L 13 SB 69/03

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 46 SB 1815/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 69/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. März 2003 wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat der Klägerin ein Viertel der außergerichtlichen Kosten des Klageverfahrens zu erstatten. Die Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig sind die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 60 und die Anerkennung der medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens "G".

Die 1963 geborene Klägerin beantragte im September 2000 bei dem Beklagten die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft wegen der Folgen eines Verkehrsunfalls vom 12. April 1999. Der Beklagte holte Befundberichte der behandelnden Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. P und des Orthopäden Dr. M ein, denen verschiedene Arztbriefe und Befunde beigefügt waren. Auf der Grundlage einer gutachtlichen Stellungnahme der Ärztin Dvom 22. November 2000 erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 30. November 2000 folgende Behinderungen, deren verwaltungsinterne Einzel-GdB-Bewertung sich aus den Klammerzusätzen ergibt, an: a. Posttraumatische Belastungsstörung nach Verkehrsunfall 04/99 (30) b. Vertebragenes Schmerzsyndrom, Halswirbelsäulen-Syndrom mit Kopfschmerz bei Fehlstellung und Bandscheibenprotrusion C5/6, Lendenwirbelsäulensyndrom bei degenerativen Veränderungen und Bandscheibenvorfall L5/S1, Beinverkürzung rechts 1 cm, Chondropathia patellae rechts (30).

Der dadurch bedingte GdB betrage 40. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "G" seien nicht erfüllt.

Mit dem dagegen eingelegten Widerspruch schilderte die Klägerin ihre vielfältigen Beschwerden und verwies darauf, dass im Mai 2000 eine Gebärmutteroperation durchgeführt worden sei. Nach Auswertung des diesbezüglichen Entlassungsberichtes des Krankenhauses Wvom 6. Juni 2000 und des Entlassungsberichtes der P Wklinik, Bad E, über einen stationären Aufenthalt vom 23. Februar bis zum 23. März 2001 wies der Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 14. Juni 2001 zurück.

Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Berlin Befundberichte von der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. F, von Dr. P und Dr. Meingeholt und für die Landesversicherungsanstalt Berlin erstattete nervenärztliche Gutachten von Dr. M (vom 21. Mai 2000) und der Nervenärztin W (vom 23. Januar 2002) zur Akte genommen. Auf der Grundlage dieser Unterlagen gelangte Dr. D in einer nervenfachärztlichen Stellungnahme vom 28. Juni 2002 zu dem Ergebnis, bei der geschilderten "bunten" Symptomatik, durch die das Bild der posttraumatischen Belastungsstörung modifiziert und chronifiziert sei, könne eine GdB von 40, d.h. im oberen Bereich des Ermessensspielraumes für die psychischen Störungen mit wesentlichen Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit begründet werden, der Gesamt-GdB betrage aufgrund der negativen Wechselwirkung mit Schmerz- und Bewegungsstörung seitens des Stütz- und Bewegungsapparates ab Antragstellung 50. Dem folgend erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 26. Juli 2002 einen GdB von 50 ab September 2000 an.

Hiergegen hat die Klägerin unter Vorlage eines Attestes von Dr. F und eines Kurzgutachtens sowie einer Ergänzung hierzu von Orthopäden Dr. G eingewandt, es seien weitere Unfallverletzungsfolgen anzuerkennen, die neben einer höher zu bewertenden neurologisch- psychiatrischen Funktionsbeeinträchtigung einen GdB von 80 bedingten. Der Beklagte ist diesen Einschätzungen unter Bezugnahme auf chirurgische Stellungnahmen von Dr. B und Dr. B sowie eine nervenfachärztliche Stellungnahme von Dr. D nicht gefolgt.

Durch Urteil vom 31. März 2003 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Stellungnahmen von Dr. Gseien nicht verwertbar, weil sich in dem Attest vom 8. Juli 2002 lediglich eine Auflistung der Verletzungsdiagnosen finde und die behauptete Weichteilverletzung und Verletzung der Intercostal-Nerven durch den Röntgenbefund vom 18. Februar 1998 widerlegt werde. Des Weiteren konzentrierten sich die Atteste auf die Begründung eines Zusammenhangs mit dem Verkehrsunfall. Dies sei nicht Gegenstand des Verfahrens. Eine Bewertung der bei der Klägerin vorliegenden Wirbelsäulenschäden mit einem GdB von 30 entspreche den Vorgaben der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (Anhaltspunkte)1996. Auch lasse sich ein höherer Einzel-GdB als der anerkannte von 40 im seelischen Bereich nicht begründen. Der Gesamt-GdB betrage 50, weil bereits der nächst höhere GdB von 60 einer unzulässigen Addition nahe käme. Der angestrebte GdB von 80 sei unrealistisch, wie ein Vergleich mit Behinderungen zeige, für die ein solcher GdB vorgesehen sei.

