L 13 AL 599/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AL 3237/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AL 599/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 12. Januar 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich im Zugunstenverfahren gegen die Teilrücknahme der Bewilligungsentscheidung über Arbeitslosengeld (Alg) vom 21. März bis 31. Juli 2002 sowie Unterhaltsgeld (Uhg) vom 1. August bis 8. Dezember 2002 und die Pflicht zur Erstattung eines Betrages von insgesamt EUR 1.927,79.

Die 1959 geborene Klägerin, berufstätig gewesen als Apothekenhelferin, Verkäuferin und Küchenhilfe, hatte seit 1987 mehrmals kürzerfristig Alg bezogen. Vom 15. März 2001 bis 15. März 2002 stand sie in befristeter Beschäftigung bei M.D. mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden und schwankendem Entgelt, das nur von September bis November 2001 einen Bruttomonatsbetrag von DM 1.800,- überstieg; im Januar und Februar 2002 war sie krank ohne Entgeltfortzahlung. Insgesamt bezog sie EUR 8.639,13 brutto (vgl. berichtigte Arbeitsbescheinigung vom 4. Juli 2002). Am 13. März 2002 meldete sich die Klägerin beim damaligen Arbeitsamt (ArbA) W.-T. arbeitslos und beantragte Alg. Durch Bescheid vom 8. Mai 2002 bewilligte das ArbA Alg zunächst ab 2. Mai 2002 für 360 Tage. Es war irrtümlich angenommen worden (Bescheide vom 6. Juni 2002 und Aufhebungsbescheid vom 7. August 2002), dass der Zeitraum der Urlaubsabgeltung bis 8. April 2002 laufe und wegen zwischenzeitlicher Erkrankung ab 26. März 2002 Anspruch auf Krankengeld bestehe. Nach Aufklärung des Irrtums (Bescheid vom 7. August 2002: Urlaubsabgeltung nur bis 20. März 2020, Erkrankung erst am 26. März 2002, demgemäß Anspruch auf Leistungsfortzahlung) erfolgte durch Bescheid vom 8. August 2020 die Nachzahlung vom 21. März bis 1. Mai 2002. In beiden Bescheiden wurde ein wöchentliches Bemessungsentgelt von EUR 370 und ein wöchentlicher Leistungssatz (A/0) von EUR 148,75 ausgewiesen. Der Leistungsbezug endete mit 31. Juli 2002, da die Klägerin in eine kaufmännische Bildungsmaßnahme eintrat (bestandskräftiger Aufhebungsbescheid vom 16. August 2002). Ab 1. August 2002 bezog sie das bis 2. Februar 2002 bewilligte Uhg bei gleichem Bemessungsentgelt und Leistungssatz (Bescheid vom 16. August 2002).

Durch Bescheid vom 4. Dezember 2002 (Widerspruchsbescheid vom 17. Februar 2003, nicht angegriffen) hob das ArbA die Bewilligungsentscheidung über Uhg zunächst für die Zukunft ab 9. Dezember 2002 in Höhe von EUR 51,31 wöchentlich auf, da bemerkt worden war, dass das 2001 in DM erzielte Arbeitsentgelt bei der Bemessung als Euro übernommen worden war. Mit Schreiben vom 6. Mai 2003 hörte das ArbA die Klägerin zur beabsichtigten Teilrücknahme und zur Erstattungsforderung über EUR 1.927,79 für die vorhergehende Zeit an. Die Klägerin äußerte sich unter dem 8. Mai 2003 nur dahingehend, sie könne sich nicht vorstellen, dass sie eine solche Summe zurückzahlen müsste. Durch Bescheid vom 30. Mai 2003 nahm das ArbA die Bewilligungsentscheidung über Alg für die Zeit vom 21. März bis 31. Juli 2002 teilweise in Höhe von EUR 51,31 wöchentlich zurück und verpflichtete zur Erstattung von EUR 974,89. Der weitere Bescheid vom selben Tag betraf die Teilrücknahme der Bewilligungsentscheidung über Uhg vom 1. August bis 8. Dezember 2002 und die Pflicht zur Erstattung von EUR 952,90. Die Klägerin legte keinen Widerspruch ein, sondern verblieb dabei (Schreiben vom 10. Juni und 23. Juni 2003), sie könne dies unmöglich auf einmal zurückzahlen; ein daraufhin eingeleitetes Stundungsverfahren wurde abgebrochen.

