S 12 VG 30/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 12 VG 30/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 VG 24/06
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Anerkennung von Gesundheitsstörungen und von Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz.

Der am 00.00.1952 geborene Kläger beantragte am 10.01.2003 bei dem Beklagten die Gewährung von Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Sein Antrag begründete er damit, dass er als Heimkind in den Jahren 1955 – 1966 im F. Kinderheim mißhandelt worden sei. Circa 1965 sei er dort im Bad von einer J. S./L. nackt brutalst mit einem dicken Bambusstock gezüchtigt worden und habe vor Schmerzen geschrieen und sein Blut nach einer halben Stunde selber wegwischen müssen. Daneben sei er einmal, als er seinen Tischdienst vergessen hatte, mit dem Kopf festgehalten worden und alle Kinder der Gruppe, circa 22 – 25 Kinder, hätten mit einem Bambusstock auf seinen Hintern geschlagen. Daneben habe er viele Ohrfeigen bekommen.

Einer schriftlichen Erklärung von M. I. vom 08.01.2002 war zu entnehmen, dass diesem der Name des Klägers etwas sage. Möglicherweise sei der Kläger später in der Gruppe von Schwester P. gewesen. Wenn M. I. selbst den Kläger geschlagen haben sollte, dann allerdings nur im Auftrag der damaligen Erziehungsperson. M. I. könne von Schwester P. nur Gutes sagen.

Der Beklagte ließ Befundberichte von dem Internisten Dr. C. erstellen, der allerdings keinen Hinweis auf eine organische Herzerkrankung, sondern allenfalls funktionelle bzw. psychovegetative Beschwerden bei dem Kläger diagnostizierte. Ein Befundbericht bei Dr. T. ergab, dass der Kläger dort zuletzt im Februar 1999 in Behandlung war. Der Beklagte zog die staatsanwaltschaftlichen Akten bei. Hierin finden sich zahlreiche Zeugenvernehmungen, um die Geschehnisse im Kinderheim F. im genannten Zeitraum zu rekonstruieren. Die Zeugen F. und L. haben die Mißhandlungsvorwürfe im Kinderheim allgemein ebenfalls bestätigt. Allerdings gehören auch sie zu dem Personenkreis, welche bei dem Versorgungsamt B. entsprechende Anträge gestellt hatten. Die übrigen vernommenen Zeugen haben die Vorwürfe von massiven Behandlungen nicht bestätigt, bzw. diese sogar ausgeschlossen. Fast sämtliche als Täter bekannten Personen sind zwischenzeitlich verstorben.

Mit Bescheid vom 23.08.2005 lehnte die Beklagte den Antrag auf Opferentschädigung ab. Der Nachweis eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sei nicht erbracht. Ein tätlicher Angriff sei nur eine Handlung, die dem kriminellen Unrecht zuzurechnen sei. Handlungen unterhalb dieser Schwelle würden nicht entschädigt. Soweit der Kläger vorgetragen habe, dass im Kinderheim Schläge an der Tagesordnung gewesen seien und Mahlzeiten trotz Erbrechens zu sich genommen werden müssten, deckten sich diese Schilderungen zwar mit den Angaben der anderen Antragsteller und der Zeugen O., N. und Q ... Doch hätten in dem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren die Zeugen T., T., L., X., U., H. und N.-N. die körperlichen Mißhandlungen durch Schläge und Zwangsernährungsmaßnahmen generell ausgeschlossen. Aufgrund der gegenteiligen Zeugenaussagen fehle es an einem konkreten Nachweis von körperlichen Mißhandlungen.

