L 6 U 1300/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 8 U 2818/01
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 U 1300/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 28. November 2003 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Rücknahme des Rentenbescheides vom 27.01.1995 und die Neufestsetzung des Jahresarbeitsverdienstes (JAV).

Die 1935 geborene Klägerin ist die Witwe des N. M. (M.). Die Klägerin und M. lebten in Rumänien, wo M. ausweislich seines Arbeitsbuchs seit 05.03.1969 bei der Genossenschaft "Drum Nou" als Maurer beschäftigt war. Am 22.08.1974 erhielt er während der Arbeit einen Stromschlag, an dessen Folgen er verstarb. Nach ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik am 02.08.1993 beantragte die Klägerin bei der Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung die Gewährung einer Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Unter dem 23.03.1994 gab die Klägerin u. a. an, M. sei nach dem Besuch der Grundschule von 1950 bis 1952 Lehrling bei einem Bauunternehmen gewesen. Anschließend habe er - unterbrochen durch den Militärdienst von Dezember 1957 bis November 1958 - bis März 1969 als Arbeiter gearbeitet, bevor er in der Handwerksgenossenschaft als Maurer eingestellt worden sei. Zugleich gab die Klägerin an, dass sie bei der - damaligen - Landesversicherungsanstalt Württemberg (LVA) Anträge auf Witwenrente und Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gestellt habe. Auf Nachfrage der Bundesausführungsbehörde gab die Klägerin unter dem 05.05.1994 weiter an, dass M. Bauarbeiten zu erledigen gehabt habe, die ihm zugeteilt worden seien. Er habe eine Mannschaft von vier bis fünf Arbeitern gehabt, die er direkt koordiniert habe. Er sei für die fachgerechte Durchführung der ihm zugeteilten Aufträge und auch für die Einhaltung der Termine zuständig gewesen. M. sei Maurer-Facharbeiter gewesen, hier (in Deutschland) hätte man ihn wohl als Polier bezeichnet.

Nachdem die Bundesausführungsbehörde die Angelegenheit zuständigkeitshalber an die Beklagte abgegeben hatte, bat diese die Klägerin um Übersendung eines Nachweises über die erfolgte Ausbildung von M. Die Klägerin teilte daraufhin unter dem 15.11.1994 mit, dass sie hierüber keine Urkunden habe. M. habe bei einem Bauunternehmen als Maurer gelernt und die Ausbildung auch abgeschlossen. Ohne Abschluss der Maurerausbildung hätte er nicht Mitglied der Handwerkergenossenschaft werden können. Für die Aufnahme dort sei der erfolgreiche Abschluss im Ausbildungsberuf eines Handwerks nachzuweisen gewesen. Die LVA teilte unter dem 18.05.1994 der Beklagten mit, dass sie der Klägerin aus der Versicherung des M. aufgrund eines Leistungsfalls vom 22.08.1974 ab 02.08.1993 eine große Witwenrente bewilligt habe (monatlicher Zahlbetrag ab 01.07.1994 788,62 DM).

Mit Bescheid vom 27.01.1995 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab 02.08.1993 Witwenrente in Höhe von 2/5 des JAV. Der JAV wurde mit 14.810,43 DM festgesetzt. Zu seiner Berechnung wurde darauf hingewiesen, dass der JAV den Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen des M. im Jahre vor dem Arbeitsunfall umfasse. Da der JAV in einer fremden Währung ausgedrückt oder nicht nachgewiesen sei, gelte als JAV der Betrag, der für einen vergleichbaren Beschäftigten im Zeitpunkt des Unfalls an dem für das anzuwendende Recht maßgeblichen Ort festzusetzen gewesen wäre (§ 8 FRG ( Fremdrentengesetz)). Zur Ermittlung des JAV hatte die Beklagte - was aus dem Rentenbescheid nicht zu ersehen war - den Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe vom 01.04.1971 herangezogen und M. in die Berufsgruppe IV - Baufachwerker (bisher Helfer) - eingestuft. Ausgehend von dieser Einstufung hatte sie entsprechend den Lohntarifen für das Baugewerbe vom 03.04.1973 (für die Zeit ab 01.05.1973) bzw. vom 09.04.1974 (für die Zeit ab 01.05.1974) einen Stundenlohn von 6,98 DM bzw. 7,76 DM zugrunde gelegt. Die Berufsgruppeneinteilung nach dem Bundesrahmentarifvertrag umfasste insgesamt fünf Berufsgruppen, wobei zur Gruppe I u. a. Hilfspoliere, zur Gruppe II Fachvorarbeiter und zur Gruppe V Bauwerker (bisher Hilfsarbeiter) gehörten.

