L 19 B 743/05 R ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 14 R 4375/05 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 B 743/05 R ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 16.11.2005 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist, ob die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 86b Abs 1 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) anzuordnen ist.

Die 1940 geborene Antragstellerin (ASt) schuldet der Allgemeinen Ortskrankenkasse Bayern (AOK) für die Zeit vom 01.04.2004 bis 30.06.2004 Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung für von ihr beschäftigte Arbeitnehmer in Höhe von ursprünglich 2.435,40 EUR. Wegen Zahlungsunfähigkeit ordnete das Amtsgericht S. - Insolvenzgericht - mit Beschluss vom 27.04.2004 zunächst vorläufige Insolvenzverwaltung an und eröffnete mit Beschluss vom 01.07.2004 über das Vermögen der ASt das Insolvenzverfahren.

Am 10.01.2005 beantragte die ASt bei der Antragsgegnerin (Ag) Altersrente für langjährig Versicherte. Mit Bescheid vom 31.05.2005 gewährte die Ag ab 01.11.2004 die beantragte Rente als vorläufige Leistung in Höhe von 339,39 EUR monatlich abzüglich der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung. Für die Zeit vom 01.11.2004 bis 31.05.2005 leistete die Beklagte eine Rentennachzahlung in Höhe von 2.165,35 EUR. Wegen der ausstehenden Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung ermächtigte die AOK die Ag zur Verrechnung. Diese gab der ASt Gelegenheit zur Äußerung und nahm mit Bescheid vom 12.07.2005 die Verrechnung mit der Hälfte der Rentennachzahlung und der laufenden Rentenzahlung vor.

Im anschließenden Widerspruchsverfahren verwies die ASt darauf, dass genügend Insolvenzmasse vorhanden sei, aus der die AOK befriedigt werden könne. Im Übrigen dürfe nicht verrechnet werden, denn die Beiträge seien erst nach Insolvenzeröffnung fällig geworden. Sie selbst könne aufgrund einer Restschuldbefreiung nicht mehr in Anspruch genommen werden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19.09.2005 wies die Ag den Widerspruch zurück. Das Insolvenzverfahren habe keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Verrechnung, da diese lediglich die über § 850c Zivilprozessordnung (ZPO) hinausgehenden Rentenbeiträge erfasse. Die Verrechnung in Höhe der Hälfte der Monatsrente sei angemessen, zumal Hilfebedürftigkeit durch die ASt nicht nachgewiesen worden sei.

Dagegen hat die ASt am 21.10.2005 Klage zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhoben und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage beantragt. Zur Begründung hat sie ergänzend vorgetragen: Bei den Forderungen handle es sich um Sozialversicherungsbeiträge für ihre Mitarbeiter die Monate April 2004 bis Juni 2004 betreffend, also für eine Zeit nach Eröffnung des vorläufigen Insolvenzverfahrens mit dem entsprechenden Verfügungsverbot. Sie habe für die genannten Monate keine Arbeitsentgelte mehr ausbezahlt. Dies sei durch den Insolvenzverwalter geschehen. Warum dieser Sozialversicherungsbeiträge nicht abgeführt habe, sei ihr unbekannt. Die Forderung der AOK sei eine normale Insolvenzforderung, die zur Insolvenztabelle angemeldet worden sei.

Die Ag hielt die Voraussetzungen für die begehrte Anordnung nicht für gegeben.

Mit Beschluss vom 16.11.2005 hat das SG den Antrag abgelehnt. Es bestünden keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 12.07.2005 / Widerspruchsbescheides vom 19.09.2005. Die Schuldnereigenschaft der ASt werde nicht dadurch beseitigt, dass seit dem 27.04.2004 ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt worden sei. Nach § 51 Abs 2 Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil (SGB I) sei nicht auf die Pfändungsfreigrenze der ZPO abzustellen. Maßgebend sei allein, ob der Betroffene durch die Verrechnung hilfebedürftig i.S. der Vorschriften des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch (SGB XII) über die Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) werde. Im Hinblick darauf, dass das Insolvenzverfahren am 01.07.2004 eröffnet worden sei, seien die Forderungen der AOK zu diesem Zeitpunkt zumindest überwiegend fällig gewesen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei die Verrechnung auch im Insolvenzverfahren möglich. Spätestens bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens habe ein Anspruch der ASt auf Rente dem Grunde nach bestanden. Auch eine erst im eröffneten Insolvenzverfahren erfolgende Ermächtigung stelle einen aufrechnungsunschädlichen Forderungserwerb dar. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens lasse eine künftige Aufrechnungslage bestehen, wenn die Forderung des Verrechnungsgläubigers vor der Forderung des Schuldners fällig geworden sei. Dies sei vorliegend der Fall. Da die von der AOK als Verrechnungsgläubigerin geforderten Sozialversicherungsbeiträge aus einem Zeitraum vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 01.07.2004 stammten, bestünden bei summarischer Prüfung keine wesentlichen Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Verwaltungsakte.