Hiergegen erhob der Kläger am 31.08.2005 Widerspruch. Er hält die gegenteiligen Zeugenaussagen für unglaubwürdig. Mit Widerspruchsbescheid vom 18.01.2006 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Es lägen zahlreiche, jedoch erheblich widersprüchliche Aussagen vor. Es stünden Aussagen gegen Aussagen, so dass eine eindeutige Aufklärung der von dem Kläger angegebenen Vorkommnisse nach Ablauf von fast 40 Jahren nicht mehr möglich sei. Vielmehr seien die Ausführungen des Klägers als eher unwahrscheinlich anzusehen. Es lasse sich nicht zwingend der Schluss ableiten, dass die von dem Kläger geschilderten Geschehensabläufe tatsächlich ohne Zweifel so gewesen sein müssten.

Hiergegen richtet sich die am 31.01.2006 erhobene Klage.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger die von ihm während der Zeit von 1955 bis 1966 beanstandeten Züchtigungen nochmals aufgeführt. Er hat erklärt, wie er zwischen 1963/64 am Kopf festgehalten wurde und Stockschläge auf den Hintern von allen übrigen Jungen der Gruppe aushalten musste. Daneben habe er nahezu ständig grundlos Ohrfeigen bekommen. Zudem habe ihn Frau J. S. einmal im Badezimmer massivst blutig geschlagen. An weitere konkrete Vorkommnisse könne er sich nicht erinnern bzw. kann diese nicht wieder geben.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 23.08.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.01.2006 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm antragsgemäß Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat einen Befundbericht von dem Neurologen und Psychiater Dr. X. erstellen lassen. Dieser führte aus, dass der Kläger über viele Jahre seiner ambulanten Behandlung seit 1984 nichts von den Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend berichtet habe. Er habe lediglich in der Eingangsuntersuchung erwähnt, dass er zwanzig Jahre lang im Heim gewesen sei. Die geschilderten Mißhandlungen seien von ihm erst später angesprochen worden, nachdem seine Schwester, I. T. gegen den Träger des Kinderheims aktiv geworden sei. Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung habe der Kläger in den zurückliegenden Jahren nicht geschildert. Eine Nachfrage bei Dr. L. hat ergeben, dass dort Unterlagen aus einem Arztbesuch des Klägers in dem Jahr 1979 nicht mehr vorliegen.

Das Gericht hat die Schwerbehindertenakten beigezogen. Daraus ergibt sich, dass der Kläger erstmals am 15.08.1984 einen Antrag auf Feststellung seines Grades der Behinderung gestellt hatte, aufgrund der bei ihm vorliegenden Angstzustände durch die Heimaufenthalte während der gesamten Kindheit und Jugend. Mit Bescheid vom 07.02.1985 wurde dem Kläger wegen einer Angstneurose ein Gesamtgrad der Behinderung von 70 zuerkannt. Diesen Grad der Behinderung hat der Kläger auch noch zur Zeit. Aus zahlreichen Befundberichten seines behandelnden Neurologen Dr. X. ergibt sich eine schwere Angstneurose mit vegetativer Dysregulation und Medikamentenabhängigkeit neben verzögerter Persönlichkeitsentwicklung durch Milieuschaden und Defiziten im emotionalen Bereich. Daneben hat das Gericht die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten zu den Aktenzeichen 00000 und 00000 beigezogen. Bei dem Verfahren 00000 handelt es sich um ein Strafverfahren wegen Betruges bzw. versuchten Betruges gegen den Kläger und alle weiteren anderen Personen, die bei dem Versorgungsamt B. Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz wegen angeblicher Mißhandlungen durch Ordensschwestern während ihres Aufenthaltes im Kinderheim F. geltend gemacht haben. Bei dem Verfahren 00000 handelt es sich um ein Verfahren gegen die Schwester des Klägers I. T. wegen der Straftatbestände der §§ 186 – 188 StGB.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Akten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, verwiesen.