Nach der Rentengewährung durch die Beklagte berechnete die LVA die der Klägerin bezahlte Witwenrente neu. Unter Berücksichtigung der Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung ergab sich ab 01.04.1995 ein monatlicher Zahlbetrag von 47,75 DM (Bescheid vom 13.02.1995).

Im Rahmen einer Überprüfung von Fremdrentenfällen erfuhr die Beklagte anlässlich eines Telefongesprächs im November 1999 mit einem Mitarbeiter der LVA, dass der Berechnung der Witwenrente der Klägerin aus der gesetzlichen Rentenversicherung die Einstufung von M. in die Qualifikationsgruppe V zugrunde lag. Die Beklagte zog daraufhin die Akten der LVA bei und hörte die Klägerin im Rahmen eines persönlichen Gespräches am 13.04.2000 an. Die Klägerin gab dabei an, sie habe den Rentenbescheid vom 27.01.1995 mit ihrer Rentenberaterin durchgesprochen. Irgendwelche Unstimmigkeiten seien ihr nicht aufgefallen. Ob ein Vergleich der Berechnungsdaten mit dem Bescheid der gesetzlichen Rentenversicherung vorgenommen worden sei, könne sie jedoch nicht mehr sagen. Da sie mit den Rechtsgebieten der gesetzlichen Unfallversicherung und Rentenversicherung nicht vertraut sei, habe sie sich auf ihre Rentenberaterin verlassen.

Nach erfolgter schriftlicher Anhörung (Schreiben vom 02.08.2000) nahm die Beklagte mit Bescheid vom 22.08.2000 den Bescheid vom 27.01.1995 zurück. Dieser sei rechtswidrig gewesen, da der JAV niedriger festzusetzen gewesen wäre. Die Klägerin sei erst am 02.08.1993 in die Bundesrepublik zugezogen und habe frühestens ab diesem Zeitpunkt Anspruch auf Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung i.V.m. dem FRG gehabt. Der JAV sei deshalb nicht nach § 8 FRG alter Fassung, sondern nach § 8 FRG neuer Fassung nach Durchschnittsentgelten zu berechnen gewesen. Grundlage hierfür sei eine Einstufung von M. in die Qualifikationsgruppe 5 der Anlage 13 zum Sozialgesetzbuch (SGB) VI, wobei die Tätigkeit der Bauwirtschaft nach Tabelle 11 der Anlage 14 zum SGB VI zuzuordnen sei. Hieraus ergebe sich unter Berücksichtigung der Berechnungsvorschriften ein JAV von 12.304,69 DM für das Jahr vor dem Arbeitsunfall. Aus den Unterlagen der LVA sowie den Akten der Beklagten gehe hervor, dass der Rentenberaterin der Klägerin die Berechnungsgrundlagen des JAV nach dem Fremdrentenrecht bekannt gewesen seien. Insofern habe sie die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes gekannt bzw. zumindest grob fahrlässig nicht gekannt. Dies müsse sich die Klägerin zurechnen lassen. Der Verwaltungsakt vom Januar 1995 werde deshalb gem. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X zurückgenommen, da die Klägerin keinen Vertrauensschutz genieße und es mit der Verpflichtung zur sparsamen Verwendung von Haushaltsmitteln nicht zu vereinbaren sei, zu Unrecht Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu erbringen. Die Witwenrente werde nach einem JAV von 12.304,69 DM berechnet. Über eine mögliche Rückforderung werde gesondert entschieden.

