L 17 U 317/03

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 U 354/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 317/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 21/06 R
Datum
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 23.07.2003 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Entziehung der Verletztenrente (Stützrente) aufgrund des Arbeitsunfalles vom 27.09.1996 streitig.

Der 1947 geborene Kläger erlitt am 27.09.1996 einen Arbeitsunfall. Mit Bescheid vom 06.02.1997 erkannte die Beklagte als Folgen des Arbeitsunfalles an: Bewegungseinschränkung im Lendenwirbelsäulenbereich, Minderung der Rückenmuskulatur, Höhenminderung der Vorderkante durch Einbruch der Deckplatte des 2. Lendenwirbelkörpers nach knöchern fest verheiltem Stauchungsbruch des 2. Lendenwirbelkörpers. Sie gewährte eine Gesamtvergütung für den Zeitraum 21.01.1997 (Ende der Arbeitsunfähigkeit) bis 31.07.1997 nach einer MdE von 20 vH.

Nach Einholung eines Gutachtens des Chirurgen Dr.K. vom 25.02.1998 sprach sie dem Kläger mit Bescheid vom 14.05.1998 vorläufige Rente nach einer MdE von 10 vH ab 01.08.1997 zu. Grundlage für die Stützrente war u.a., dass der Kläger wegen der Folgen eines Arbeitsunfalles vom 29.11.1989 auch Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH erhielt (von der BG für Fahrzeughaltungen -BGF-).

Nach einem weiteren Gutachten des Dr.K. vom 26.05.1999 gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 22.07.1999 Dauerrente nach einer MdE von 10 vH (Stützrente).

Den Unfall vom 29.11.1989 (Wegeunfall) hatte der Kläger in Kasachstan erlitten (Bruch des rechten Fußes). Am 18.08.1993 siedelte er in die Bundesrepublik um und ist seit 23.01.1995 eingebürgert. Die BGF gewährte ihm mit Bescheid vom 27.01.1998 Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH ab 18.08.1993. Zur Begründung gab sie an, der Kläger habe als Aussiedler ab dem Tag des Zuzugs in die Bundesrepublik Deutschland Anspruch auf Verletztenrente nach den §§ 580, 581 Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm den Bestimmungen des Fremdrentengesetzes (FRG). Als Folgen des Arbeitsunfalles erkannte sie an: Knöchern fest verheilte Brüche des rechten Wadenbeins und des rechten Innenknöchels mit Fehlstellung des Sprungbeins und Verschmälerung des Gelenkspalts: Fehlstellung des Fußes im Sprunggelenk, Einschränkung der Beweglichkeit im oberen sowie im unteren Sprunggelenk, Schwellneigung des Unterschenkels und Schwäche des rechten Beines.

In einem Prüfbericht teilte die BGF der Beklagten am 05.02.2001 mit, der Kläger sei nicht als Spätaussiedler nach § 4 Bundesvertriebenengesetz (BVFG), sondern als nichtdeutscher Ehegatte eines Spätaussiedlers nach § 7 Abs 2 BVFG anerkannt worden. Ehegatten mit ausländischer Staatsangehörigkeit eines Spätaussiedlers seien grundsätzlich keine Berechtigten nach dem FRG. Das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 7 Abs 2 FRG führe nicht zur FRG-Berechtigung. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Rente nach dem FRG.

Mit Bescheid vom 25.04.2001 stellte die BGF die Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 27.01.1998 fest. Dieser könne aber nicht zurückgenommen werden, weil der Kläger auf seinen Bestand vertrauen dürfe. Allerdings dürften alle in Zukunft zu seinen Gunsten eintretenden Änderungen (Erhöhung der MdE und vor allem die jährlich zum 01.07. eintretende Anpassung der Rente) nicht stattfinden.

Mit Bescheid vom 21.06.2001 nahm die Beklagte den Bescheid vom 22.07.1999 insoweit zurück, als die darin auf unbestimmte Zeit festgestellte Stützrente nach einer MdE von 10 vH für die Zukunft entzogen wurde (§ 45 SGB X). Der Leistungsbezug ende mit Ablauf des 30.06.2001.

Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Bescheid vom 09.10.2001 zurück. Sie verwies dabei auf die §§ 45 Abs 1, hilfsweise 48 Abs 1 SGB X und führte u.a. aus, ein rechtwidriger Verwaltungsakt könne nach § 45 Abs 1 SGB X, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter bestimmten Einschränkungen zurückgenommen werden. Die Gewährung der Rente sei zu Unrecht erfolgt. Objektiv habe ein Stützrententatbestand nicht bestanden, weil der Kläger nach dem FRG nicht zum rentenberechtigten Personenkreis gehört habe. Daher seien sowohl der Bescheid der BGF als auch der Stützrenten-Bescheid vom 22.07.1999 rechtswidrig gewesen.