Gegen das ihr am 2. Juni 2003 zugestellte Urteil richtet sich die am 12. Juni 2003 eingelegte Berufung der Klägerin. Sie verweist auf die von ihr vorgelegten Atteste, die einen GdB von 80 belegten. In dem angefochtenen Urteil würde unter Vernachlässigung gutachterlicher Erkenntnisse allein auf die Anhaltspunkte abgestellt. Die bei ihr vorliegende Schmerzsymptomatik könne nicht dem Wirbelsäulenleiden zugerechnet werden. Es sei das Ergebnis des im sozialgerichtlichen Verfahren zur Gewährung einer Unfallrente (S 25 U 526/02) nach § 109 Sozialgerichtsgesetz(SGG) eingeholten orthopädischen Gutachtens sowie einer ergänzenden Stellungnahme von Dr. Gzu berücksichtigen.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. März 2003 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 30. November 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. Juni 2001 sowie den Bescheid vom 26. Juli 2002 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, sie als schwerbehinderten Menschen mit einem Grad der Behinderung von 80 anzuerkennen und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen einer erheblichen Gehbehinderung -Merkzeichen "G"- festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat das im Rechtstreit S 25 U 526/02 zur Höhe der Verletztenrente eingeholte Gutachten von Dr. W vom 10. September 2003 zur Akte genommen und diesen Arzt mit der Erstattung eines Gutachtens nach Aktenlage beauftragt. In seinem Gutachten vom 25. August 2004 hat der Sachverständige dargelegt, aus den vorliegenden Bilddokumenten ergebe sich, dass im Bereich der oberen Wirbelsäulenabschnitte keine nennenswerten Veränderungen darstellbar seien. Die klinisch-funktionelle Untersuchung im September 2003 sei durch eine erhebliche psychische Überlagerung gestört gewesen. Insbesondere die objektivierbaren Untersuchungsparameter hätten keine nennenswerten Veränderungen aufgedeckt. Hinsichtlich der Lendenwirbelsäule sei der neurologische Status bei der letzten gutachterlichen Untersuchung im September 2003 komplett unauffällig gewesen. Unter Ausnutzung des maximalen Ermessenspielraums sei bei rezidivierenden Nervenwurzelreizsymptomen und mittelgradigen Bewegungseinschränkungen an einem Wirbelsäulenabschnitt maximal ein GdB von 30 anzuerkennen. Eine höhergradige Schädigung der Kniegelenke habe nicht festgestellt werden können, so dass hieraus keine Erhöhung des orthopädischen Einzelbehinderungsgrades folge, der unverändert 30 betrage.

Die Klägerin hat mitgeteilt, einer Aufforderung zur Untersuchung durch einen Nervenfacharzt solange nicht Folge zu leisten, bis über ihre Verfassungsbeschwerde gegen den die Nichtzulassungsbeschwerde zurückweisenden Beschluss des Bundessozialgerichts entschieden worden sei, es solle ein Aktenlagegutachten erstellt werden. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. Sch hat in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 26. Oktober 2005 dargelegt, die Klägerin mache eine breite Palette von körperlichen Beschwerden in betonter und dramatischer Art, wie es für ein Konversionssyndrom charakteristisch sei, geltend. Die atypische Vielfalt der auf den ganzen Körper projizierten Symptome spreche für eine tief liegende seelische Ursache, die mit der Diagnose einer Somatisierungsstörung am besten beschrieben werden könne. Die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsreaktion ließen sich nicht zuordnen. Der Somatisierungsstörung entspreche ein GdB von 40, dem vertebragenen Schmerzsyndrom bei Bandscheibendegeneration mitsamt einer leichten Wirbelsäulenfehlhaltung und Bewegungseinschränkungen entspreche eine GdB von 30. Der Gesamt-GdB betrage 50; die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr sei nicht beeinträchtigt.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Verwiesen wird außerdem auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und der Schwerbehindertenakte des Beklagten, die vorlagen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unbegründet.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung eines höheren GdB als 50 ab Antragstellung.