Dagegen erhob die Klägerin über ihre Rentenberaterin Widerspruch und machte geltend, bei der Überprüfung des Bescheides vom 27.01.1995 sei davon ausgegangen worden, dass die Tätigkeit von M. in die Qualifikationsgruppe 4 des Bereiches "Produktionsgenossenschaften des Handwerks" einzuordnen gewesen sei. Hieraus habe sie - unter Zugrundelegung voller Kalendermonate - ein Durchschnittsentgelt für das Jahr vor dem Arbeitsunfall von 20.792,50 DM errechnet. Multipliziert mit dem Faktor 0,7 habe sich hieraus ein JAV von 14.554,75 DM ergeben, der somit nur geringfügig unter dem von der Beklagten festgesetzten JAV von 14.810,43 DM gelegen habe. Von der Qualifikationsgruppe 4 sei sie selbstverständlich ausgegangen. Dass die LVA rechtswidrig nur die Qualifikationsgruppe 5 zugrunde gelegt habe, habe sich deswegen nicht ausgewirkt, weil nach der Anlage 3 des Rentenbescheides vom 29.12.1994 eine Mindestentgeltpunkte-Erhöhung um 4,1962 Entgeltpunkte vorgenommen worden sei. Ein Streit mit der LVA um die Qualifikationsgruppen-Zuordnung hätte sich deshalb niemals gelohnt und auch nicht zu einem anderen Rentenergebnis geführt, lediglich zu einer Verschiebung zwischen originären und mindestbewerteten Entgeltpunkten. Dem Bescheid vom 27.01.1995 habe somit die Fehlerhaftigkeit "nicht auf die Stirn geschrieben" gestanden, sodass seine Rechtswidrigkeit nicht habe erkannt werden können, zumal er vom Ergebnis her stimmig gewesen sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19.10.2001 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Bevollmächtigten der Klägerin sei bekannt gewesen, dass die Einordnung der Tätigkeit von M. nur in die Qualifikationsgruppe 5 und nicht in die Qualifikationsgruppe 4 zulässig gewesen sei. Der entsprechende Bescheid der LVA sei nach Rücknahme des dort zunächst eingelegten Widerspruchs bindend geworden. Im Übrigen entspreche die Zuordnung zur Qualifikationsgruppe 5 auch der bekannten Stellung von M. im Arbeitsleben. Die Tabelle 11 der Anlage 14 zum SGB VI beziehe sich auf den Bereich der Bauwirtschaft, diese sei auf den vorliegenden Sachverhalt anzuwenden, nicht die Tabelle 23.

Dagegen erhob die Klägerin am 08.11.2001 Klage vor dem Sozialgericht Ulm (SG). Die Zuordnung von M. in die Qualifikationsgruppe IV habe den tatsächlichen Gegebenheiten entsprochen. Sie legte schriftliche Zeugenerklärungen von M. und J. M. (Brüder von M.) vom 17.12. bzw. 12.12.2001 vor, wonach der Kläger nach ihrem Wissen eine Maurerausbildung abgeschlossen habe.

Mit Urteil vom 28.11.2003 hob das SG den angefochtenen Bescheid auf. Zwar sei der Bescheid vom 27.01.1995 insoweit falsch gewesen, als der JAV richtigerweise nach § 8 FRG neuer Fassung hätte berechnet werden müssen und der richtige JAV mit 12.304,69 DM festzustellen gewesen wäre, da es im Arbeitsbuch von M. keinen Hinweis darauf gebe, dass er als Facharbeiter tätig gewesen sei. Vielmehr sei dort von einem unqualifizierten Arbeiter bzw. einem Arbeiter die Rede. Der Bescheid vom 27.01.1995 könne dennoch nicht nach § 45 SGB X zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X könne ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung nur bis zum Ablauf von 2 Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Diese 2-Jahresfrist habe die Beklagte nicht eingehalten. Die Voraussetzungen, unter denen nach § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X ein rechtswidriger Verwaltungsakt bis zum Ablauf von 10 Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden könne, lägen nicht vor, da weder bei der Klägerin selbst noch bei der für sie handelnden Rentenberaterin davon auszugehen sei, dass sie die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes erkannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hätten. Voraussetzung hierfür sei, dass die Rechtswidrigkeit des JAV aufgrund einfachster und ganz nahe liegender Überlegungen hätte erkannt werden können bzw. dass dasjenige unbeachtet geblieben sei, was in gegebenem Fall jedem hätte einleuchten müssen. Aus dem Bescheid vom Januar 1995 sei nicht zu ersehen gewesen, ob der Berechnung des JAV Qualifikationsgruppen oder ein vergleichbarer tatsächlicher Tariflohn zugrunde gelegen habe. Es sei lediglich auf § 8 FRG hingewiesen worden; dass ein Tariflohn aus dem Baugewerbe zugrunde gelegt worden sei, gehe aus dem Bescheid nicht hervor. Der Einwand der Klägerin, ihre Beraterin sei von der Richtigkeit der Berechnung ausgegangen, weil sie angenommen habe, die Beklagte habe nicht die Qualifikationsgruppe 5, sondern die Qualifikationsgruppe 4 zugrunde gelegt, sei nachvollziehbar. Weder der Klägerin noch ihrer Beraterin könne im Sinne der groben Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, dass sie die unterschiedlichen Beträge aus dem Rentenbescheid der LVA und dem Bescheid der Beklagten nicht verglichen hätten, da die Klägerin von Anfang an davon ausgegangen sei, dass die Tätigkeit von M. als Facharbeiter anzusehen und in die Qualifikationsgruppe 4 einzustufen sei.

