Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 5 U 266/00
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 6 U 81/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 29/05 R
Datum
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 17.04.2003 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Im Übrigen haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten. IV. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der am ...1934 geborene Kläger half am 18.07.1940 zusammen mit seinen Ge-schwistern auf dem Bauerhof des Bauern S ... in B ... (B ...) im Kreis J ... (K ...) im ehemaligen Sudetenland, Stroh und Klee in eine Häckselmaschine zu füllen. Als der Bauer nach dem Abschalten der Maschine den Raum verließ, versuchte er mit der rechten Hand, durch sein Eingreifen in die Zahnräder die Maschine anzuhalten. Dabei kam er durch das Ineinandergeraten der Zahnräder mit der Hand hinein und erlitt schwere Quetschungen und Knochensplitterungen. Nach Angaben des Klägers wurde der Bauer wegen Verletzung der Aufsichtspflicht in einem Strafverfahren dazu verurteilt, ihm bei Erreichen der Volljährig-keit eine Geldsumme auszuzahlen. Hierzu sei es jedoch nicht gekommen. Die noch vorhandenen Verletzungen wurden im von der Beklagten in Auftrag gegebenen Gutachten des Prof. Z1 ... vom 13.11.1999 wie folgt bezeichnet.
1. Digitus II mit vollständiger Endgliedamputation und Teilamputation der Mittelpha-lanx, multiple Narbenformationen mit kontraktem Narbenzug ulnarseitig sowie in-stabilen Narbenverhältnissen im Stumpfbereich. Diskrete Einschränkung der Be-weglichkeit im proximalen Interphalangealgelenk (O-10-90°).
2. Digitus III: Erblich deformiert und verplumpt bei fehlender Mittelphalanx und da-mit Verlust des distalen Interphalangealgelenkes. Multiple Narbenformationen beuge- und streckseitig mit kontrakt längs verlaufendem Narbenzug beugeseitig mit dadurch bedingter Deviation des funktionslosen PIII-Segmentes nach palmar. Komplette Hyp- bis Anästhesie im Stumpfbereich.
3. Digitus IV: Vollständiger Bewegungsverlust im distalen Interphalangealgelenk mit einer fixierten Flexionsstellung in 45°. Nageldeformität. Kontrakter ulnarseitig ver-laufender Narbenzug in Höhe des PIP-Gelenkes. Hypästhesie im Bereich der Fin-gerbeere.
4. Digitus V: Beugeseitig Y-förmig verlaufender Narbenzug mit Radialdeviation des Langfingers von 10°.
5. Einschränkung der Palmarflexion im rechten Handgelenk von ca. 15° sowie der Ulnarduktion von ca. 10° rechts im Vergleich zur gesunden linken Seite.
6. Streckung in allen Langfingern um ca. 1 cm geringer als links.
7. Daumenopposition um ca. 25° und Daumenabduktion um ca. 15° im Vergleich zur gesunden Seite an der linken Seite eingeschränkt.
8. Erhebliche Kraftminderung im Bereich der rechten Hand mit entsprechender Ein-schränkung der Funktionstests.
Anlass für die Einholung des Gutachtens war ein Antrag, den der Kläger bei der Beklagten auf Entschädigung der Unfallfolgen als Arbeitsunfall gestellt hatte. In diesem Gutachten wurde die verletzungsbedingte MdE auf 25 % eingeschätzt.
Mit Bescheid vom 25.07.2000 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sein Unfall vom 18.07.1940 "nicht als Arbeitsunfall gemäß § 220 Abs. 1 Arbeitsgesetzbuch (AGB) der e-hemaligen DDR anerkannt" werde. Es bestünden daher keine Entschädigungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Es sei zu prüfen gewesen, ob nach dem Recht der DDR der Unfall vom 18.07.1940 die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalles erfülle, da der Kläger im Jahre 1946 in das Gebiet der DDR gezogen sei. Nach den Rechtsvorschriften der DDR sei der Unfall jedoch kein Arbeitsunfall gewesen, weil in der DDR ein gesetzliches Verbot von Kinderarbeit bestan-den habe. Im Sudetenland habe im Übrigen auch für in der Landwirtschaft tätige Kinder keine Rentenversicherung bestanden. Die frühere Sudetendeutsche Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft habe daher auch keine Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfall ausgesprochen.
