L 4 B 1878/05 R PKH

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 4 RJ 539/04 PKH
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 4 B 1878/05 R PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 22. September 2005 wird auf die Beschwerde des Klägers aufgehoben. Dem Kläger wird für das Klageverfahren vor dem Sozialgericht Potsdam Prozesskostenhilfe ohne Zahlungsbestimmungen bewilligt und Rechtsanwältin J. H., B., P., beigeordnet.

Gründe:

Der Kläger, der die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung begehrt, hat Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren. Seine Beschwerde gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe durch den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 22. September 2005 ist zulässig (§§ 172 Abs. 1, 173 SGG) und auch begründet.

Nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG gelten für die Gewährung von Prozesskostenhilfe im sozialgerichtlichen Verfahren die Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) entsprechend. Danach ist einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder in Raten aufbringen kann, auf seinen Antrag Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 114 ZPO).

Das angerufene Gericht beurteilt die Erfolgsaussicht im Sinne von § 114 ZPO regelmäßig ohne abschließende tatsächliche und rechtliche Würdigung des Streitstoffs; die Prüfung der Erfolgsaussicht soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Für die Annahme hinreichender Erfolgsaussicht reicht "die reale Chance zum Obsiegen", nicht hingegen eine "nur entfernte Erfolgschance". Prozesskostenhilfe darf also nur verweigert werden, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, aber fern liegend ist (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 7. April 2000, 1 BvR 81/00, NJW 2000, S. 1936).

Hieran gemessen hat der Kläger einen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren, denn seine Klage hat im Gegensatz zur Auffassung des Sozialgerichts nicht nur eine entfernte Erfolgschance. Die Erfolgsaussichten sind nach Lage der Akten zumindest offen; das Sozialgericht ist gehalten, weitere medizinische Ermittlungen anzustellen.

Der Kläger leidet unter anderem an einer chronifizierten schweren Depression, was durch den ausführlichen Arztbrief der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Klinikum E vom 23. Februar 2005 ausführlich belegt ist. Dort befand der Kläger sich vom 28. Juli 2004 bis zum 10. November 2004 in der tagesklinischen, vom 11. bis 30. November in der stationären und danach bis zum 23. Dezember 2004 wieder in der tagesklinischen Behandlung. Zuvor befand er sich vom 12. Februar 2004 bis zum 16. Juli 2004 zur stationären Behandlung in der S-K B. Einen Entlassungsbericht dieses Krankenhauses hat das Sozialgericht ebenso wenig angefordert wie aktuelle Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte, hier insbesondere des Neurologen und Psychiaters Dr. F in T und des Allgemeinmediziners Dr. Z in P. Sorgfältige Sachaufklärung gebietet es, dies nachzuholen. Außerdem liegt es nahe, Informationen über den Fortgang der Behandlung des Klägers im Jahre 2005 einzuholen.

Hinzu kommt, dass das "Psychiatrisch-Psychotherapeutische" Gutachten des Dr. S F vom 13. Juni 2005 – vor allem gemessen am eingehenden Arztbrief der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Klinikum E vom 23. Februar 2005 – alles andere als überzeugend wirkt. Im Hinblick auf die Anamnese übernimmt es weitestgehend Formulierungen aus dem Arztbrief vom 23. Februar 2005, obwohl sorgfältige und eigenständige Anamneseerhebung die ureigene Aufgabe des sozialmedizinischen Gutachters sind. Der Gutachter erklärt nicht einmal, welche Schlussfolgerungen er daraus zieht, dass der Kläger "nicht in der Lage war, ausführlich auf seine biographische Anamnese einzugehen" (Bl. 4 des Gutachtens). Die Befunderhebung scheint lediglich 55 Minuten gedauert zu haben, was für die Erstellung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens außerordentlich wenig ist. Die "Beurteilung" (Bl. 10 f. des Gutachtens) ist ebenfalls sehr knapp gehalten und bietet aus Sicht des Senats und in Kenntnis weitaus sorgfältigerer anderweitiger neurologisch-psychiatrischer Gutachten keine hinreichende Grundlage für die ab Bl. 11 des Gutachtens folgende Beantwortung der Beweisfragen. Angesichts des unzweifelhaft bestehenden gravierenden Leidens des Klägers wird nicht nachvollziehbar, warum der Sachverständige meint, mit einer Behebung der Leistungseinbußen sei "bei adäquater Behandlung" in etwa sechs Monaten zu rechnen. Diese Vermutung lässt außer Betracht, dass der Kläger sich im Verlauf fast des ganzen Jahres 2004 sowohl in stationärer als auch in tagesklinischer Behandlung in zwei Fachkliniken befand, ohne dass es offenbar zu einer messbaren Verbesserung in seinem Leiden kam. Sofern der Sachverständige meint, der Kläger sei lediglich nicht "adäquat" behandelt worden, hätte dies einer weitaus gründlicheren Begründung bedurft. Das Sozialgericht wird also zu erwägen haben, ob es den Kläger nach Durchführung der oben genannten weiteren Ermittlungen erneut psychiatrisch begutachten lässt, weil das vorliegende Gutachten des Dr. S F nur sehr geringen Beweiswert besitzt.

Der Senat sieht sich unabhängig davon zu folgenden Anmerkungen im Hinblick auf den Verfahrensablauf veranlasst: Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat zu Recht gerügt, dass das Sozialgericht verfrüht über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe entschieden habe. Mit Schriftsatz vom 17. August 2005 meldete sich die Prozessbevollmächtigte erstmals für den Kläger und beantragte die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sowie die Gewährung von Akteneinsicht. Faires Verfahren hätte es geboten, Akteneinsicht zu gewähren, bevor über den Prozesskostenhilfeantrag entschieden wird. Stattdessen hat das Sozialgericht am 22. September 2005 abschlägig und ohne nennenswerte Begründung über den Prozesskostenhilfeantrag entschieden und diesen Beschluss der Prozessbevollmächtigten zusammen mit den Verwaltungsakten der Beklagten übersandt, so dass Akteneinsicht erst nachträglich möglich war. Hinzu tritt ein Weiteres: Der Beschluss wurde der Prozessbevollmächtigten am 17. Oktober 2005 zugestellt. Schon am 7. November 2005 hat der erstinstanzliche Kammervorsitzende aber einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 5. Januar 2006 anberaumt, also noch vor Rechtskraft des die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschlusses. Auch dieses Verfahren erscheint inadäquat und übereilt, da es nicht nur das Beschwerdegericht unter unnötigen Zeitdruck im Umgang mit der Beschwerde setzt, sondern insbesondere das Recht des Klägers auf Durchführung des Beschwerdeverfahrens beeinträchtigt. In aller Regel ist der rechtskräftige Ausgang des Prozesskostenhilfeverfahrens abzuwarten, bevor ein Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt wird.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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