Gegen das ihr am 04.03.2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 31.03.2004 Berufung eingelegt. Sie ist nach wie vor der Auffassung, dass die Klägerin bzw. ihre Rentenberaterin gewusst bzw. lediglich grob fahrlässig nicht gewusst habe, dass der Bescheid vom 27.01.1995 rechtswidrig gewesen sei. Die Klägerin habe ihren Widerspruch gegen den Rentenbescheid der LVA unmittelbar im Anschluss an die Zustellung des Bescheides vom 27.01.1995 zurückgenommen. Da ein gleich hoher Ansatz der Arbeitsentgelte im Bescheid der LVA und im Bescheid der Beklagten nicht erfolgt sei, hätten einfache Überlegungen den Verdacht auf eine fehlerhafte Festsetzung des JAV erzeugen können. Solche einfachsten Überlegungen seien jedoch nicht angestellt worden. Deshalb liege grobe Fahrlässigkeit vor.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 28.11.2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akten des SG und des Senats sowie die Verwaltungsakten des Beklagten sowie die vom Senat beigezogenen Akten der LVA Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung ist jedoch unbegründet.

Die Beklagte hat den Bescheid vom 27.01.1995 zu Unrecht gem. § 45 SGB X zurückgenommen. Das SG hat der Klage zu Recht stattgegeben und die angefochtenen Bescheide aufgehoben.

Gem. § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden, soweit er rechtswidrig ist. Nach Abs. 2 Satz 1 darf er nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte u. a. dann nicht berufen, wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung kann grundsätzlich nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe erfolgen (§ 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X). Etwas anders gilt nur dann, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung (ZPO) vorliegen oder die Voraussetzungen des Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 SGB X gegeben sind oder der Verwaltungsakt mit einem zulässigen Vorbehalt des Widerrufs erlassen worden ist (§ 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X). In den zuletzt genannten Fällen kann der Verwaltungsakt bis zum Ablauf von 10 Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden.

Die Grundvoraussetzung für die Rücknahme des Bescheides vom 27.01.1995, nämlich dass dieser rechtswidrig gewesen ist, liegt vor. Die Beklagte hat den JAV unter Zugrundelegung von § 8 FRG in der bis 31.07.1991 gültig gewesenen Fassung berechnet. Danach war bei Arbeitsunfällen, die nach dem FRG zu entschädigen waren, der JAV nach dem Betrag zu berechnen, der für einen vergleichbaren Beschäftigten im Zeitpunkt des Unfalls an dem für das anzuwendende Recht maßgeblichen Ort festzusetzen gewesen wäre. Entsprechend dieser Vorschrift hat die Beklagte die Tätigkeit des M. in eine Beschäftigtengruppe des Bundesrahmentarifvertrages eingeordnet und entsprechend der Lohntafel das Arbeitsentgelt errechnet, das M. bei einer Tätigkeit in der Bundesrepublik erzielt hätte. Die Beklagte ist dabei - für die Klägerin allerdings nicht erkennbar - von einer Helfertätigkeit ausgegangen, also nicht von einer qualifizierten Tätigkeit aufgrund einer abgeschlossenen Maurerausbildung. § 8 FRG in der bis 31.07.1991 geltenden Fassung durfte nach Artikel 6 § 2 Abs. 1 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) in der Fassung vom 25.07.1991 nur auf solche Fälle angewandt werden, in denen Berechtigte entweder vor dem 01.01.1991 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen hatten oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt nach dem 31.12.1990 im Gebiet der Bundesrepublik ohne das Beitrittsgebiet genommen und vor dem 01.08.1991 bereits einen Anspruch auf Zahlung einer Rente nach dem FRG erworben hatten. Die Klägerin ist jedoch erst im August 1993 in die Bundesrepublik gekommen, sodass die Beklagte den JAV nach § 8 FRG in der ab 01.08.1991 geltenden Fassung hätte berechnen müssen. Nach dieser Vorschrift war zur Berechnung des JAV der Berechtigte (in diesem Fall M.) in eine der in der Anlage 13 zum SGB VI genannten Qualifikationsgruppen einzustufen, die Tätigkeit einem der in der Anlage 14 zum SGB VI genannten Bereiche zuzuordnen und danach der sich aus den Tabellen in der Anlage 14 zum SGB VI ergebende Durchschnittsverdienst zu ermitteln, der um 1/5 zu erhöhen ist. Der so ermittelte Betrag ist mit dem Faktor 0,7 zu vervielfältigen.