Dem widersprach der Kläger mit Schreiben vom 01.08.2000. Nach seiner Auffassung sei nicht nach DDR-Recht zu entscheiden. Rechtsnachfolger Deutschlands in den Grenzen von 1938 sei die Bundesrepublik Deutschland, und durch diesen Staat, dem er angehöre, möch-te er zu seinem Recht kommen.
Der Widerspruch wurde mit Bescheid vom 31.10.2000 als unbegründet zurückgewiesen.
Auf die dagegen erhobene Klage zum Sozialgericht Dresden, welches die Sächsische Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft gemäß § 75 Abs. 2 SGG beigeladen hat, wurde den Beteiligten mitgeteilt, dass zum Zeitpunkt des Unfalls im Sudetenland deutsches Recht gegolten habe und dort auch angewandt worden sei. Nach § 539 Abs. 1 und 2 RVO hätten auch Kinder in einem Arbeits- oder Dienstverhältnis oder wie ein Versicherter tätig werden können. Vorliegend sei nicht davon auszugehen, dass der Kläger auf dem Bauernhof etwa nur herumspielte oder ohne Erlaubnis des Bauern mitgeholfen hätte. Vielmehr sei er nach Aktenlage tätig gewesen, um etwas zu essen zu bekommen. Der Kläger hatte glaubhaft gemacht, dass die Kinder auf dem besagten Bauernhof nicht nur Futter gehäckselt, sondern auch zusammengetragen und im Übrigen Rüben verzogen, ge-hackt oder abgeladen häten. Es seien ihnen sämtliche Tätigkeiten übertragen worden, die nach ihren körperlichen Fähigkeiten bereits möglich gewesen seien. Als Lohn sei täglich eine so genannte "schöne lange Quarkschnitte" fällig gewesen, zusätzlich 1 Liter Butter-milch, nach Schlachtfesten Wurstbrühe und eventuell ein paar Stücke Wellfleisch. Ab und zu seien außerdem ein paar Pfennige als Geldlohn gezahlt worden.
Mit Urteil vom 17.04.2003 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, den Unfall vom 18.07.1940 als Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Kläger am dem 01.10.1996 (Antragstellung) eine Verletztenrente nach einer MdE von 25 Prozent zu gewähren. Der Anspruch richte sich nach dem FRG. Nach § 5 Abs. 1 Ziff. 1 FRG werde nach den für die gesetzliche Unfallver-sicherung maßgebenden bundesrechtlichen Vorschriften auch ein außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland eingetretener Arbeitsunfall entschädigt, wenn der Ver-letzte im Zeitpunkt des Unfalls bei einem deutschen Träger der gesetzlichen Rentenversi-cherung versichert war. Das Sudetenland sei zum damaligen Zeitpunkt zum Bestandteil des Deutschen Reiches erklärt worden, die RVO sei mit Wirkung vom 01.10.1938 auf die sudetendeutschen Ge-biete übergeleitet worden. Für die Feststellung und Gewährung von Leistungen sei daher nach § 9 Abs. 2 FRG die Beklagte zuständig. Der Unfall sei auch ein Arbeitsunfall. Der Kläger habe zum Zeitpunkt des Unfalls eine versicherte Tätigkeit im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO ausgeübt, er sei nämlich auf Grund eines Arbeitsunfalles auf dem Bauernhof beschäftigt gewesen. Er habe nicht aus bloßem Spieltrieb gehandelt, sondern den Auftrag gehabt, Stroh und Klee zu häckseln. Die Verletztenrente sei nach einer MdE von 25 Prozent zu zahlen, dies ergebe sich aus dem Gutachten von Prof. Z1 ..., der Befund entspreche vom Funktionsverlust her etwa dem Verlust des Mittel- und Ringfingers, wofür auch eine MdE von 25 Prozent vorgesehen sei.
