L 10 U 3511/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 2 U 2555/01
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 3511/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 6. Juli 2004 und der Bescheid der Beklagten vom 27. September 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. September 2001 aufgehoben, soweit darin die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um 10 v. H. ab 1. Oktober 2000 abgelehnt worden ist.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte seiner außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung von Verletztenrente wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls.

Der am 1956 geborene Kläger ist selbstständiger Pferdezüchter und bei der Beklagten versichert. Die Folgen eines früheren Arbeitsunfalls vom 9. Juli 1997 (Verletzung am rechten Auge mit der Folge reduzierter Sehstärke und Blendungsempfindlichkeit) bedingen fortlaufend eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 10 v. H.

Am 8. November 1998 stürzte der Kläger bei seiner versicherten Tätigkeit von einem Pferd. Dabei blieb sein vierter Finger rechts am Zügel hängen. Der Kläger zog sich eine Distorsion des vierten Fingers rechts im Mittelgelenk zu. Er ist Rechtshänder.

Dr. P. , niedergelassener Handchirurg in H. , stellte in seinem Gutachten für die Beklagte eine Arthrose des Mittelgelenkes des vierten Fingers rechts sowie - bei Vorschädigung - des Endgelenks des fünften Fingers rechts fest. Er schätzte die MdE auf 20 v. H. auf Dauer. Die Beklagte gewährte daraufhin mit Bescheid vom 1. Oktober 1999 eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v. H. ab 23. März 1999 als vorläufige Entschädigung.

Prof. Dr. S. , Direktor der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie des Klinikums H. , der den Kläger am 9. August 2000 gutachtlich untersuchte, schätzte die MdE auf unter 10 v. H. Nach Anhörung des Klägers entzog die Beklagte daraufhin die Verletztenrente mit Bescheid vom 27. September 2000, am selben Tag zur Post gegeben, mit Ablauf des Monats der Zustellung des Bescheids und lehnte zugleich die Gewährung einer Rente auf unbestimmte Zeit ab. Der hiergegen vom Kläger eingelegte Widerspruch wurde - nach Einholung von ärztlichen Stellungnahmen bei dem behandelnden Arzt Dr. K. , bei Dr. P. und bei Prof. Dr. S. - mit Widerspruchsbescheid vom 13. September 2001 zurückgewiesen.

Der Kläger hat am 12. Oktober 2001 Klage bei dem Sozialgericht Mannheim erhoben. Dieses hat ein Gutachten bei Prof. Dr. M. , Leiter der Sektion Hand- und Mikrochirurgie der Orthopädischen Universitätsklinik H. , eingeholt, welches zum gleichen Ergebnis wie das Gutachten von Prof. Dr. S. gekommen ist. Selbst ein Verlust des vierten Fingers in Höhe des Mittelgelenkes bedinge keine messbare MdE. Demgegenüber hat Dr. W. , niedergelassener Handchirurg in W. , in seinem auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholten Gutachten die MdE - "insbesondere bei Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffensein" des Klägers als Landwirt - auf 10 v. H. geschätzt. Die Unfallfolgen seien einem Verlust des Ringfingers vergleichbar. Ergänzend hat Dr. W. ausgeführt, die verbliebenen Schmerzen mit Bewegungseinschränkung seien derart stark, dass der vierte Finger nicht mehr zur Arbeit eingesetzt werden könne. Demgegenüber ist Prof. Dr. M. in einer ergänzenden Stellungnahme bei seiner gutachtlichen Einschätzung geblieben.

Mit Urteil vom 6. Juli 2004 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und sich dabei im Wesentlichen der Argumentation von Prof. Dr. M. angeschlossen.

Der Kläger hat gegen das ihm am 3. August 2004 zugestellte Urteil am 19. August 2004 Berufung eingelegt.

