L 6 VG 2840/06 ER

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VG 2840/06 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag des Kläger auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Kläger begehrt, den Beklagten im Wege des Einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, ihm Vorschüsse auf Leistungen zu zahlen, die ihm nach seiner Meinung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) zustehen.

Mit rechtskräftigem Urteil vom 13.02.2001 - Ns 15 Js 20022/99/3AK66/2000 verurteilte das Landgericht E. (LG) den am 03.04.1957 geborenen Kläger unter Aufhebung des Urteils des Amtsgerichts H. vom 14.04.2000 wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in acht Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und 7 Monaten. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die Strafkammer war zu der Überzeugung gelangt, der als Dipl.-Sozialpädagoge ausgebildete, bei einem Jugendheim angestellte Kläger habe an zwei zur Tatzeit 15- bzw. 16-jährigen Mädchen, die ihm als Bewohnerinnen einer Außenwohngruppe des Jugendheims anvertraut gewesen seien, sexuelle Handlungen vorgenommen. Hierbei stützte sich die Kammer auf zahlreiche von ihr vernommene Zeugen.

Am 03.08.2001 beantragte der Kläger bei dem Versorgungsamt Ulm (VA) die Gewährung von Leistungen nach dem OEG. Zur Begründung gab er an, insbesondere aufgrund einer Falschaussage des Polizeiobermeisters (POM) P. habe ihn das LG zu Unrecht verurteilt. Die falsche Aussage von POM P. stelle einen vorsätzlichen tätlichen Angriff gegen seine Person und seine Würde dar, die darauf gezielt habe, durch eine Verurteilung seine berufliche Existenz zu vernichten. Infolge seiner Verurteilung leide er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie unter einer Depression "mit entsprechenden Folgen".

Mit Bescheid vom 14.01.2002 lehnte das VA die Gewährung von Leistungen nach dem OEG ab, weil der Kläger nicht Opfer eines tätlichen Angriffs geworden sei.

Hiergegen legte der Kläger mit der Begründung Widerspruch ein, er sei in seinen Grundrechten verletzt. Gegen die Entscheidung des LG habe er Verfassungsbeschwerde eingelegt und den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Bundesverfassungsgericht beantragt. Das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart habe seine Revision gegen das Urteil des LG verworfen.

Mit dem Widerspruchsbescheid vom 22.05.2002 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung führte er aus, Falschaussagen und üble Nachreden begründeten keinen Anspruch nach dem OEG. Von einem "Mobbing" könne ebenfalls nicht ausgegangen werden.

Hiergegen erhob der Kläger am 21.06.2002 Klage zum Sozialgericht Ulm (SG). Er trug ergänzend vor, er habe kein faires Verfahren erhalten. Das LG habe gegen zwingende prozessuale, grundrechtliche und menschenrechtliche Normen verstoßen. In den Zeugenaussagen, dem Gerichtsverfahren, dem Urteil und der Sachbehandlung durch die Staatsanwaltschaft sehe er einen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen seine Person. Nach dem Urteil des BSG vom 14.02.2001 - B 9 VG 4/00 R könnten selbst Ehrverletzungsdelikte wie die Beleidigung als tätliche Angriffe gewertet werden.

Mit Urteil vom 16.12.2002 wies das SG die Klage ab. In den Entscheidungsgründen legte das SG dar, als tätlicher Angriff könne nach der ständigen Rechtsprechung des BSG nur eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung angesehen werden. Zwar habe das BSG in seinem Urteil vom 14.02.2001 auch ausgeführt, der Begriff des tätlichen Angriffs im OEG sei ohne Bindung an den - umstrittenen - Gewaltbegriff des Strafrechts näher zu bestimmen. Das BSG habe aber daran festgehalten, dass nicht alle Vorgänge unter den Begriff des tätlichen Angriffs fielen, wenn das dadurch missachtete, herabgesetzte, sozial ausgegrenzte oder gar geächtete Opfer psychisch erkranke. Die Aussagen der Zeugen, die zu der rechtskräftigen Verurteilung des Klägers geführt hätten, seien kein tätlicher Angriff im Sinne des Gesetzes gewesen. Darüber hinaus sei ihr Verhalten nicht vorsätzlich darauf gerichtet gewesen, dem Kläger eine gesundheitliche Schädigung zuzufügen.