Die staatsanwaltlichen Ermittlungsakten enthalten zahlreiche Aussagen von Zeugen und Beschuldigten. Der Kläger hat in diesen Verfahren nie ausgesagt. Er hat jeweils ein Attest seines Neurologen Dr. Z. vorgelegt, wonach er nicht verhandlungsfähig ist und im Zusammenhang mit den Schilderungen seiner Erlebnisse im Kinderheim mit Panikgefühlen und Platzangst, zeitweise Hyperventilationstetanie reagiere.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger ist nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, denn die angefochtenen Bescheide sind nicht rechtswidrig. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, seine Angstneurose oder andere Erkrankungen als Schädigungsfolge anzuerkennen und Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz zu erhalten.

Gemäß § 1 Abs. 1 OEG setzt der Anspruch auf die Anerkennung von Schädigungsfolgen und die Gewährung von Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) unter anderem voraus, dass die zu entschädigende Gesundheitsstörung Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs ist. Das Vorliegen eines solchen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs, der ursächlich für die bei dem Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen geworden sein könnte, kann nicht festgestellt werden.

Der Kläger macht in erster Linie geltend, in der Zeit von 1955 bis 1966 im Kinderheim in F. durch häufige Ohrfeigen sowie einmal durch Stockschläge auf den Hintern von allen Kindern, die in derselben Gruppe waren wie er, sowie einmal im Badezimmer von einer Frau J. S. brutalst geschlagen worden zu sein. Diese Handlungen gegen den Kläger sind nicht mit dem notwendigen Vollbeweis feststellbar. Vollbeweis, der für alle Tatbestandsmerkmale erforderlich ist, setzt voraus, dass die Tatbestandsmerkmale mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit bzw. mit einem so hohen Grad an Wahrscheinlichkeit festgestellt werden können, dass kein vernünftiger Mensch noch daran zweifelt (BSG Urteil vom 00.00.2000, 00000 m.w.N ...; BSG Urteil vom 00.00.1993, 00000).

Hierbei ist zunächst zu beachten, dass ein Züchtigungsverbot erst in den 70er Jahren gesetzlich festgeschrieben wurde. Gerade in dem hier streitigen Zeitraum von 1955 bis 1966 waren Züchtigungen sowohl von Lehrern und Erziehern, insbesondere allerdings auch von Eltern und Erziehungsberechtigten ein gewöhnliches und übliches Erziehungsmittel. Ohrfeigen und Schläge gegenüber Jungen wurden zur damaligen Zeit in der Schule von Lehrern regelmäßig eingesetzt. Gerade die Erziehungsberechtigten in dem Heim, die die Funktion der Eltern mit zu übernehmen hatten, waren vor dem Hintergrund der damaligen Zeit und des damaligen Erziehungsverständnisses auch zu körperlichen Züchtigungen berechtigt. Obwohl Züchtigungen an Kindern heutzutage abgelehnt werden und auch strafrechtlich relevant sind, können die Züchtigungen im damaligen Zeitraum, soweit sie den Rahmen des damals Üblichen einhielten, nicht als rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG angesehen werden. Aus diesem Grund sind nach der Überzeugung der Kammer Ohrfeigen, unabhängig davon, inwieweit diese im Einzelnen gerechtfertigt waren, von dem damaligen Züchtigungsrecht gedeckt und kein rechtswidriger tätlicher Angriff. Dabei kann dahinstehen, inwieweit der Kläger im Einzelnen aufgrund welcher Anlässe die Ohrfeigen in welchem Umfang erlitten hat. Auf jeden Fall sind bei dem Kläger auch keine bleibenden organischen Schäden an Gesicht oder Ohren aufgrund der Schläge zurückgeblieben.