Gegen das der Beklagten am 12.05.2003 zugestellte Urteil richtet sich die am 10. Juni 2003 beim Sächsischen LSG eingegangene Berufung. Sie wird damit begründet, dass sich der Anspruch des Klägers nicht nach dem Fremdrentengesetz richte. Das FRG sei in dem Beitrittsgebiet erst am 01.01.1992 in Kraft getreten, der Kläger sei in dieses Gebiet jedoch schon im Jahre 1946 zugezogen. Ansprüche auf Entschädigungsleistungen seien somit im vorliegenden Fall ausschließlich nach dem Rentenüberleitungsgesetz (§ 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO in Verbindung mit dem Recht der DDR) möglich.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 17.04.2003 aufzuheben und die Klage ab-zuweisen, hilfsweise festzustellen, dass die Beigeladene entschädigungspflichtig ist.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 17.04.2003 zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen, die Beklag-tenakte und die beigezogene Akte des Sozialgerichts Oldenburg – S 7 U 319/00 – Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Unfall vom 18.07.1940 als Arbeitsunfall angesehen und Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zugesprochen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist ein Fall des Fremdrentengesetzes gegeben. Die Auffassung der Beklagten, dass das Fremdrentengesetz nur Anwendung findet für Perso-nen, die ihren Wohnsitz in den alten Bundesländern haben und den Antrag bis zum 19.05.1990 gestellt haben oder nach dem 01.01.1992 in die Bundesrepublik zugezogen sind, findet im Gesetz keine Stütze. Der Stichtag "18.05.1990" stammt aus Artikel 2 § 1 des Rentenüberleitungsgesetzes (RÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl. I, 1606, 1664) und hat keine Bedeutung für das mit dem gleichen Gesetz (Artikel 35 RÜG, BGBl. 1991 I, 1705) auf das Beitrittsgebiet übergeleitete Fremdrentengesetz (FRG) in der Fassung der Ände-rung aus Artikel 14 RÜG (BGBl. 1991, I, 1692). Im Einigungsvertrag war vorgesehen, dass das FRG wie auch das Fremdrenten- und Aus-landsrentenneuregelungsgesetz (FANG) von dem Inkrafttreten des Bundesrechts im Bei-trittsgebiet gemäß Artikel 8 des Vertrages zunächst ausgenommen waren (EinigVertr An-lage I Kapitel VIII Sachgebiet H Abschnitt 1 Nr. 17 und 19). Dies war erforderlich, weil als "Fremdrenten" bis dahin auch DDR-Renten gegolten hatten und insofern erst die ent-sprechende Anpassung durch das Rentenüberleitungsgesetz erfolgen musste. Eine der we-sentlichen Änderungen in diesem Zusammenhang ist die Ersetzung der Worte "Geltungs-bereich des Gesetzes" (gemeint war damit die alte Bundesrepublik) durch "Bundesrepublik Deutschland (vgl. Artikel 14 RÜG). Hierdurch wurde das Beitrittsgebiet vom faktischen Ausland zum faktischen Inland. Aus dem Inkrafttreten zum 01.01.1992 (Artikel 42 RÜG, BGBl. 1991, I, 1707) darf nun aber nicht geschlossen werden, dass nur Neuzuzüge aus dem Ausland ab dem 01.01.1992 überhaupt nach dem FRG berücksichtigt werden (so aber die Berufungsbegründung der Beklagten). Diese Auffassung beruht offenbar aus einem Missverständnis des § 2 des Fremdrenten- und Auslandsrentenneuregelungsgesetzes (FANG) in der Fassung des RÜG (BGBl. 1991, I, 1696), wonach die Anwendbarkeit der Regel über die Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes (§ 8 FRG alt oder neu) von diesem Stichtag abhängt.