Am 21. Juni 2004 beantragte die Klägerin durch ihren jetzigen Verfahrensbevollmächtigten Überprüfung der Rücknahme- und Erstattungsbescheide. Sie habe im Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit der Bewilligungsbescheide das Geld für den Lebensunterhalt verbraucht. Durch Bescheid vom 2. Juli 2004 lehnte das ArbA den Antrag ab. Der Auszahlungsbetrag des Alg sei fast genau so hoch gewesen wie das Nettoentgelt aus dem anwartschaftsbegründenden Arbeitsverhältnis. Dieser offensichtliche Fehler hätte erkannt werden müssen. Letzteres bestritt die Klägerin mit ihrem Widerspruch. Es erging der zurückweisende Widerspruchsbescheid vom 6. August 2004. Es hätten sich keine neuen Erkenntnisse ergeben, die gegen die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen sprächen.

Mit der Klage zum Sozialgericht Freiburg hat die Klägerin geltend gemacht, die Berechnungsvorschriften für Alg und Uhg seien derart komplex, dass grobe Fahrlässigkeit bezüglich des Erkennenmüssens der Überzahlung nicht vorgehalten werden dürfe. Dem ArbA seien mehrere Fehler unterlaufen. Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Durch Gerichtsbescheid vom 12. Januar 2005 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen dargelegt, Alg und Uhg seien zu keinem Zeitpunkt niedriger gewesen als das Nettoarbeitsentgelt. Es sei bekannt, dass die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erheblich niedriger seien als das der Bemessung zugrunde liegende Arbeitsentgelt. Der Fehler sei hier in die Augen gesprungen. Dies bedinge grobe Fahrlässigkeit.

Gegen den am 14. Januar 2005 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 14. Februar 2005 beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Sie verbleibt dabei, zwar sei richtig, dass DM in Euro eins zu eins umgesetzt worden sei. Die Beklagte müsse aber für ihren Fehler haften. Ihr - der Klägerin - könne man allenfalls leichte Fahrlässigkeit vorwerfen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgericht Freiburg vom 12. Januar 2005 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 2. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. August 2004 zu verpflichten, die Bescheide vom 30. Mai 2003 zurückzunehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erachtet die angefochtenen Entscheidungen als zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur Darstellung des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Berufungsakten, der Klageakten und der Leistungsakten des ArbA Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg. Das Sozialgericht hat zutreffend entschieden, dass die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden des ArbA die Zurücknahme der bestandskräftigen Rücknahme- und Erstattungsbescheide vom 30. Mai 2003 im Wege des Zugunstenverfahrens (vgl. § 44 Abs. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch - SGB X -) ablehnen durfte.

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Zu diesem Tatbestand zählt auch das Begehren nach Zurücknahme von sich als rechtswidrig erweisenden Rücknahme- und Erstattungsbescheiden (vgl. Bundessozialgericht - BSG - SozR 3-1300 § 44 Nr. 21; SozR 3-4100 § 101 Nr. 10).

Verfahrensrechtliche Grundlage für die Teilrücknahme eines Verwaltungsaktes (hier der für die Zeit vom 21. März bis 8. Dezember 2002 ergangenen Bewilligungsbescheide) ist § 45 SGB X. Soweit ein begünstigender Verwaltungsakt rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 der Vorschrift ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden (vgl. Abs. 1 Satz 1). Auf Vertrauensschutz und Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme (vgl. Abs. 2 Satz 1 und 2) kann sich gemäß Abs. 2 Satz 3 der Begünstigte nicht berufen, soweit (Nr. 3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Eine Ermessensausübung ist unter diesen Voraussetzungen im Bereich des Arbeitsförderungsrechts entbehrlich (vgl. § 330 Abs. 2 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch - SGB III -).

Grobe Fahrlässigkeit im Sinne der zitierten Vorschrift ist dahingehend zu verstehen, dass die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (vgl. BSGE 42, 184, 187 = SozR 4100 § 152 Nr. 3; BSGE 62, 32, 35 = SozR 4100 § 71 Nr. 2). Dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff, BSGE 35, 108, 112; BSGE 44, 264, 273 = SozR 5870 § 13 Nr. 2; SozR 3-1300 § 45 Nr. 45). Das Außerachtlassen von Hinweisen in einem Merkblatt ist im allgemeinen grob fahrlässig, es sei denn, dass der Betroffene nach seiner Persönlichkeitsstruktur und seinem Bildungsstand die Erläuterungen nicht verstanden hat (BSGE 44, 264, 273).