Soweit der Kläger angibt, einmal mit einem Bambusstock in dem Badezimmer brutalst zusammengeschlagen worden zu sein, hält die Kammer bereits den eigenen Vortrag des Klägers für nicht glaubhaft und nachvollziehbar. Der Kläger kann bereits den Zeitpunkt bzw. das Jahr in dem der Vorfall stattgefunden hat, nicht benennen. Bei Antragstellung gibt der Kläger an, dass dieser Vorfall ca. 1965 stattgefunden haben soll. In einer persönlichen Vernehmung vor dem Versorgungsamt am 25.02.2003 (Bl. 20 der OEG-Akte) meint der Kläger sodann, dass dies ungefähr 1961, 1962 stattgefunden haben müsste. Im Termin zur mündlichen Verhandlung nennt er den Zeitraum 1963/64. Auch der vom Kläger geschilderte Vorfall ist in sich nicht nachvollziehbar. Der Kläger gibt an, dass er am ganzen Körper von J. S. blutig geschlagen worden sei und am Kopf eine Platzwunde erlitten habe, die stark geblutet habe. Er sei ca. 30 – 45 Minuten geschlagen worden. Danach habe er sofort sich selbst säubern und anziehen und auch das Bad von seinem Blut säubern müssen. Nach Überzeugung der Kammer ist es einem am ganzen Körper blutendem und am Kopf mit Platzwunde blutendem etwa zehnjährigem Kind nicht möglich, sowohl sich als auch das Badezimmer derart zu säubern und das Badezimmer zu verlassen, ohne dass Beteiligte hierauf aufmerksam werden könnten. Die Säuberung von sich selbst und der Platzwunde ist bereits deshalb nicht möglich, weil eine Platzwunde nicht so schnell aufhört zu bluten, dass eine Säuberung überhaupt kurz darauf technisch möglich und machbar ist. Regelmäßig müssen Platzwunden auch genäht oder verklebt werden, da sie ansonsten schnell wieder aufreißen und es zu erneuten Blutungen kommt. Dies hätte im Kinderheim durch Besuche, Eltern oder sonstige Kinder bemerkt werden müssen. Dennoch ist in den gesamten Zeugenaussagen, die sich in den staatsanwaltschaftlichen Akten befinden, nicht der geringste Anhalt für eine derart massive Verletzung ersichtlich. Auch finden sich keine Narben beim Kläger aus diesen Verletzungen. Der Kläger hat angegeben, dass ein Installateur offensichtlich kurz nach dem Vorfall an ihm vorbei gegangen sei. Auch dieser habe offensichtlich die Verletzungen nicht bemerkt. Der Kläger hat auch zu keinem Zeitpunkt Strafanzeige gegen J. S. erstattet.

Soweit der Kläger angibt, Stockschläge auf den Hintern von sämtlichen Kindern der Gruppe anlässlich eines versäumten Tischabräumens erlitten zu haben, bestehen auch an der Richtigkeit dieser Behauptung Bedenken. Die in den staatsanwaltschaftlichen Akten befindlichen Zeugenaussagen bestreiten die Richtigkeit der Behauptung des Klägers. Danach werden teilweise die von dem Kläger behaupteten Züchtigungen ausgeschlossen. Der Zeuge M. L. war in der Gruppe des Klägers und widersprach ihm detailliert nachdrücklich. Auch der Zeuge S. X. hat im staatsanwaltschaftlichen Verfahren den Kläger erwähnt und darauf hingewiesen, dass dieser selbst ein Heimbewohner war, der aggressiv und gewalttätig gewesen sei. Kein einziger Zeuge konnte bislang den Vorfall belegen. Selbst wenn sich dieser einzige Vorfall allerdings noch belegen lassen sollte und sich hierbei auch ergeben sollte, dass die dabei dem Kläger durch die übrigen Kinder zugefügten Schläge das Maß des Züchtigungsrechtes überschritten und zu einem Züchtigungsexzess wurden, wäre dadurch immer noch nicht nachvollziehbar, dass durch diesen einen Züchtigungsexzess, dessen Ausmaß auch nicht zu langfristigen organischen Verletzungen oder Schädigungen führte, die beim Kläger bestehenden Angstneurosen kausal verursacht werden konnten.

Weiter erschwert wird die Aufklärung der Geschehnisse dadurch, dass fast sämtliche als Täter bekannten Personen zwischenzeitlich verstorben sind, sowie durch die Tatsache, dass bei vielen Mißhandlungen keine dritten Personen anwesend gewesen seien sollen, welche entsprechende sichere Zeugenaussagen machen könnten.