In der Anlage 13 zu SGB VI werden fünf Qualifikationsgruppen unterschieden, wobei die Qualifikationsgruppe 5 angelernte und ungelernte Tätigkeiten umfasst, die Qualifikationsgruppe 4 dagegen Facharbeiter betrifft und Personen, die über die Berufsausbildung oder im Rahmen der Erwachsenenqualifizierung nach abgeschlossener Ausbildung in einem Ausbildungsberuf die Facharbeiterprüfung bestanden haben und im Besitz eines Facharbeiterzeugnisses sind oder denen aufgrund langjähriger Berufserfahrung entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen im Beitrittsgebiet die Facharbeiterqualifikation zuerkannt worden ist. Unabhängig davon, ob man M. in die Qualifikationsgruppe 5 oder in die Qualifikationsgruppe 4 einordnet, ist der im Bescheid vom 27.01.1995 festgestellte JAV zu hoch gewesen. Selbst bei Zuordnung zur Qualifikationsgruppe 4 und unter Zuordnung zum Bereich Produktionsgenossenschaften des Handwerks (wie es die LVA im Bescheid vom 29.12.1994 getan hat) ergibt sich nicht der von der Beklagten festgesetzte JAV, sondern ein geringerer. Legt man die Qualifikationsgruppe 4 und den Bereich der Bauwirtschaft zugrunde, ergibt sich für das Jahr 1973 ein Durchschnittsverdienst von 16.448,00 und für das Jahr 1974 ein Durchschnittsverdienst von 17.955,00 DM. Hieraus errechnet sich (vgl. hierzu die Berechnung der Beklagten auf Bl. 177/178 der Verwaltungsakte) ein JAV von 14.626,22 DM. Legt man stattdessen die Qualifikationsgruppe 5 zugrunde, ergibt sich der von der Beklagten errechnete JAV von 12.304,69 DM.

Dennoch durfte die Beklagte, wie das SG zu Recht entschieden hat, den Bescheid vom Januar 1995 mit dem Bescheid vom 22.08.2000 nicht mehr zurücknehmen, da zum Zeitpunkt des Rücknahmebescheides mehr als zwei Jahre seit Bekanntgabe des Bescheides vom 27.01.1995 verstrichen waren. Die Voraussetzungen, unter denen eine Rücknahme auch nach Ablauf von zwei Jahren noch möglich ist, liegen hier nicht vor. Weder liegen Wiederaufnahmegründe nach § 580 der ZPO vor, noch ist der Bescheid vom 27.01.1995 mit einem zulässigen Widerrufsvorbehalt erlassen worden, noch beruht der Verwaltungsakt auf Angaben, die die Klägerin vorsätzlich oder grob fährlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

Auch hat die Klägerin, wie das SG zu Recht entschieden hat, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes nicht gekannt oder auch nur infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt. Dabei kann dahinstehen, ob Kenntnis oder Kennenmüssen eines Vertreters ebenfalls schadet (so Wiesner in von Wulffen, SGB X, RndNr. 23 zu § 45; Vogelgesang in Hauck/Noftz, SGB X, RndNr. 44 zu § 45) oder ob dies nicht ausreicht (so Rüfner in Wannagat, SGB X, RndNr. 50 zu § 45). Denn nach der Legaldefinition des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 2. Halbsatz SGB X liegt grobe Fahrlässigkeit vor, wenn der Begünstigte (oder evtl. dessen Vertreter) die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Grobe Fahrlässigkeit setzt damit eine Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmaßes voraus. Der Betroffene muss schon einfachste, nahe liegende Überlegungen nicht angestellt und deshalb nicht beachtet haben, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (vgl. BSG SozR 1300 § 48 Nr. 22). Dabei muss sich die Rechtswidrigkeit grundsätzlich ohne die Notwendigkeit weiterer Nachforschungen unmittelbar aus dem Verwaltungsakt selbst ergeben (so Vogelgesang aaO).

