheid hingewiesen hat, sind unter anderem akute Belastungsreaktionen, Anpassungsbeeinträchtigungen, psychoreaktive Störungen mit finaler Ausrichtung, sogenannte leichtere neurotische Störungen (oft mit vegetativer Symptomatik verbunden, sogenanntes psychovegetatives Syndrom) mit einer MdE von 0 bis 10 v.H. einzustufen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl., S. 246), Hirnschädigungen mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung sind mit einer MdE von 30 bis 50 v.H. bewertet (Schönberger/Mertens/Valentin a. a. O. S. 275). Gleichgewichtsstörungen durch gelegentlichen Belastungsschwindel mit Unsicherheit bei plötzlicher Kopfdrehung oder Lageschwindel werden i. d. R. mit einer MdE von 10 v.H. eingestuft (vgl. Schönberger/Mertens/Valentin a. a. O., S. 408). Die Auswirkungen der von Prof. Dr. S. auch nicht mehr weiter differenzierten Anpassungsstörung mit ungerichteten Angstgefühlen, Nervosität, Unruhe, vegetativer Begleitsymptomatik ist weitgehend funktionell deckungsgleich mit den Auswirkungen der Hirnleistungsschwäche wie Konzentrations- und Belastungsminderung und Affektlabilität. Unter Berücksichtigung, dass der diagnostizierte phobische Schwindel mit begleitender vegetativer Symptomatik sich funktionell mit dem von Prof. Dr. S. zusammenfassend umschriebenen hirnorganischen Psychosyndrom depressiv-ängstlichen Charakters ebenso teilweise überschneidet, steht die von Prof. Dr. S. angegebene MdE um 40 v.H. im Einklang mit den Bewertungskriterien der unfallmedizinischen Literatur.

Der Senat sah bei dem zu seiner Überzeugung umfassend aufgeklärten medizinischen Sachverhalt keine Veranlassung zur Einholung eines weiteren neurologischen Gutachtens.

Die Kostenentscheidung beruht § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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