L 13 VG 40/02

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 46 VG 106/99
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VG 40/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. August 2002 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt im Wege eines Zugunstenbescheides Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG), die der Beklagte unanfechtbar abgelehnt hatte.

Die im Jahre 1961 geborene Klägerin lernte im Jahre 1990 den zehn Jahre älteren B in einer Gaststätte kennen und zog kurze Zeit später mit ihren beiden drei- und siebenjährigen Kindern in dessen Wohnung. Zwischen der Klägerin und B kam es, insbesondere nach übermäßigem Alkoholgenuss, zu heftigen Auseinandersetzungen, bei denen B die Klägerin in das Gesicht schlug. Die Tätlichkeiten führten in mehreren Fällen dazu, dass die Klägerin mit ihren Kindern den B verließ, aber kurze Zeit später wieder zu ihm zurückkehrte. Auch äußerte B mehrmals, dass er die Klägerin umbringen werde. Mitte der neunziger Jahre drückte er ihr im Schlafzimmer ein Kissen auf das Gesicht, so dass sie zu ersticken drohte. Als es immer häufiger zu Streitigkeiten kam, zog die Klägerin in ein Frauenhaus. Auf dessen Vermittlung bekam sie eine Wohnung im Mietshaus Hweg, die sie zunächst im ihren Kindern allein bewohnte. B, der sie anfangs nur besuchte, zog später ebenfalls dort ein. Die Streitereien und tätlichen Übergriffe seitens des B nach gemeinsamem Alkoholgenuss setzten sich fort.

Am Abend des 2. Januar 1998 kam es zwischen ihm und der Klägerin erneut zu Auseinandersetzungen. Beide waren erheblich alkoholisiert. Im Zuge des Streits stieß B die Klägerin vom Balkon des 5. Obergeschosses. Die Klägerin erlitt u.a. eine allgemeine Polytraumatisierung, mehrere Frakturen, eine traumatische Aortenruptur und mittelschwere Hirnfunktionsstörungen.

Ihren Antrag auf Leistungen nach dem OEG lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 28. Oktober 1998 mit der Begründung ab, dass Versagungsgründe nach § 2 Abs. 1 OEG vorlägen. Hiergegen legte die Klägerin keinen Rechtsbehelf ein.

Im Februar 1999 beantragte die Klägerin die Überprüfung der Versagung: Es sei ihr nicht vorzuwerfen, dass sie mit B wieder zusammengezogen sei. Eine alleinstehende Frau mit drei Kindern habe nicht die große Wahl. Sie habe gedacht, es würde nicht wieder zu Gewalttaten kommen. Hierbei habe es sich um eine Fehleinschätzung gehandelt. Wäre sie davon ausgegangen, dass B fähig sei, sie vom Balkon zu werfen, hätte sie sicherlich den Kontakt vermieden. Mit Bescheid vom 27. April 1999 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Den Widerspruch wies er durch Widerspruchsbescheid vom 23. Juni 1999 zurück.

Das Sozialgericht Berlin hat die Klage mit Urteil vom 19. August 2002 abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt: Es sei nicht nachgewiesen, dass der Beklagte bei Erlass des Bescheides vom 28. Oktober 1998 von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen sei oder das Recht unrichtig angewandt habe. Vielmehr habe er mit Recht den Versagungsgrund der Unbilligkeit nach § 2 Abs. 1 Satz 1 zweite Alternative OEG bejaht, da die Gewährung von Entschädigung aus in dem eigenen Verhalten der Klägerin liegenden Gründen unbillig wäre. Der Vorwurf, welcher der Klägerin gemacht werden müsse, liege in der Tatsache begründet, dass sie B trotz der vorangegangenen Vorfälle wieder in ihre Wohnung habe einziehen lassen.