Nach §§ 2 Abs.1, 69 Abs.1 Sätze 3,4 des ab 1. Juli 2001 geltenden Sozialgesetzbuchs, Neuntes Buch (SGB IX), sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Gesundheitsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz und der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Anhaltspunkte) in der Fassung des Jahres 2004 ( deren Vorgänger die Anhaltspunkte 1996 waren) zu bewerten, die als antizipierte Sachverständigengutachten mit normähnlicher Qualität gelten.

Der Senat ist nach dem Gesamtergebnis der Ermittlungen zu dem Ergebnis gelangt, dass das Ausmaß der bei der Klägerin bestehenden Behinderungen keinen höheren als den von dem Beklagten mit den angefochtenen Bescheiden jeweils zuerkannten GdB bedingt.

Hinsichtlich der Funktionseinschränkungen und ihrer Bewertung folgt der Senat der zutreffenden Begründung des angefochtenen Urteils, in dem umfassend und unter eingehender Bezugnahme auf die Anhaltspunkte 1996 die Bewertung des GdB vorgenommen worden ist. Die beiden im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten haben keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass das Sozialgericht die von der Klägerin geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen, soweit sie als Funktionseinschränkungen zu objektivieren sind, unzutreffend bewertet hat. Über den vor 1998 bestehenden Gesundheitszustand war kein Beweis zu erheben, da Streitgegenstand die Feststellung des Grades der Behinderung für die Zeit ab September 2000 ist.

Durch die nunmehr zu berücksichtigenden Anhaltspunkte 2004 hat sich weder in der Bewertung der Funktionseinschränkungen durch Wirbelsäulenschäden (Nr. 26.18, S. 116) noch in derjenigen der psychischen Störungen (Nr. 26.3, S. 48) eine Änderung ergeben. Deshalb sieht der Senat gemäß § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.

Soweit die Klägerin im Berufungsverfahren eine fehlerhafte Bewertung ihrer Leiden geltend macht, kann dem nicht gefolgt werden. Die beiden vom Senat gehörten Sachverständigen haben in ihren Gutachten nach Aktenlage unter Berücksichtigung aller beigezogenen Befunde umfassend und für den Senat nachvollziehbar dargelegt, dass die bei der Klägerin vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen keinen höheren GdB als 50 bedingen.

Für die Angabe der Klägerin, ihre gesundheitliche Situation habe sich verschlechtert, enthalten die von ihr eingereichten Atteste keine Anhaltspunkte, so dass weitere Ermittlungen von Amts wegen nicht durchzuführen waren.

Die Bildung eines Gesamt-GdB von 50, wie er in den angefochtenen Bescheiden vorgenommen worden ist, entspricht der Vorschrift des § 69 Abs.3 SGB IX. Danach ist dann, wenn mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vorliegen, der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen.

Die Vorschrift stellt klar, dass der Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen oder Behinderungen unabhängig davon, ob sie in einem oder mehreren medizinischen Fachbereichen vorliegen, nicht durch bloße Zusammenrechnung der für jede Funktionsbeeinträchtigung oder Behinderung nach den Tabellen in den Anhaltspunkten festzustellenden oder festgestellten Einzel-GdB zu bilden ist, sondern durch eine Gesamtbeurteilung. In der Regel ist von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, um dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft größer wird. Dabei führen grundsätzlich leichte Funktionsbeeinträchtigungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtauswirkung, die bei dem Gesamt-GdB berücksichtigt werden könnte. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Anhaltspunkte 2004, Nr. 19 S. 24 bis 26 und BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 9). Der Beklagte ist bei der Bildung des Gesamt-GdB nach diesen Grundsätzen verfahren.

Ausgehend von einem GdB von 40 für das seelische Leiden und einem GdB von 30 für die Wirbelsäulenschäden trägt eine Erhöhung des Gesamt-GdBs auf 50 der Tatsache Rechnung, dass sich einerseits die Auswirkungen der Leiden überschneiden, andererseits der GdB von 30 für das Wirbelsäulenleiden hoch angesetzt ist.

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G". Gemäß § 146 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist ein schwerbehinderter Mensch in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, der infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Diese Voraussetzungen sind nach Nr. 30 Abs. 3, S. 137 f der Anhaltspunkte 2004 erfüllt, wenn Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen, oder bei Behinderungen der unteren Gliedmaßen mit einem GdB von mindestens 40, die sich besonders auf die Gehfähigkeit auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung oder arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40.

Diese Voraussetzungen sind den vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere dem Gutachten von Dr. W, nicht zu entnehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Klage zu einem geringen Teil erfolgreich war.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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