Zutreffend ist aber, dass für das Beitrittsgebiet der § 3 FANG, welcher ebenfalls zum 01.01.1992 in Kraft getreten ist, Bedeutung hat. § 3 FANG lautet: "§§ 1 bis 13 des Fremd-rentengesetzes finden auf Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der in § 5 des Fremdren-tengesetzes genannten Art auch dann Anwendung, wenn auf diese Fälle das Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz nicht angewendet worden ist. Das FAG vom 07.08.1953 (BGBl. I Seite 848) wäre auf den Fall des Klägers nämlich schon deswegen nicht anwend-bar gewesen, da er aus dem Sudetenland nicht in das Bundesgebiet oder das Land Berlin übergesiedelt ist (vgl. § 1 Abs. 2 d, cc FAG). Auch der offizielle Titel jenes Gesetzes macht deutlich, dass dieses Vorläufergesetz zum FRG Leistungen an Bewohner des Bei-trittsgebietes ausschließt ("Gesetz über Fremdrenten der Sozialversicherung an Berechtigte im Bundesgebiet und im Land Berlin, über Leistungen der Sozialversicherung an Berech-tigte im Ausland sowie über freiwillige Sozialversicherung").
Der Senat teilt nicht die Auffassung der Beklagten, wonach bei Verletzten mit Wohnsitz im Beitrittsgebiet, deren noch in den ehemaligen deutschen Ostgebieten vor Kriegsende erlittenen Arbeitsunfälle von der Sozialversicherung der DDR nicht entschädigt worden sind (vgl. HVBG Rdschr Ausland 29/92, Bekl.-Akte Bl. 94), § 1156 Abs. 3 RVO entspre-chend anzuwenden ist. § 1156 Abs. 3 RVO spricht ausdrücklich von der "Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet", der Anwendungsbereich betrifft also Fälle von Ü-bersiedlern aus der BRD (alt) in die DDR. Nach keiner Diktion gehören Schlesien, Ost-preußen und das Sudetenland zu der "Bundesrepublik ohne das Beitrittsgebiet", auch wenn sie Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches geworden ist. Eine entsprechende Anwen-dung ist gleichfalls nicht indiziert, da von Wortlaut und ratio legis her in solchen Fällen das Fremdrentengesetz einschlägig ist.
Zu Recht hat das Sozialgericht die Vorschrift des § 5 Nr. 1 FRG auf den Kläger angewen-det. Danach wird nach den für die gesetzliche Unfallversicherung maßgebenden bundes-rechtlichen Vorschriften auch entschädigt, wer außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland einen Arbeitsunfall erlitten hat, wenn er im Zeitpunkt des Unfalls bei einem deutschen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung versichert war.
Das Dritte Buch der Reichsversicherungsordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 09.01.1926 (RGBl. I Seite 9) und der Änderung vom 21.03.1931 (RGBl. 1933, II, Seite 1016) war in sudetendeutschen Gebieten mit Verordnung vom 12. Oktober 1938 (RGBl. I, 1437), vorläufig und mit der Zweiten Verordnung über die Durchführung der Reichsversicherung in den sudetendeutschen Gebieten vom 9. Februar 1939 (RGBl. 39, I, Seite 181) dort endgültig in Kraft gesetzt worden. Zuständig war für die Landwirtschaftli-che Unfallversicherung die Sächsische Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft in Dres-den (§ 2 Abs. 1 Ziff. 2 der Verordnung vom 12. Oktober 1938). Tatsächlich wäre es also theoretisch möglich gewesen, nach dem Krieg bei diesem noch bestehenden Unfallversicherungsträger die Ansprüche gewissermaßen originär geltend zu machen (vgl. hierzu: Jahn, Die Sozialversicherungsansprüche der Flüchtlinge aus dem Su-detenland, SozVers 1951, 136, 137).