Gegen diese Bescheide hat der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) Würzburg erhoben und beantragt, den Bescheid vom 21.06.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.10.2001 aufzuheben. Das SG hat mit Urteil vom 23.07.2003 diesem Antrag stattgegeben und im Wesentlichen ausgeführt, dass die Verletztenrente der BGF weiter gezahlt werde. Es sei lediglich eine Abschmelzung nach § 48 Abs 3 SGB X vorgenommen worden. Die Beklagte habe daher wegen der Bindungswirkung an die Entscheidung der BGF ohne weitere Prüfung Rente zu gewähren, weil die Folgen des Arbeitsunfalles vom 27.09.1996 eine MdE von mindestens 10 vH erreichten. Der Bescheid vom 22.07.1999 könne somit weder nach § 45 noch nach § 48 SGB X zurückgenommen werden, weil er selbst nicht rechtswidrig sei.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt und vorgetragen, die BGF habe die Rechtswidrigkeit ihrer Entscheidung selbst festgestellt. Diese Entscheidung habe die Beklagte ihrem Bescheid vom 21.06.2001 zugrunde gelegt. Die Beklagte sei nicht verpflichtet, sehenden Auges einen rechtswidrigen Verwaltungsakt zu erlassen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG Würzburg vom 23.07.2003 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 21.06.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.10.2001 abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Würzburg vom 23.07.2003 zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten, die Gerichtsakten 1. und 2. Instanz sowie die Verwaltungsakte der BGF verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Entscheidung ergeht im Einverständnis mit den Beteiligten im schriftlichen Verfahren (§ 124 Abs 2 SGG).

Die Berufung ist zulässig, sachlich aber nicht begründet.

Das Urteil des SG Würzburg vom 23.07.2003 ist rechtens. Der Kläger hat weiterhin Anspruch auf Gewährung einer Stützrente nach einer MdE von 10 vH aufgrund des Arbeitsunfalles vom 27.09.1996. Der Bescheid der BGF vom 25.04.2001 ist nicht rechtswidrig. Er kann weder nach § 45 noch § 48 SGB X zurückgenommen bzw aufgehoben werden.

Anzuwenden ist hier das ab 01.01.1997 geltende Recht, obwohl der Bescheid vom 06.02.1997, mit dem erstmals Verletztenrente anerkannt wurde, auf einem Versicherungsfall (27.09.1996) beruht, der vor dem Tag des In-Kraft-Tretens des SGB VII eingetreten ist. Die im Bescheid vom 06.02.1997 ausgesprochene vorläufige Entschädigung (Gesamtvergütung nach einer MdE von 20 vH) war aber erstmals nach In-Kraft-Treten des Gesetzes festgesetzt worden (§ 214 Abs 3 S 1 SGB VII).

Die Beklagte begründet die Aufhebung des Stützrentenbescheides im Berufungsverfahren im Wesentlichen mit der Vorschrift des § 48 SGB X. § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X knüpft die Aufhebung des die Rente bewilligenden Verwaltungsaktes daran, dass in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich in diesem Sinne kann die Änderung nur sein, wenn der Bescheid der BGF keinen Stütztatbestand iS des § 56 Abs 1 Satz 2 SGB VII darstellt. Nach § 56 Abs 1 Satz 2 SGB VII ist aber aufgrund des ersten Unfalls auch weiterhin ein Versicherungsfall mit einer MdE von 20 vH vorhanden, wie die BGF in dem Bescheid vom 25.04.2001 - unabhängig von dem Problem der "Abschmelzung" - zum Ausdruck bringt.