Hiergegen hat der Kläger am 13.02.2003 (Eingang beim SG) Berufung eingelegt. Im Hinblick auf den Vortrag des Klägers, eine Entscheidung des von ihm angerufenen Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stehe noch aus, hat der Senat mit Beschluss vom 19.03.2003 das Ruhen des Berufungsverfahrens angeordnet. Am 05.06.2006 hat der Kläger das Verfahren wieder angerufen und zugleich beantragt, den Beklagten durch Erlass einer Einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Vorschüsse auf die ihm zustehenden Leistungen nach dem OEG zu zahlen. Er habe direkt beim Bundesverfassungsgericht erneut Strafanzeige gegen PHM P. erstattet. Dieses habe ihm jedoch nahe gelegt, sich mit seinem Antrag direkt an das von ihm wohl als zuständig angesehene VA zu wenden. Gemäß "§ 271 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 43 SGB I" verlange er die ihm zustehende Leistung sofort gem. § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Als wesentlichen Nachteil mache er eine Verletzung von § 17 Abs. 1 Satz 1 des 1. Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB I) geltend, weil er schon seit 6 Jahren sein "Grundrecht aus § 34 GG" nicht habe durchsetzen können.

Der Beklagte ist dem Antrag des Klägers entgegen getreten.

II.

Der Antrag des Klägers ist unbegründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGG kann, soweit ein Fall des Abs. 1 nicht vorliegt - was hier nicht der Fall ist, weil weder die aufschiebende Wirkung noch die Aufhebung oder Anordnung eines Sofortvollzugs im Streit ist - das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Da § 86 b Abs. 2 SGG der Vorschrift des § 123 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) entspricht und die bisherige sozialgerichtliche Rechtsprechung bereits vor Inkrafttreten des § 86 b SGG in Vornahmesachen einstweiligen Rechtsschutz in analoger Anwendung von § 123 VwGO gewährt hat, kann auf die bisherige Rechtsprechung zurückgegriffen werden. Für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist damit Voraussetzung, dass ein dem Antragsteller zustehendes Recht oder rechtlich geschütztes Interesse vorliegt (sog. Anordnungsanspruch), das ohne Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes vereitelt oder wesentlich erschwert würde, so dass dem Antragsteller schwere, unzumutbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht in der Lage wäre (sog. Anordnungsgrund). Ein Anordnungsanspruch setzt grundsätzlich voraus, dass der materiell-rechtliche Anspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, mit ausreichender Wahrscheinlichkeit vorliegt (vgl. Binder, HK-SGG, Randnr. 32 zu § 86 b).

Hinsichtlich des geltend gemachten Anspruchs auf Versorgung nach dem OEG besteht bereits kein Anordnungsanspruch, da die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 OEG klar zu verneinen sind. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat in entsprechender Anwendung des § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des im Hauptsacheverfahren angefochtenen Urteils des SG vom 16.12.2002 Bezug. Ergänzend ist klarzustellen: Mit seinen zu Fällen des sexuellen Missbrauchs ergangenen Entscheidungen BSGE 77,7 und BSGE 77,11 hat das BSG zwar hinsichtlich der Auslegung des Tatbestandsmerkmals "tätlicher Angriff" die strenge Anknüpfung an das Strafrecht aufgegeben und den Standpunkt eingenommen, der Gesetzgeber habe es bewusst der sozialgerichtlichen, nicht der strafgerichtlichen Rechtsprechung überlassen, den Begriff des tätlichen Angriffs im OEG mit Inhalt zu erfüllen. Hierfür sei auch nicht Voraussetzung, dass der Täter dem Opfer gegenüber feindlich gesinnt sei. Entscheidend sei die Rechtsfeindlichkeit (BSGE 77,11). In seinem Urteil vom 14.02.2001 - B 9 VG 4/00 R, auf das sich der Kläger berufen hat, hat das BSG diese Abkehr vom strafrechtlichen Gewaltbegriff jedoch damit begründet, dass die durch neuere Forschungsergebnisse bestätigte Gefahr schwerer psychischer Schädigungen auch bei gewaltfreiem Missbrauch von Kindern einen staatlichen Opferschutz auch im Hinblick auf diese Folgen verlange, die gerade die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft träfen. Mit kindlichen Opfern sexuellen Missbrauchs kann sich der Kläger jedoch in keiner Weise vergleichen. Als rechtskräftig wegen sexuellen Missbrauchs verurteilter Straftäter befindet sich der Kläger vielmehr in einer geradezu antagonistischen Position zu solchen Opfern.

Der Antrag des Klägers war daher abzulehnen.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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