Der Kläger beantragt (sachdienlich gefasst),

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 6. Juli 2004 und den Bescheid der Beklagten vom 27. September 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. September 2001 aufzuheben, hilfsweise insoweit aufzuheben, als darin auch die Weitergewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um 10 v. H. abgelehnt worden ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat ein Gutachten bei Prof. Dr. G. , Ärztlicher Direktor der Klinik für Handchirurgie, Mikrochirurgie und rekonstruktive Brustchirurgie des M. S. , eingeholt. Die MdE hat Prof. Dr. G. auf weniger als 10 v. H. eingeschätzt. Der Befund sei in keinster Weise mit einem Verlust des vierten Fingers gleichzusetzen. Bei dieser Einschätzung ist er in einer ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme auch im Hinblick auf kritische Einwendungen des Klägers geblieben.

Der Kläger hat abschließend angeregt, ein neurologisches, schmerztherapeutisches oder neurochirurgisches Gutachten einzuholen.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des Sozialgerichts und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 SGG zulässige Berufung, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist teilweise begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um 10 v. H. ab 1. Oktober 2000. Zu diesem Zeitpunkt ist die Entziehung der zuvor gewährten Rente wirksam geworden, da der Bescheid vom 27. September 2000 am 30. September 2000 bekannt gegeben worden ist (vgl. § 37 Abs. 2 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch). Eine höhere Rente kann der Kläger hingegen nicht beanspruchen.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, haben nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit - wie hier - infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern.

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22. Juni 2004, B 2 U 14/03 R in SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.

Während der ersten drei Jahre nach dem Versicherungsfall soll der Unfallversicherungsträger nach § 62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII die Verletztenrente als vorläufige Entschädigung festsetzen, wenn der Umfang der MdE noch nicht abschließend festgestellt werden kann. Spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall wird die vorläufige Entschädigung nach § 62 Abs. 2 Satz 1 SGB VII als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet. Bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung kann der Vomhundertsatz der MdE nach § 62 Abs. 2 Satz 2 SGB VII abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben. Dies bedeutet, dass für die Feststellung der MdE im Zusammenhang mit der Frage der Gewährung einer Dauerrente die im Zeitpunkt der Feststellung bestehende MdE unabhängig von der Frage einer wesentlichen Besserung oder Verschlechterung des Gesundheitszustandes gegenüber der vorläufigen Rentenbewilligung und damit unabhängig von § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) maßgeblich ist.

Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung der ihm ursprünglich bewilligten vorläufigen Rente und begehrt die Gewährung einer Dauerrente, zumindest nach einer MdE um 10 v. H. Hierfür ist die Anfechtungsklage die zutreffende Klageart, denn mit Aufhebung des angefochtenen Entziehungsbescheides würde die vorläufig gewährte Rente nach Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall schon kraft Gesetzes zur Dauerrente (vgl. Ricke in Kasseler Kommentar, § 62 SGB VII, Rdnr. 10), mit einer teilweisen Aufhebung des angefochtenen Bescheides gilt dies entsprechend für den verbliebenen Teil der Rentengewährung.

Der Arbeitsunfall vom 9. November 1998 hat allein zu einer Verletzung des vierten Fingers rechts geführt. Der Senat kann sich nicht davon überzeugen, dass auch der fünfte Finger verletzt worden ist. Schon in dem Bericht des erstbehandelnden Dr. Bieber vom 10. November 1998 fehlen entsprechende Hinweise. Dr. K. , der den Kläger am 24. November 1998 untersuchte, konnte am fünften Finger keine frischen knöchernen Verletzung feststellen und bezeichnete die "spornförmige Ausziehung der streckseitigen Endgliedbasis" als "vorbestehend". Er wiederholte dies in einer Stellungnahme im Widerspruchsverfahren. Prof. Dr. S. ordnete demgemäß nach Durchsicht der Röntgenaufnahmen - für den Senat überzeugend - den Zustand am fünften Finger allein einem vom streitgegenständlichen Arbeitsunfall unabhängigen älteren Vorfall zu. Dies ist durch die gerichtlichen Gutachter Prof. Dr. M. und Prof. Dr. G. bestätigt worden. Der Ansicht von Dr. P. einer Mitbeteiligung des fünften Fingers vermag sich der Senat daher nicht anzuschließen. Dies muss auch gegen die Einschätzung der MdE durch Dr. P. , die insoweit die Einschränkungen am fünften Finger nicht abgrenzt, eingewandt werden. Auch dem Gutachten von Dr. W. ist entgegenzuhalten, dass er etwaige Beeinträchtigungen auf Grund des fünften Fingers rechts nicht von den Unfallfolgen abgegrenzt hat. Unabhängig hiervon gehen nach den vom Kläger vorgebrachten Beschwerden und den ärztlichen Feststellungen von den Veränderungen am fünften Finger - von einer leichten Bewegungseinschränkung im Endglied - keine erkennbaren wesentlichen Funktionseinschränkungen aus, so dass - wie dies Prof. Dr. S. ausdrücklich und für den Senat überzeugend ausgeführt hat - auch eine Mitberücksichtigung zu keiner MdE-Erhöhung führen würde.