Gegen das Urteil hat die Kläger Berufung eingelegt und vorgebracht: Sie habe nach ihren persönlichen Fähigkeiten nicht vorhersehen können, dass B sie vom Balkon werfen würde. Objektiv vorhersehbar sei lediglich gewesen, dass sie erneut mit häuslicher Gewalt wie Schlägen mit der flachen Hand ins Gesicht habe rechnen müssen. Zudem sei nicht auszuschließen, dass ihre Einsichtsfähigkeit durch den übermäßigen Alkoholkonsum beeinträchtigt worden sei.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. August 2002 und den Bescheid des Beklagten vom 27. April 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juni 1999 aufzuheben sowie den Beklagten zu verurteilen, ihr unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Oktober 1998 wegen der Folgen des Vorfalls vom 2. Januar 1998 Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz in Form einer Teilrente aufgrund einer MdE von mindestens 25 v.H. zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält an seiner Entscheidung fest.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte, der Akte des sozialgerichtlichen Verfahrens, des Verwaltungsvorgangs des Beklagten und der den Vorgang betreffenden Strafakten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte trotz Ausbleibens der Klägerin im Termin verhandeln und entscheiden (§ 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 110 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet.

Zu Recht hat das Sozialgericht einen Anspruch der Klägerin auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) abgelehnt.

Die Klägerin wurde zwar am 2. Januar 1998 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG. Opferentschädigungsrechtliche Ansprüche sind jedoch gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG ausgeschlossen. Leistungen sind danach zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, ihm eine Entschädigung zu gewähren.

Zum Verhältnis dieser beiden Versagensgründe des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG hat das Bundessozialgericht (-BSG-, Urteil vom 6. Dezember 1989, 9 RVg 2/89, BSGE 66, 115 = SozR 3800 § 2 Nr. 7) klargestellt, dass die Mitverursachung (erste Alternative) einen Sonderfall der Unbilligkeit (zweite Alternative) darstellt. Ist nur die unmittelbare Förderung der Tat durch den Geschädigten als Leistungsausschließungsgrund in Betracht zu ziehen, so bildet die erste Alternative eine abschließende Regelung (vgl. BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995, 9 RVg 5/95, BSGE 77, 18 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 3). Dieser Versagungsgrund – eine Mitverursuchung – liegt nicht vor, weil die Klägerin nicht durch einen eigenen Beitrag, indem sie etwa den B durch Beleidigungen provozierte (vgl. BSG, Urteil vom 18. April 2001, B 9 VG 3/00 R, BSGE 88, 96 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 10), unmittelbar am schädigenden Geschehensablauf beteiligt war.

Eine Opferentschädigung ist vorliegend wegen Unbilligkeit im Sinne der zweiten Alternative zu versagen, da die Klägerin sich erheblich selbst gefährdete, indem sie den zu schweren Gewalttätigkeiten neigenden B in ihre neue, vom Frauenhaus vermittelte Wohnung wieder aufnahm und dort gemeinsam mit ihm lebte.