Die hier streitigen Leistungen von Alg und Uhg hätten, wie das ArbA zutreffend ermittelt hat, nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von EUR 205 berechnet worden müssen (vgl. berichtigte Arbeitsbescheinigung vom 4. Juli 2002: Gesamtbrutto der letzten 52 Wochen - vgl. § 130 Abs. 1 SGB III damaliger Fassung - EUR 8.639,13; geteilt durch 52 minus 9 = 43 Wochen mit Entgelt ergibt gerundet EUR 205, vgl. § 132 Abs. 1, 2 und 3 SGB III). Die Leistungen sind stattdessen nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von EUR 370 berechnet worden, weil das ArbA die in der ersten Arbeitsbescheinigung vom 12. April 2002 für 2001 genannten DM-Beträge versehentlich in Euro übernommen hat und dort eine arbeitgeberseits errechnete Gesamtsumme nicht genannt war. Dies sind auf den Monat umgerechnet etwa EUR 1.600. Bei diesem Betrag hätte die Klägerin im Bemessungszeitraum (15. März 2001 bis 15. März 2002) zunächst (2001) ein Bruttomonatsentgelt von über DM 3.000 erzielen müssen. In dieser Höhe hat sich das tatsächliche Entgelt nie bewegt; nur einmal (Oktober 2001) sind DM 2.000 überschritten gewesen. Ebenso hat der monatliche Zahlbetrag der Leistungen (über EUR 600, also etwa DM 1.200) das im Arbeitsverhältnis erzielte durchschnittliche Nettoentgelt (vgl. hierzu klägerischen Schriftsatz vom 27. Dezember 2004) merklich überstiegen. Dass sich die Leistungen am zuletzt bezogenen Bruttoentgelt orientieren und deutlich niedriger sind als das Nettoentgelt, war der Klägerin, die bereits von 1987 bis 1996 mehrmals vorübergehend Alg bezogen hatte, geläufig. Hinweise hierauf sind seit jeher verständlich in allen Fassungen der Merkblätter enthalten, deren Empfang und pflichtgemäße Lektüre die Klägerin bei ihren Anträgen bestätigt hat.

Einschränkungen der Urteils- und Kritikfähigkeit der Klägerin sind nicht ersichtlich. Diese hatte zwar zuletzt überwiegend Hilfstätigkeiten ausgeübt, ist jedoch gelernte Apothekenhelferin und ist im streitigen Zeitraum in eine kaufmännische Fortbildung eingetreten. Unter diesen Umständen vermag sie nicht damit durchzudringen, der überschlägigen Prüfung der wesentlichen Faktoren der Leistungen durch Lesen der Bescheide enthoben gewesen zu sein. Dass die Überzahlung durch einen Flüchtigkeitsfehler des ArbA verursacht worden ist, hindert, da nach § 330 Abs. 2 SGB III Ermessenserwägungen auch bei Verschulden der Behörde nicht geboten sind, nicht den Vorhalt grober Fahrlässigkeit.

Der gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu erstattende Betrag von insgesamt EUR 1.927,79 ist zutreffend errechnet. Das gerundete wöchentliche Bemessungsentgelt von EUR 205 hätte nach der SGB III-Leistungsentgeltverordnung 2002 vom 20. Dezember 2001, BGBl. I S. 4036 zu einem wöchentlichen Leistungssatz von EUR 97,44, täglich EUR 13,92 geführt. Die Differenz zu den täglich tatsächlich gezahlten EUR 21,25, also EUR 7,33 vervielfacht mit den 263 Leistungstagen vom 21. März bis 8. Dezember 2002 ergibt den zutreffend errechneten Erstattungsbetrag von insgesamt EUR 1.927,79. Auf Verbrauch der Leistung oder Fähigkeit zur Erstattung kommt es vorliegend nicht an; über letzterer Modalitäten ist hier nicht zu entscheiden (ständige Rechtsprechung und Praxis).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Rechtskraft
Aus
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