Hinsichtlich der funktionellen Auswirkungen der Verletzung des vierten Fingers besteht im Wesentlichen Einigkeit zwischen den verschiedenen Gutachten im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren. Danach sind eine Bewegungseinschränkung des vierten Fingers in der Beugung und Streckung sowie eine Minderung der groben Kraft verblieben, auch wenn der Umfang der Kraftminderung nach den verschiedenen, von den Gutachtern vorgenommenen vigorimetrischen Messungen differieren. Der Faustschluss ist unvollständig; nach Prof. Dr. M. verbleibt ein Fingerkuppenhohlhandabstand von 2 cm. Die Funktionsgriffe (Spitz-, Schlüssel-, Grob-, Tragegriff) sind jedoch möglich. Die rechte Hand kann auch zum Arbeiten eingesetzt werden, wie Schwielen und Arbeitsspuren zeigen; die Handmuskulatur ist gut entwickelt. Soweit Dr. W. eine stärkere Beschwielung der linken Hand festgestellt hat, ist dies im Gutachten von Prof. Dr. G. nicht bestätigt worden. Dieser hat vielmehr die Beschwielung der rechten Hand im Seitenvergleich als normal bezeichnet. Nicht als zwingend sieht der Senat auch die Argumentation von Dr. W. an, dass die Umfangdifferenz des rechten Oberarms gegenüber dem linken größer sein müsste, wenn der handwerklich tätige Kläger den rechten Arm (Gebrauchsarm) voll einsetzen könnte. Keiner der übrigen Gutachter, allesamt im Bereich der Handchirurgie tätig, hat hierauf abgestellt.

Hierdurch wäre an sich keine messbare MdE bedingt, wie der Vergleich mit den Sätzen für den Verlust des vierten Fingers im Mittelglied zeigt (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003, S. 641: Gesamtvergütung für sechs Monate nach MdE um 20 v. H., danach 0 v. H.). Hinzu kommen jedoch hier Auswirkungen der Arthrose, die sich auf die Einsetzbarkeit der rechten Hand und des rechten Armes auswirken, und die in den Sätzen der MdE-Tabelle nicht ausreichend berücksichtigt sind. Daher wäre es hier auch nicht sachgerecht, die Tabellenwerte ohne Einschränkung anzuwenden. Dies ist von Prof. Dr. S. , Prof. Dr. M. und Prof. Dr. G. nicht ausreichend berücksichtigt worden.

Die weitergehenden Auswirkungen erschließen sich aus den Angaben des Klägers. Sämtliche Gutachter - Dr. P. und Prof. Dr. S. im Verwaltungsverfahren, Prof. Dr. M. im Verfahren vor dem Sozialgericht und Prof. Dr. G. im Verfahren vor dem Senat - geben den Kläger dahingehend wieder, dass er schmerzbedingt mit der rechten Hand nicht mehr richtig zupacken kann, ein unbeabsichtigtes Anschlagen und Stauchungen des Fingers außerordentlich schmerzhaft sind und er fortwährend Schmerzen im vierten Finger hat, die nach Belastungen zunehmen. Die Schmerzen ziehen sich dabei - zumindest zeitweise - von der Hand über den Arm bis in die Schulter. Bei Dr. W. hat der Kläger angegeben, dass Tätigkeiten wie Füttern, Ausmisten, Reiten, aber auch der Umgang mit einem Hammer und (sonstigen) Werkzeugen, stark beeinträchtigt sind. Wegen der Schmerzen muss der Kläger seine Arbeit teilweise unterbrechen. Dies entspricht seinen Angaben gegenüber dem Berichterstatter des Senats in zwei Erörterungsterminen. Die vom Kläger vorgebrachten Beschwerden sind glaubhaft. Weitere Erkenntnisse erwartet der Senat durch die Einholung zusätzlicher Gutachten nicht. Der diesbezügliche, inhaltlich auf zu erwartende Erkenntnisse nicht konkretisierte "Beweisantrag" des Klägers wird abgelehnt.