Der Anspruch ist seinerzeit auch wirksam entstanden. Der Kläger war gemäß §§ 922, 915, § 544 RVO in der Fassung vom 09.01.1926 "wie" ein Arbeiter versichert. Hiergegen kann von der Beklagten nicht wirksam eingewandt werden, in der DDR sei Kinderarbeit verboten gewesen. Ein gesetzliches Verbot der Kinderarbeit bestand auch zum Unfallzeitpunkt (Gesetz über Kinderarbeit und den Arbeitsschutz des Jugendlichen – Jugendschutzgesetz – vom 30. April 1938, RGBl. I Seite 437, auf die sudetendeutschen Gebiete übergeleitet durch Verordnung vom 15. April 1939, RGBl. I Seite 914), wobei gewisse Ausnahmen in der Landwirtschaft galten (§ 2 Jugendschutzgesetz vom 30.04.1938), aber der Grundsatz, dass verbotswidriges Handeln die Annahme eines Betriebsunfalles nicht ausschließt (§ 544 Abs. 2 RVO a.F.), beinhaltete auch damals schon, dass Kinderarbeit nicht zur Versagung des Versicherungsschutzes führt (vgl. Schu-lin/Schlegel, Handbuch des Sozialversicherungsrechts Band II Unfallversicherungsrecht, München 1996, § 14 Rd.-Nr. 12, Seite 291 m.w.N.). In diesem Zusammenhang darf die vom Kläger ursprünglich gemachte Angabe, er habe versucht, mit der rechten Hand die Zahnräder in der Maschine aufzuhalten, nicht zu dem Missverständnis führen, hier liege lediglich eine "spielerische Betätigung" (vgl. Schu-lin/Schlegel a.a.O.) vor, die den Versicherungsschutz ausschließt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die gesamte Tätigkeit spielerisch, also unversichert gewesen wäre; eine Versa-gung des Versicherungsschutzes wegen "spielerischer Handlungstendenz" findet daher nicht statt. Die Handlungstendenz spielt dann eine Rolle, wenn beispielsweise in Arbeits-pausen Handlungen vorgenommen werden, die wesentlich allein privaten Interessen dienen (vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 15). Auch spielerisches, fahrlässiges oder verbotswidriges Handeln in Pausen schließt den Versicherungsschutz nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1953, Breith. 1954, 124). Selbst wenn man also den Versuch, die Räder der Maschi-ne anzuhalten, auf Grund der hierbei sicher vorhandenen spielerischen Komponente bei einem sechsjährigen Kind, als "eigenwirtschaftlich" bezeichnen wollte (wobei dies sehr fern liegend erscheint), wäre gleichwohl Versicherungsschutz gegeben, da es sich insoweit bei der Häckselmaschine um eine "besonders gefährliche Betriebseinrichtung" (vgl. BSG, Urteil vom 22.02.1973 – 2 RU 48/72 -) gehandelt hat.
Der Kläger war also im Sinne des § 5 Abs. 1 Ziff. 1 FRG seinerzeit mit der Tätigkeit und auch während des Hineingreifens in die Maschine bei einem deutschen Träger der gesetzli-chen Unfallversicherung versichert, der Unfall hat sich auch außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen vom 3. Oktober 1990 ereignet.