Auch hat der Kläger zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Personen angezeigt oder strafrechtlich verfolgen lassen. Er hat vielmehr in den staatsanwaltschaftlichen Verfahren stets seine Aussage unter Vorlage eines ärztlichen Attestes, wonach er im Zusammenhang mit den Schilderungen seine Erlebnisse im Kinderheim mit Panikgefühl und Platzangst reagiere, sich zeitweise in eine Hyperventilationstetanie steigere und ohnmächtig werde und daher für eine Zeugenvernehmung und sonstige Vernehmungen nicht verhandlungsfähig sei, verweigert. Im Termin vor dem Sozialgericht B. am 25.07.2006 war der Kläger hingegen sehr wohl – im Gegensatz zu dem staatsanwaltschaftlichen Verfahren – imstande, diese Ereignisse ohne jegliche gesundheitliche Beeinträchtigung zu beschreiben und zu schildern. Dies gelang ihm auch anlässlich der Antragstellung gegenüber dem Versorgungsamt. Bislang war der Kläger allerdings in anderen Verfahren außerhalb des Opferentschädigungsverfahrens nicht im Stande, hierüber auszusagen.

Der Kläger hat eingeräumt, dass auch seine Eltern trotz seiner Nachfrage etwaige Mißhandlungen nicht eingeräumt haben, sondern im Gegenteil sich hierzu nicht äußern konnten.

Auch die vom Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung am 25.07.2006 vorgelegten Fotos bestätigen die vom Kläger vorgetragenen Behauptungen nicht. Auf dem ersten Foto ist der Kläger mit seiner Mutter und seiner Großmutter anlässlich seiner Erstkommunion abgebildet. Dieses Foto ist in den Jahren 1963/1964 aufgenommen worden. Zu diesem Zeitpunkt hat der Kläger nach seinen Angaben massiv unter den Züchtigungen gelitten. Auf dem Foto sind aber weder am Gesicht, noch an den Händen oder an den Beinen, noch sonst wie äußerliche Verletzungen oder Narben bei dem Kläger zu erkennen. Auch auf dem zweiten Foto aus dem Jahr 1966/1967, auf dem der Kläger mit seinem Vater und seiner Stiefmutter, Frau Q., abgebildet ist, sind keine äußerlichen Verletzungen, Blutergüsse oder Narben am Körper des Klägers ersichtlich. Auch dieses Foto wurde unmittelbar nach der Entlassung des Klägers aus dem Kinderheim F. aufgenommen. Bei den vom Kläger vorgetragenen Mißhandlungen hätten Verletzungsfolgen auf den Fotos erkennbar sein müssen.