Der für eine "gestützte" Verletztenrente zuständige Unfallversicherungsträger ist an die durch Verwaltungsakt oder Urteil getroffenen Feststellungen anderer Unfallversicherungsträger gebunden. Für die Feststellung der stützenden Rente ist die BGF zuständig. Die Bestandskraft des Verwaltungsaktes vom 25.04.2001 der insoweit zuständigen BGF kommt in der materiellen Gestaltungswirkung der materiellen Rechtskraft von Urteilen nahe; sie ist ihnen wesensverwandt und bindet hinsichtlich des Verfügungssatzes. Der "zweite" Unfallversicherungsträger (die Beklagte) ist hinsichtlich des Verfügungssatzes durch die Entscheidung der BGF vom 25.04.2001 gebunden. Insoweit ist die Prüfung der Voraussetzungen einer Stützrente eingeschränkt (BSG vom 22.01.1981 - 8/8 a RU 04/79). Maßgebend ist allein, ob der Verwaltungsakt, der den früheren, in Kasachstan erfolgten Unfall betrifft, im Zeitpunkt der Unfallrentengewährung der gestützten Rente eine Entschädigung nach dem Unfallversicherungsrecht gewährt. Für einen "zweiten" Arbeitsunfall ist dann ohne weitere Prüfung Rente zu gewähren, wenn seine Folgen eine MdE von mindestens 10 vH erreichen und eine Entschädigung nach § 56 SGB VII gewährt wird. Dies erscheint folgerichtig, da das BSG damit die inhaltliche Verbindlichkeit der im Rahmen der gesetzlichen Zuständigkeit ergangenen positiven Entscheidung eines Trägers für die positive Entscheidung eines anderen Trägers festsetzt. Damit soll eine zumindest bestandskräftig zuerkannte stützende Rente durch einen UV-Träger bei seiner Entscheidung über eine gestützte Rente nicht mehr in Frage gestellt werden.

Dies ist hier der Fall, so dass ohne weitere Prüfung von der Beklagten Rente zu gewähren ist, da die Folgen des Arbeitsunfalls (vom 27.09.1996) eine MdE von mindestens 10 vH erreichen. Es spielt also keine Rolle, dass der Bescheid vom 27.01.1998 über die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund des Unfalles in Kasachstan rechtswidrig war, weil der Kläger die Spätaussiedlereigenschaft nicht besaß. Als nichtdeutscher Ehegatte einer Spätaussiedlerin hätte er keinen Anspruch auf Verletztenrente geltend machen dürfen. Entscheidend ist, dass eine Rücknahme nach § 45 SGB X nach Auffassung der BGF nicht möglich war, weil der Kläger auf den Bestand des Verwaltungsaktes hat vertrauen dürfen. Die Rente wird ihm daher mit Bescheid vom 25.04.2001 für diesen Unfall, wenn auch unter der Einschränkung der Abschmelzung nach § 48 Abs 3 SGB X, weiter gewährt.

Die Beklagte ist verpflichtet, für den weiteren Versicherungsfall ohne weitere Prüfung Verletztenrente zu zahlen, da dessen Folgen eine MdE von 10 vH verursachen. Sind nämlich Unfälle und ihre Folgen anerkannt, wie bei der BGF, so ist die Beklagte an die Entscheidung der dafür zuständigen Stelle (Bescheid vom 25.04.2001) gebunden (so auch Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 5. Auflage, § 56 Anm 7.3; 9.1) Eine eigene Prüfung der Beklagten, ob tatsächlich eine stützende MdE aus dem ersten Unfall besteht, ist in solchen Fällen nicht statthaft. Vor allem ist der Einwand der unrechtmäßigen Anerkennung des ersten Verwaltungsakts mit der Bindung an diesen Verwaltungsakt ausgeschlossen (Ricke in Kassler Kommentar, SGB VII, § 56 RdNr 8). Dem ersten Verwaltungsakt kommt eine eigenständige Bedeutung zu in dem Sinne, dass zwar die rechtlichen Voraussetzungen für die Anerkennung des Arbeitsunfalles vom 29.11.1989 nicht vorgelegen haben, er aber dennoch als Arbeitsunfall zu entschädigen ist.

Trotz der Abschmelzung nach § 48 Abs 3 SGB X ist also weiterhin von der Gewährung einer Unfallrente durch die BGF auszugehen. Die Höhe der MdE (beeinflusst durch Abschmelzung) ist dabei nicht wesentlich, wenn nur überhaupt Verletztenrente gezahlt wird oder zu zahlen ist.

Das Urteil des SG Würzburg ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der Kläger hat weiterhin Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 10 vH aufgrund des Arbeitsunfalles vom 27.09.1996 (Stützrente). Die Berufung der Beklagten war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs 1 SGG). Es ist zu klären, ob Anspruch auf eine Stützrente besteht, wenn der Bescheid über die "stützende" Rente zwar rechtswidrig ist, aber nach den §§ 45, 48 SGB X nicht mehr zurückgenommen bzw aufgehoben werden kann.
Rechtskraft
Aus
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