Nimmt man diese über die "unmittelbaren" Beeinträchtigungen der Fingerverletzung hinausgehenden funktionalen Einschränkungen hinzu, ist es berechtigt, dem Kläger hierfür eine MdE um 10 v. H. zuzubilligen. Bei den Tabellenwerten der sozialmedizinischen Literatur für den Verlust von Fingern und Gliedmaßen ist nämlich zu berücksichtigen, dass diese im Übrigen regelrechte Verhältnisse voraussetzen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 641: keine Durchblutungs- und Sensibilitätsstörungen). Mit der Angabe einer MdE von 0 v. H. ist auch keineswegs gemeint, dass keinerlei funktionale Beeinträchtigungen bestehen, sondern nur, dass diese wirtschaftlich nicht messbar sind (Meindl/Muhr, Unfallbegutachtung, 11. Aufl. 2005, Vorspann in Anhang 1). Die Angabe, der Verlust des vierten Fingers im Mittelgelenk bedinge nach sechs Monaten eine MdE von 0 v. H., ist also, insbesondere wenn man den für die Zeit zuvor ausgewiesenen Wert von 20 v. H. betrachtet, eher als Wert von 5 v. H. zu lesen, der aber, da wirtschaftlich nicht messbar, nicht ausgewiesen wird. Zwar steht der Kläger einerseits besser da, als im Falle des Verlustes des vierten Fingers im Mittelgelenk. Andererseits kommen jedoch die oben beschriebenen weitergehenden Beeinträchtigungen der Einsetzbarkeit der rechter Hand und - bei schwereren Arbeiten - auch des gesamten rechten Armes hinzu, so dass bei einer Gesamtbetrachtung ein Wert von 10 v. H. erreicht wird.

Zwar ist anerkannt, dass ein sog. Vorschaden bei der Bemessung der MdE zu berücksichtigen ist, wenn eine funktionelle Wechselwirkung mit der Unfallfolge besteht, sodass sich die Folgen des Versicherungsfalls anders auswirken als im Normalfall. Dies wird auch für Schäden an den Fingern derselben Hand angenommen (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 56 Rdnr. 10.5 und 10.6 m.w.N. zur Rechtsprechung; Ricke in KassKomm, § 56 Rdnr. 20 m.w.N.; s. auch Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 159 ff.). Allerdings bestanden im Zeitpunkt des Arbeitsunfalles vom 9. November 1998 keine Funktionseinschränkungen am kleinen Finger der rechten Hand. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Bericht von Dr. Bieber über seine Untersuchung des Klägers am 9. November 1998, in dem der Kleinfinger keine Erwähnung fand, sondern auch aus dem Bericht von Dr. K. über die Untersuchung vom 24. November 1998, wonach der Kleinfinger in allen Gelenken frei beweglich war. Eine (zusätzliche) MdE wegen eines Vorschadens am Kleinfinger kommt somit nicht in Betracht.

Eine besondere berufliche Betroffenheit (§ 56 Abs. 2 Satz 3 SGB VII) sieht der Senat im Hinblick auf die strengen Voraussetzungen, die das BSG (s. Ricke, a.a.O., § 56 Rdnr. 28 ff. m.w.N. zur Rechtsprechung) hieran stellt, nicht.

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mannheim aufgehoben und der Klage im ausgesprochenen Umfang stattzugeben.

Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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