Auch die Erkrankung, an der der Kläger leidet, lässt nicht den Schluss zu, dass es zu einem Züchtigungsexzess oder anderen Gewalttaten gekommen sein muss. Der Kläger leidet unter einer generalisierten Angststörung mit Panikattacken und Hyperventilationssymptomen ggfs. Borderline-Struktur. Frühkindliche Traumatisierungen haben für die Entstehung solcher Störungen Bedeutung. Als Traumatisierung kommt insbesondere auch eine körperliche Mißhandlung in Betracht. Allerdings lässt sich aufgrund des klinischen Bildes nicht differenzieren, welche Form der Traumatisierung im Einzelnen vorgelegen hat. Auch gibt es kein spezifisches Krankheitsbild, welches sich infolge frühkindlicher Traumatisierung herausbildet. So gibt es keine kausale Beziehung zwischen körperlicher Mißhandlung und einer spezifischen Psychopathologie im Erwachsenenalter. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Traumatisierungen keine kausale Bedeutung für einzelne Krankheitsbilder haben können. Die Häufigkeit von kindlichen Traumatisierungen im Vorfeld der Entwicklung dissoziativer Störungen wird in der Literatur überwiegend mit Werten zwischen 60 % und 80 % angegeben, für dissoziative Identitätsstörungen werden auch Werte über 90 % angegeben. Dabei handelt es sich allerdings um statistische Angaben, welche für die Beurteilung des Einzelfalles nur begrenzte Bedeutung haben. Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass kindliche Traumatisierungen häufig für die spätere Entwicklung einer dissoziativen Störung ursächlich sind, dass aber nicht jede Traumatisierung zur Ausprägung einer dissoziativen oder anderen psychischen Störung führt und dass dissoziative Störungen auch auftreten können, ohne dass sich in der Vorgeschichte eine körperliche Mißhandlung oder eine andersartige Traumatisierung sichern lässt (vgl. Urteil des LSG T-I vom 00.00.2005, Aktenzeichen 00000). Danach spricht zwar eine statistische Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger Opfer kindlicher Traumatisierung geworden ist. Eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit lässt sich jedoch nicht feststellen. Zudem lässt das bei dem Kläger vorliegende Krankheitsbild keinen Rückschluss darauf zu, ob es sich bei der Traumatisierung gegebenenfalls um eine Vernachlässigung oder eine körperliche Mißhandlung oder einen sonstigen Missbrauch gehandelt hat. Erfahrungsgemäß stehen hohe Werte für Dissoziation eher mit einem pathogenen familiären Umfeld im Zusammenhang (vergl. auch t-i LSG vom 00.00.2005, Aktenzeichen 00000). Nach dem Eindruck, den die Kammer aus der Vernehmung des Klägers gewonnen hat, spricht jedenfalls einiges dafür, dass der Kläger in einem pathogenen "familiären Umfeld" aufgewachsen ist und unter diesen Verhältnissen in der Kindheit gelitten hat. Wo der Kläger im Alter von 0 – 3 Jahren gelebt hat, vermag er nicht mehr anzugeben. Von seinem dritten bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr lebte er in dem F. Kinderheim, danach für kurze Zeit bei seinem Vater und einer Stiefmutter, dann für kurze Zeit nach eigenen Angaben bei Zigeunern, dann bei Pflegeeltern und danach wieder in mehreren verschiedenen Heimen. Der Kläger hatte sich bereits zur damaligen Zeit von seinen Eltern völlig entfremdet. Er beschreibt beide Eltern als für ihn fremde Personen. Offensichtlich hatte er während seiner gesamten Kindheit und Jugendzeit keine einzige Bezugsperson, die ihm nahe stand.