Aus dem Bescheid vom 27.01.1995 konnte die Rechtswidrigkeit nicht ohne weitere Nachforschungen entnommen werden, da dort lediglich - ohne nähere, nachvollziehbare Hinweise - ein JAV von 14.810,43 DM festgestellt worden ist. Dem Bescheid war insbesondere nicht zu entnehmen, ob und gegebenenfalls welche Qualifikationsgruppen die Beklagte der Berechnung des JAV zugrunde gelegt hat. Nach den Einlassungen der Rentenberaterin der Klägerin, die sie auch im anhängigen Berufungsverfahren vertritt, in der Widerspruchsbegründung war dieser allerdings bewusst, dass der JAV auf der Grundlage von Qualifikationsgruppen zu berechnen war. Dementsprechend hat sie nach Erlass des Bescheides vom 27.01.1995 eine überschlägige Prüfung des JAV vorgenommen, dies unter Zugrundelegung der Qualifikationsgruppe 4 und der Zuordnung zum Bereich 23 (Produktionsgenossenschaften des Handwerks). Die Zuordnung zum Bereich 23 war durchaus nahe liegend, da auch die LVA bei der Berechnung der Witwenrente die Tätigkeit diesem Bereich, nicht dem Bereich 11 (Bauwirtschaft) zugeordnet hatte. Auch dass die Rentenberaterin die Qualifikationsgruppe 4 zugrunde gelegt hat, war durchaus folgerichtig, nachdem sie gegenüber der Beklagten - und im Übrigen auch gegenüber der LVA - von Anfang an davon ausgegangen ist, dass M. eine abgeschlossene Lehre als Maurer hatte und deshalb als Facharbeiter und damit in die Qualifikationsgruppe 4 einzustufen war. Jedenfalls lässt sich allein daraus, dass im Arbeitsbuch des M. unter "erlernter Beruf" "unqualifizierter Arbeiter" angegeben ist, nicht schließen, dass M. keine Berufsausbildung absolviert hat, zumal für die Zeit ab 05.03.1969 - eine Beschäftigung als Maurer bestätigt wird. Der Beklagten kann auch nicht darin gefolgt werden, dass eine grob fahrlässige Unkenntnis zumindest deshalb anzunehmen ist, weil die LVA M. in die Qualifikationsgruppe 5 eingestuft und die Klägerin diese Einstufung letztendlich akzeptiert hat. Letzteres beruht, wie die Rentenberaterin ebenfalls nachvollziehbar dargelegt hat, darauf, dass die LVA eine Mindestrentenberechung vorgenommen und die Entgeltpunkte erhöht hat, sodass im Ergebnis auch bei Zugrundelegung der Qualifikationsgruppe 4 für die Zeit der Tätigkeit als Maurer keine höhere Witwenrente gezahlt worden wäre. Unter diesem Gesichtspunkt war es durchaus sinnvoll, den Widerspruch gegen die entsprechenden Entscheidungen der LVA zurückzunehmen. Hieraus kann jedoch keinesfalls geschlossen werden, dass M. von vornherein und unter allen Umständen nur in die Qualifikationsgruppe 5 einzustufen war. Nachdem sich bei der von der Rentenberaterin vorgenommenen Prüfung des JAV lediglich eine geringfügige Differenz von nicht einmal 300,00 DM gegenüber der Festsetzung durch die Beklagte ergeben hat, kann auch nach Überzeugung des Senats nicht von einer Kenntnis der Rechtswidrigkeit bzw. einer grob fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit bei der Klägerin oder auf Seiten ihrer Rentenberaterin ausgegangen werden. Damit liegen die Voraussetzungen einer Rücknahme des Bescheides vom 27.01.1995 jedenfalls nach Ablauf von 2 Jahren seit seiner Bekanntgabe nicht vor, weshalb das SG die angefochtenen Bescheide zu Recht aufgehoben hat. Die Berufung der Beklagten konnte somit keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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