Gegen diesen Beschluss hat die ASt Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Die AOK besitze einen ungerechtfertigten Vorteil gegenüber allen anderen Gläubigern, wenn sie ein Zugriffs- und Verwertungsrecht durch Verrechnung erhalte. Im Übrigen gehe es vorliegend - anders als in dem vom BSG entschiedenen Fall - um eine Verrechnung zwischen Pfändungsfrei- grenze und Hilfebedürftigkeit. Das SG hat der Bescherde nicht abgeholfen.

Die ASt beantragt, den Beschluss des SG Würzburg vom 16.11.2005 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage vom 21.10.2005 gegen den Bescheid vom 12.07.2005 / Widerspruchsbescheid vom 19.09.2005 anzuordnen.

Die Ag beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Das Insolvenzverfahren entfalte auf die vorzunehmende Verrechnung keine unmittelbaren Auswirkungen, da im Insolvenzverfahren lediglich die Beiträge erfasst würden, welche im Rahmen des § 850c ZPO pfändbar seien. Vorliegend seien im Hinblick auf die geringe Altersrente der ASt keine Beträge pfändbar. Die Verrechnung könne ohne Beteiligung des Insolvenzverwalters auch während des Insolvenzverfahrens begonnen werden, da im Rahmen des § 52 SGB I i.V.m. § 51 Abs 2 SGB I gegen laufende Rentenleistungen bis zu deren Hälfte aufgerechnet werden könne, soweit der Rentenempfänger dadurch nicht hilfebedürftig werde. Trotz Aufforderung habe die ASt bislang das Vorliegen von Sozialhilfebedürftigkeit im Falle der Verrechnung nicht nachweisen können.

II.

Die Beschwerde der ASt ist zulässig (§§ 172, 173 SGG). Ihr wurde nicht abgeholfen (§ 174 SGG).

Sie ist jedoch nicht begründet.

Über die Beschwerde konnte der Vorsitzende des Senats wegen Dringlichkeit anstelle des Senats entscheiden (§ 155 Abs 2 SGG).

Der angefochtene Beschluss ist nicht zu beanstanden, denn das SG hat den Antrag der ASt auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage zu Recht abgelehnt.

Zutreffend ist das SG davon ausgegangen, dass die gegen den Bescheid vom 12.07.2005 / Widerspruchsbescheid vom 19.09.2005 am 21.10.2005 erhobene Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung hat.

Nach § 86a Abs 2 Nrn 1, 3 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie der Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Angaben einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten (Nr 1), für die Anfechtungsklage in Angelegenheiten der Sozialversicherung bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung herabsetzen oder entziehen (Nr 3). Das Gericht der Hauptsache kann allerdings auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (§ 86b Abs 1 Nr 2 SGG).

Dem Gesetz ist in den Fällen des § 86a Abs 2 Nrn 1-4 SGG ein Regel-Ausnahmeverhältnis zugunsten des Suspensiveffektes zu entnehmen, da der Gesetzgeber die sofortige Vollziehung grundsätzlich angeordnet hat. Davon abzuweichen besteht nur Anlass, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt Belasteteten feststellbar ist. In den Fällen des § 86a Abs 2 Nr 1 SGG ist § 86a Abs 3 Satz 2 SGG heranzuziehen und zu prüfen, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen. Im Übrigen wird ausgesetzt, wenn der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig ist, weil dann ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Vollziehung nicht mehr erkennbar ist. Sind die Erfolgsaussichten nicht abschätzbar, ist eine allgemeine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei die Aussichten des Hauptsacheverfahrens mit berücksichtigt werden können. Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten, insbesondere eine unbillige Härte, sind zu beachten. Eine solche liegt vor, wenn dem Betroffenen durch die Vollziehung Nachteile entstehen, die über die eigentliche Zahlung hinausgehen und nicht oder nur schwer wieder gutgemacht werden können. Der ASt muss insoweit konkrete Angaben machen (zum Ganzen vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8.Auflage, § 86b Rdnr 12 ff, § 86a Rdnr 27; Krodel NZS 2001, 449 ff).

Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt, dass das SG die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu Recht abgelehnt hat, denn der Verrechnungsbescheid vom 12.07.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.09.2005 ist weder offenbar rechtswidrig noch bestehen an seiner Rechtmäßigkeit ernstliche Zweifel.

Mit Urteil vom 10.12.2003 - B 5 RJ 18/03 R - hat das BSG entschieden, dass eine Verrechnung nach § 52 SGB I auch im Insolvenzverfahren wirksam erfolgen kann. Zwar sehe § 114 Abs 2 Insolvenzordnung (InsO) nach seinem Wortlaut lediglich eine Aufrechnung eines Verpflichteten mit Bezügen des Schuldners vor. § 114 Abs 2 InsO beziehe sich aber auch auf die Verrechnung nach § 52 SGB I, weil der Gesetzgeber einen weiten Aufrechnungsbegriff zugrunde lege, der auch Drittaufrechnungen (Verrechnungen) umfasse.