Der seinerzeit gegebene Anspruch ist nicht zwischenzeitlich untergegangen. Zwar war gemäß § 1546 Abs. 1 RVO in der Fassung der 2. Bekanntmachung der RVO vom 6. Januar 1926 (RGBl. I, Seite 9) ein Anspruch zur Vermeidung des Ausschlusses spätestens 2 Jahre nach dem Unfall anzumelden. Diese Frist lief nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlass des Krieges vom 15.01.1941 (RGBl. I Seite 34) frühestens mit dem auf das Kriegsende folgenden Kalenderjahr ab. Als Kriegsen-de wurde mit dem Gesetz über den Ablauf der durch Kriegsvorschriften gehemmten Fris-ten in der Sozial- und Arbeitslosenversicherung vom 13.11.1952 (BGBl. I Seite 737) in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 26.07.1955 (BGBl. I Seite 457) der 31.12.1950 fest-gelegt. Dies führt zu einem Ende der Anmeldungsfrist frühestens am 31.12.1951 und zeigt zugleich, dass "Kriegsende" nicht zwingend gleichzusetzen ist mit dem Tag der Kapitula-tion der Deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 (vom Gesetzgeber des Jahres 1941 war ein derartiges Ereignis wohl am allerwenigstens ins Auge gefasst worden.) Abgesehen davon, dass sich der Anspruch des Klägers ein Jahr nach dem wie auch immer zu bestimmenden Kriegsende nicht mehr nach den Vorschriften der RVO richtete (dazu unten) ist die in § 1546 RVO a.F. genannte Frist schon von der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes nicht als strickte Ausschlussfrist angesehen worden, dieses hat vielmehr die Ansicht vertreten, an ihrer Beachtung bestehe kein öffentliches Interesse, ihre Einhaltung sei deshalb nicht von Amts wegen zu prüfen und ein Träger der Unfallversiche-rung dürfte darauf verzichten, einen Entschädigungsanspruch unter Hinweis auf den Frist-ablauf abzulehnen (vgl. die Nachweise bei BSGE 14, 246, 248). Das Bundessozialgericht hat diese Rechtsprechung nicht nur bestätigt (BSGE 10, 88), es ist insofern noch darüber hinausgegangen, als es entschied, dass selbst dann, wenn – wie in § 58 Abs. 1 BVG a.F. – der Ablauf der Frist von Amts wegen zu beachten ist, diese Frist dann nicht gilt, wenn die Voraussetzungen des verspätet angemeldeten Anspruchs zweifelsfrei gegeben sind (BSGE 14, 246, 251). Da Riesa in der sowjetischen Besatzungszone lag, war alsbald nicht mehr Reichs- oder Bundesrecht maßgebend, sondern zunächst die auf Befehl 28 des Obersten Chefs der sow-jetischen Militärverwaltung erlassene Verordnung über die Sozialpflichtversicherung vom 28.01.1947 (Zentralverordnungsblatt, Gesetze etc., veröffentlicht durch die Landesregie-rung Sachsen, 3. Jahrgang 1947 Seite 89). Diese jedoch kannte ebenso wenig eine solche Ausschlussfrist wie die danach erlassene Verfahrensordnung für die Sozialversicherung vom 11.05.1953 (GBl. DDR Seite 698). Einzig der Anspruch auf Hinterbliebenenrente war spätestens 2 Jahre nach dem Eintritt des Versicherungsfalles bei der Sozialversicherung geltend zu machen (§ 2 Abs. 1 der Verordnung), doch wurde auch diese singuläre Rege-lung bereits mit § 1 der Anordnung zur Änderung der Verfahrensordnung für die Sozial-versicherung vom 22.05.1956 (GBl. DDR I Seite 522) wieder aufgehoben. In der folgen-den Verordnung über die Gewährung und Berechnung von Renten der Sozialversicherung vom 15.03.1968 (GBl. DDR II Seite 135) war in § 65 Abs. 1 geregelt, dass die Zahlung der Unfallrente mit dem Ersten des Kalendermonats beginnt, in dem die Voraussetzungen er-füllt werden. Wurde der Antrag nach Ablauf dieser Frist gestellt, so war die Unfallrente unter bestimmten Voraussetzungen längstens für zwei Jahre nachzuzahlen, regelmäßig aber begann die Rentenzahlung mit dem Antragsmonat (Abs. 2). Die Rentenverordnung vom 23.11.1979 (GBl. DDR I Seite 401) hat in § 67 diese Regelung im Wesentlichen un-verändert übernommen. Bei diesem Rechtszustand ist es dann bis zum Beitritt