Ein derartiger tatunabhängiger Umstand kann schon für sich allein die Unbilligkeit der Entschädigung begründen (so BSG, Urteile vom 7. November 1979, 9 RVg 2/78, BSGE 49, 104 = SozR 3800 § 2 Nr. 1, und vom 3. Oktober 1984, 9a RVg 6/83, BSGE 57, 168 = SozR 3800 § 2 Nr. 5). Indes müssen die "sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründe" (§ 2 Abs. 1 Satz 1 zweite Alternative OEG) unter besonderer Berücksichtigung der Einzelfallgestaltung eine Entschädigung mit einem solchen Gewicht als "unbillig" bewerten lassen, dass dies dem in der ersten Alternative genannten Grund der Mitverursachung an Bedeutung annähernd gleichkommt (vgl. BSG, Urteile vom 7. November 1979, 9 RVg 2/78, BSGE 49, 104 = SozR 3800 § 2 Nr. 1, und vom 24. April 1980, 9 RVg 1/79, BSGE 50, 95-99 = SozR 3800 § 2 Nr. 2). Bei diesem Ausschlusstatbestand genügt bereits eine etwa gleichwertige Mitverursachung, um die Entschädigung zu versagen (so BSG, Urteil vom 6. Dezember 1989 a.a.O., mit weiteren Nachweisen). Soweit nach der älteren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteile vom 17. November 1981, 9 RVg 2/81, BSGE 52, 281, 284 = SozR 3800 § 2 Nr. 3, vom 26. Juni 1985, 9a RVg 6/84, BSGE 58, 214, 215 = SozR 3800 § 2 Nr. 6, und vom 6. Dezember 1989 a.a.O.) die Gleichwertigkeit der von dem Opfer gesetzten Mitursache mit dem Tatbeitrag des Täters voraussetzt, dass die Mitwirkung des Opfers ebenso wie der rechtswidrige Angriff von der Rechtsordnung missbilligt wird, bedeutet dies nicht, dass die Beteiligung des Opfers in demselben Maß missbilligt werden müsste wie die Beteiligung des Täters (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995, 9 RVg 5/95 BSGE 77, 18 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 3): Auf der Grundlage einer solchen Meinung wäre die Selbstgefährdung des Opfers im Vergleich mit der gegen ihn gerichteten vorsätzlichen Straftat des Täters nie gleichwertig. Denn zwangsläufig wird die Straftat von der Rechtsordnung stärker missbilligt als eine Selbstgefährdung des Opfers dieser Straftat. Ein Hauptzweck des § 2 Abs. 1 OEG ist es gerade, denjenigen von der Versorgung auszuschließen, der sich selbst bewusst oder leichtfertig in hohem Maße gefährdet und dadurch einen Schaden erleidet. Wer bewusst oder leichtfertig ein hohes Risiko eingeht, hat die Folgen selbst zu tragen; das Opferentschädigungsrecht schützt ihn dann nicht (vgl. BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995 a.a.O.).

Vorliegend war die Selbstgefährdung der Klägerin auch leichtfertig. Die Annahme der Leichtfertigkeit setzt einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit, der etwa der groben Fahrlässigkeit im Sinne des bürgerlichen Rechts entspricht, voraus, wobei allerdings im Gegensatz zum bürgerlichen Recht nicht der objektive Sorgfaltsmaßstab des § 276 BGB, sondern ein individueller gilt, der auf die persönlichen Fähigkeiten des Opfers abstellt (vgl. BSG, Urteile vom 21. Oktober 1998, B 9 VG 6/97 R, BSGE 83, 62, 67 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 9, und vom 18. April 2001, B 9 VG 3/00 R, BSGE 88, 96 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 10). Der Vorwurf der Leichtfertigkeit gründet sich nicht auf dem Umstand, dass die Klägerin, als sie mit B wieder zusammenzog, akzeptierte, dass B, wie er vor der Polizei äußerte, ihr "eben ein paar in die Fresse gehauen hat, wenn sie nicht spurte". Vielmehr handelte sie – unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Erkenntnisfähigkeit – deshalb in besonders schwerem Maße sorgfaltswidrig (vgl. zu diesem Maßstab BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998 a.a.O.), weil sie ohne weiteres hätte erkennen müssen, dass sie sich in potentielle Lebensgefahr begibt, wenn sie B in ihren Haushalt aufnimmt. Denn während ihres langjährigen Zusammenlebens hat dieser mehrfach geäußert, dass er sie umbringen werde. Dass es sich hierbei nicht um leere Worte handelte, hätte der Klägerin spätestens dann klar sein müssen, als B ihr im Schlafzimmer ein Kissen auf das Gesicht drückte, so dass sie zu ersticken drohte. Für eine den Vorwurf der Leichtfertigkeit ausschließende beschränkte Einsichtsfähigkeit der Klägerin, etwa – wie sie vortragen lässt – infolge übermäßigen Alkoholkonsums, bestehen schon deshalb keinerlei Anhaltspunkte, weil sie in der Vergangenheit aus den Tätlichkeiten des B die Konsequenz ziehen konnte, die gemeinsame Wohnung zu verlassen, und später ein Frauenhaus aufsuchte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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