Zutreffend hat die ASt zwar eingewandt, dass in dem vom BSG entschiedenen Fall ein Rentenversicherungsträger nur den pfändbaren Teil der Rente mit dem Anspruch der Krankenkasse auf Beiträge für Mitarbeiter des Berechtigten verrechnet habe. Dies schließt aber nicht aus, dass - wie im Fall der ASt - die Verrechnung über die Pfändungsgrenze des § 850c ZPO bis zur Hälfte der laufenden Sozialleistungen hinausgehen darf. Denn kraft ausdrücklicher gesetzlicher Regelung (§§ 52, 51 Abs 2 SGB I) ist bei Beitragsforderungen eine Verrechnung bis zur Hälfte der Geldleistung zulässig, es sei denn der Betroffene weist nach, dass er dadurch hilfebedürftig i.S. der Vorschriften des SGB XII / SGB II wird. Einen derartigen Nachweis hat die ASt jedoch nicht erbracht.

Zwar mag es zutreffen, dass bei Insolvenzverfahren, die auf Antrag des Schuldners eröffnet werden, die Restschuldbefreiung regelmäßig das einzige Ziel darstellt (Fischer, ZVI 2004, 414-416). Die Verrechnung steht einer Restschuldbefreiung grundsätzlich jedoch nicht entgegen.

Mit Beschluss vom 14.07.2005 hat das Insolvenzgericht der ASt Restschuldbefreiung in Aussicht gestellt, wenn sie für die Zeit von sechs Jahren nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens (01.07.2004) eine Reihe von Obliegenheiten erfüllt. Die Restschuldbefreiung kann auf Antrag eines Insolvenzgläubigers auch noch versagt werden. Nach § 114 Abs 2 i.V.m. Abs 1 InsO kann der zur Verrechnung ermächtigte Leistungsträger ohnehin nur für einen Zeitraum von lediglich zwei Jahren nach dem Ende des zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens laufenden Kalendermonats aufrechnen. Hintergrund dieser Regelung ist, dass das pfändungsfreie Vermögen des Schuldners der Insolvenzmasse als Neuerwerb zur Verfügung steht und insbesondere auch noch nach Beendigung des Insolvenzverfahrens zum Zweck der Restschuldbefreiung an die Insolvenzgläubiger verteilt werden soll (Peters-Lange, Sozialrecht in der Insolvenz 2005 Rdnr 288 unter Hinw. auf Berscheid in Uhlenbruck, InsO, § 114 Rdnr 3).

In der Literatur wurde darauf hingewiesen, dass Schuldner von Sozialleistungsträgern im Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren zu solchen "zweiter Klasse" würden. Schuldnern, bei denen keine Aufrechnungslage gegeben sei, verbliebe im Insolvenzverfahren und Restschuldbefreiungsverfahren der pfändbare Teil des Einkommens nach der Tabelle zu § 850c ZPO. Der andere Teil der Schuldner, bei denen eine Verrechnungslage nach dem SGB I gegeben sei, müsse damit rechnen, dass der Sozialleistungsträger von der Verrechnung mit der Folge Gebrauch mache, dass ihnen für die Dauer von zwei Jahren nach Insolvenzeröffnung die Sozialleistungen nur noch in Höhe des Sozialhilfesatzes blieben (Fischer aaO, Windel KTS 2004, 563-567).

Diese Bedenken können angesichts der Entscheidung des BSG vom 10.12.2003 nicht zu erheblichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Verrechnung führen. Es fehlen nämlich hinreichende Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber in der InsO zur Frage der Verrechnung Änderungen gegenüber der Konkursordnung vornehmen wollte. Auch fehlen überzeugende Gründe, Verrechnungen aufgrund des Gesetzes ungünstiger zu behandeln als Verrechnungen aufgrund einer Vereinbarung (Gagel, EWiR 2004, 927-928).

Allerdings hat der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 17.07.2004 - IX ZR 224/03 - Konzernverrechnungsklauseln in rechtsähnlicher Anwendung des § 96 Abs 1 Nrn 1, 2 InsO die Wirksamkeit im Insolvenzverfahren abgesprochen. Trotz eines insoweit vorhandenen Gegensatzes zur Rechtsprechung des BSG ist jedenfalls für das Anordnungsverfahren weiterhin von der Rechtsprechung des BSG auszugehen, die bislang keine Änderung erfahren hat.

Eine unbillige Härte hat die ASt nicht nachvollziehbar vorgetragen.

Die Beschwerde gegen den Beschluss des SG Würzburg vom 16.11.2005 war somit zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist endgültig (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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