Die Feststellungen zum Vorliegen einer körperlichen Mißhandlung oder eines Züchtigungsexzesses können auch nicht unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung aus § 15 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) getroffen werden. Nach dieser Vorschrift können der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde gelegt werden, wenn Unterlagen nicht vorhanden sind oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbleibenden verloren gegangen sind. Diese Vorschrift gilt gemäß § 6 Abs. 3 OEG auch für die Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz und nicht nur im Verwaltungsverfahren, sondern auch im Gerichtsverfahren. Sie hilft dem Kläger im vorliegenden Fall aber nicht. § 15 KOVVfG setzt voraus, dass der Antragsteller Angaben zu den entscheidungserheblichen Fragen aus eigenem Wissen machen kann. Der Kläger hat jedoch nach seinen Angaben nur zwei konkrete Schilderungen zu Angriffen getätigt, da die Ohrfeigen generell dem allgemeinen Züchtigungsrecht zuzuordnen sind. Diese Schilderungen sind teilweise in sich nicht nachvollziehbar und nicht glaubhaft. Der Kläger kann sich auch nur bruchstückhaft erinnern. Beispielsweise kann er nicht sagen, warum er damals in dem Badezimmer derart massiv verprügelt worden ist. Er weiß auch nicht mehr, zu welchem genauen Zeitpunkt dieses Ereignis stattfand. Viele Details fehlen auch bei der anderen Züchtigungsschilderung hinsichtlich der Bambusstockschläge von den übrigen Kindern. Im übrigen belegt der Befundbericht von Dr. X., dass der Kläger selbst seinem behandelnden Neurologen und Psychiater viele Jahre nichts von den angeblichen Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend, insbesondere Züchtigungsexzessen im Kinderheim berichtet hat. Vielmehr hat der Kläger lediglich in der Eingangsuntersuchung erwähnt, dass er zwanzig Jahre im Heim gewesen sei. Die geschilderten Mißhandlungen seien von ihm erst später im Jahr 2001 angesprochen worden, nachdem er mit I. T. über die Ereignisse gesprochen und diese gegen den Träger des Kinderheims aktiv geworden war. Offensichtlich war der Kläger sich bis dahin nicht bewusst oder sicher, ob seine Erkrankungen im Zusammenhang mit den Erlebnissen im F. Kinderheim stehen bzw. wie schwerwiegend die Erlebnisse waren. Symptome einer posttraumatischen Störung hat der Kläger in den zurückliegenden Jahren nicht geschildert. Nach Würdigung aller Zeugenaussagen und Angaben der sonstigen Beteiligten auch in den beigezogenen Akten verbleiben ernsthafte Zweifel an Züchtigungsexzessen an dem Kläger, die zu psychischen Störungen geführt haben könnten. Es liegt auch kein Grund vor, ausnahmsweise eine Beweiserleichterung einzuräumen, wonach es ausreichend wäre, die mit der Schädigung zusammenhängenden Tatsachen lediglich glaubhaft zu machen. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun der guten Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Das Bundessozialgericht hat in einem Ausnahmefall eine solche Beweiserleichterung aus den Besonderheiten des Kriegsopferverfahrensrechtes und des Kriegsopferrechtes hergeleitet. Hierbei war seinerzeit ausschlaggebend, dass neben einem Fall extremer Beweisnot die Beweislage zusätzlich noch dadurch beeinträchtigt war, dass die Sachverhaltsermittlungen in der Hand von Institutionen lagen, die nicht rechtsstaatlich arbeiteten und teilweise zum Umfeld der mutmaßlichen Täter gehörten. Hierin hat das Bundessozialgericht eine strukturelle Beweisnot gesehen, die im Kriegsopfer- bzw. Kriegsopferverfahrensrecht nicht hinreichend Berücksichtigung gefunden hat (vgl. BSG SozR 3-3900 § 15 Nr. 2).

Eine vergleichbare Konstellation liegt hier offensichtlich nicht vor. Die vorliegende Beweisnot geht darauf zurück, dass viele Augenzeugen verstorben sind und medizinische Unterlagen aus früheren Jahren nicht mehr vorliegen. Dies ist nicht zuletzt auch darauf zurück zu führen, dass die psychischen Schäden erstmals im Jahre 1984 – fast 20 Jahre nach dem behaupteten Geschehen – im Rahmen eines Antrages auf Feststellung des Grades der Behinderung geltend gemacht wurden. Der Antrag auf Opferentschädigung wurde erst im Januar 2003, das heißt rund 40 Jahre nach dem behaupteten Geschehen gestellt. Wer aber Jahrzehnte verstreichen lässt, bevor er einen Antrag auf Versorgung stellt, hat auch die Folgen der durch Zeitablauf bedingten Beweisnot zu tragen (vgl. BSG SozR 3 – 3100 § 5 Nr. 2). Eine frühere Antragstellung hätte die hier eingetretene Beweisnot wahrscheinlich mindern können.

Nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast, wonach die Folgen der Beweislosigkeit einer Tatsache von jenem Beteiligten zu tragen sind, der hieraus ein Recht herleiten will (vgl. ständige Rechtsprechung BSG SozR 3 – 3900 § 15 Nr. 2), war daher zu Lasten des Klägers zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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