L 11 B 629/06 AS ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 16 AS 301/06 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 B 629/06 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 20.07.2006 aufgehoben und der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt.
II. Außergerichtliche Kosten beider Rechtszüge sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist, ob der Antragsteller (ASt) Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch -SGB II- (Arbeitslosengeld II - Alg II) hat.

Der ASt befand sich vom 25.05.2003 bis 24.05.2006 in Strafhaft, zuletzt in der JVA W ... Einen anderweitigen gewöhnlichen Aufenthalt oder Wohnsitz hatte er - soweit dies den vorliegenden Unterlagen zu entnehmen ist - nicht mehr. Seit 24.05.2006 nahm der ASt für vier Monate an einer Heilbehandlungsmaßnahme - Kostenträger: Deutsche Rentenversicherung - teil.

Am 22.05.2006 stellte er bei der Antragsgegnerin (Ag) Antrag auf Alg II. Diese lehnte mit Bescheid vom 28.06.2006 den Antrag ab. Sie sei örtlich nicht zuständig, denn der ASt habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in ihrem Bezirk. Sie sei auch sachlich nicht zuständig, denn der ASt sei unter Berücksichtigung des Aufenthalts in der JVA für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht. Es seien auch keine vorläufigen Leistungen i.S. des § 43 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) zu erbringen, denn der ASt habe gleichzeitig Anträge an die Ag wie auch an die Sozialverwaltung des Bezirks Oberfranken und die zuständige Agentur für Arbeit gestellt. Hiergegen legte der ASt Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden ist.

Gleichzeitig hat er beim Sozialgericht Würzburg (SG) den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung dahingehend gestellt, die Ag, hilfweise den Bezirk Oberfranken zu verpflichten, Leistungen nach dem SGB II bzw. nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu bewilligen. Er habe parallel Leistungen bei der Ag wie auch beim Bezirk Oberfranken beantragt und nach deren Zuständigkeitsstreitigkeiten vorläufige Leistungen von der Ag gefordert. Sein Aufenthalt bei der Heilbehandlung neige sich dem Ende zu und er müsse sich als Wohnsitzloser um die Anmietung einer Wohnung kümmern. Mit Beschluss vom 20.07.2006 hat das SG Würzburg die Ag verpflichtet, dem ASt vorläufige Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 20 v.H. des Regelsatzes zu bewilligen. Der ASt habe jedenfalls einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung seines sozio-kulturellen Existenzminimums, so dass entweder die Ag, die ARGE N. oder der Bezirk Oberfranken für eine Leistung zuständig sei. Nachdem der ASt vor der Haft seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich der Ag gehabt habe, sei diese weiter zuständig. Sie sei auch sachlich zuständig, denn die Zeit der Inhaftierung dürfe nicht zu der Zeit der Reha-Maßnahme addiert werden.

Hiergegen hat die Ag Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Die Zeiten der Inhaftierung und der Heilbehandlung, die nahtlos an die Haft angeschlossen habe, seien zusammenzurechnen. Dem Kläger stünde somit gemäß § 7 Abs 4 SGB II kein Alg II zu. Auf den Rechtsgrund des Aufenthaltes in der jeweiligen Einrichtung sei dabei nicht abzustellen. Nachdem ein Anspruch auf Alg II nicht bestehe, handele es sich auch nicht um eine bloßen Zuständigkeitsstreit, so dass sie auch keine vorläufige Leistungen zu erbringen habe. Zuletzt sei sie auch örtlich nicht zuständig, denn der ASt habe in ihrem Zuständigkeitsbereich keinen gewöhnlichen Aufenthalt mehr.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Akte der Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist zulässig. Das SG hat ihr nicht abgeholfen (§ 174 SGG). Das Rechtsmittel erweist sich auch als begründet.

Rechtsgrundlage für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis stellt im vorliegenden Rechtstreit § 86b Abs 2 Satz 2 SGG dar.

Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn dem ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1988 BVerfGE 79, 69/74, vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166/179 und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; Niesel, Der Sozialgerichtsprozess, 4. Aufl. RdNr 643).

Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den er sein Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat der ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG iVm § 920 Abs 2, § 294 Zivilprozessordnung -ZPO-; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 8.Aufl, § 86b RdNr 41).

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des ASt zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 aaO und vom 22.11.2002 aaO).

Vorliegend fehlt es bereits an einem Anordnungsanspruch gegenüber der Ag. Diese ist nämlich - soweit eine Leistung von Alg II überhaupt in Betracht kommt - nicht örtlich zuständiger Leistungsträger gemäß § 36 SGB II. Hiernach ist für Leistungen der Grundsicherung nach § 6 Abs 1 Nr 1 SGB II die ARGE zuständig, in deren Bezirk der erwerbsfähige Hilfebedürftige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Nachdem - soweit aus den vorliegenden Akten entnehmbar - der ASt im Bezirk der Ag keinen Wohnsitz und keinen Aufenthalt hatte, vielmehr zuletzt in der JVA W. untergebracht war und sich auch nunmehr bei seinem Aufenthalt in der S.klinik im Zuständigkeitsbereich einer anderen ARGE tatsächlich aufhält, liegt der Schwerpunkt seiner persönlichen Lebensverhältnisse auf jeden Fall außerhalb des Bereiches der Ag. Auch eine vorläufige Leistungspflicht der Ag gemäß § 43 SGB I besteht nicht. Der ASt will Leistungen entweder von der Ag oder vom Bezirk Oberfranken. Die Ag hat die Leistungen nicht allein wegen Fehlens der örtlichen Zuständigkeit, sondern auch wegen Fehlens der Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alg II abgelehnt. Nach ihrer Auffassung sind nämlich die Voraussetzungen des § 7 Abs 4 SGB II erfüllt, so dass dem ASt kein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß dem SGB II zusteht. Beim Bezirk Oberfranken hingegen handelt es sich um einen überörtlichen Träger der Sozialhilfe. Für die Sozialhilfe selbst ist jedoch der örtliche Träger der Sozialhilfe zuständig (§ 97 Abs 1 Satz 1 SGB XII).

Nachdem sich der Hauptantrag jedenfalls gegen den örtlich unzuständigen Leistungsträger richtet und der Hilfsantrag an den sachlich unzuständigen Leistungsträger gerichtet ist, kommt eine vorläufige Leistungsgewährung gemäß § 43 SGB I nicht in Betracht, denn keiner der beiden angegangenen Leistungsträger ist für die vom Kläger gewünschten Leistungen zuständig. Der Beschluss des SG Würzburg ist daher aufzuheben, wobei offen gelassen werden kann, ob hinsichtlich des § 7 Abs 4 SGB II auf den Rechtsgrund des Aufenthaltes in der jeweiligen Einrichtung abzustellen ist. Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist abzulehnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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