geblieben. Der Anspruch des Klägers dem Grunde nach war damit nach der für ihn gültigen Rechts-ordnung zu keinem Zeitpunkt nach dem Unfalltag endgültig untergegangen. Rechtsinstitute wie Verwirkung oder Rechtsmissbrauch waren keine Kategorien des Rechts der DDR. Ab dem 01.01.1992 wurde durch die Überleitung des Fremdrentengesetzes diese kompli-zierte Rechtslage gewissermaßen "bereinigt". Der Anspruch des Klägers richtet sich somit nunmehr nach der Reichsversicherungsordnung in der am 01.01.1992 geltenden Fassung (§ 7 FRG). Zuständiger Unfallversicherungsträger ist gemäß § 9 Abs. 2 FRG in der bis zum 31.12.2001 geltenden Fassung die Beklagte. Entgegen der Auffassung der Beklagten findet § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO keine Anwen-dung, da die §§ 1150 ff. RVO nur für im Beitrittsgebiet auch vor Gründung der DDR ein-getretene Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten gelten (vgl. § 1159 RVO). Außerhalb des Beitrittsgebietes eingetretene Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sind auf nach dem FRG zuständige Unfallversicherungsträger zu verteilen. Ein Fall des § 1150 Abs. 2 Ziff. 2 RVO liegt nicht vor. Hinsichtlich der Verletztenrente folgt der Senat den Ausführungen des Sozialgerichts, welche sich auf das Gutachten der Prof. Z1 .../E1 ... berufen. Die Höhe der MdE wurde auch von keinem der Beteiligten angegriffen.
Gegen den ausgeurteilten Rentenbeginn wurden Einwendungen nicht erhoben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, der Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zugelassen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Im Übrigen haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten. IV. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der am ...1934 geborene Kläger half am 18.07.1940 zusammen mit seinen Ge-schwistern auf dem Bauerhof des Bauern S ... in B ... (B ...) im Kreis J ... (K ...) im ehemaligen Sudetenland, Stroh und Klee in eine Häckselmaschine zu füllen. Als der Bauer nach dem Abschalten der Maschine den Raum verließ, versuchte er mit der rechten Hand, durch sein Eingreifen in die Zahnräder die Maschine anzuhalten. Dabei kam er durch das Ineinandergeraten der Zahnräder mit der Hand hinein und erlitt schwere Quetschungen und Knochensplitterungen. Nach Angaben des Klägers wurde der Bauer wegen Verletzung der Aufsichtspflicht in einem Strafverfahren dazu verurteilt, ihm bei Erreichen der Volljährig-keit eine Geldsumme auszuzahlen. Hierzu sei es jedoch nicht gekommen. Die noch vorhandenen Verletzungen wurden im von der Beklagten in Auftrag gegebenen Gutachten des Prof. Z1 ... vom 13.11.1999 wie folgt bezeichnet.
1. Digitus II mit vollständiger Endgliedamputation und Teilamputation der Mittelpha-lanx, multiple Narbenformationen mit kontraktem Narbenzug ulnarseitig sowie in-stabilen Narbenverhältnissen im Stumpfbereich. Diskrete Einschränkung der Be-weglichkeit im proximalen Interphalangealgelenk (O-10-90°).
2. Digitus III: Erblich deformiert und verplumpt bei fehlender Mittelphalanx und da-mit Verlust des distalen Interphalangealgelenkes. Multiple Narbenformationen beuge- und streckseitig mit kontrakt längs verlaufendem Narbenzug beugeseitig mit dadurch bedingter Deviation des funktionslosen PIII-Segmentes nach palmar. Komplette Hyp- bis Anästhesie im Stumpfbereich.
3. Digitus IV: Vollständiger Bewegungsverlust im distalen Interphalangealgelenk mit einer fixierten Flexionsstellung in 45°. Nageldeformität. Kontrakter ulnarseitig ver-laufender Narbenzug in Höhe des PIP-Gelenkes. Hypästhesie im Bereich der Fin-gerbeere.
4. Digitus V: Beugeseitig Y-förmig verlaufender Narbenzug mit Radialdeviation des Langfingers von 10°.
5. Einschränkung der Palmarflexion im rechten Handgelenk von ca. 15° sowie der Ulnarduktion von ca. 10° rechts im Vergleich zur gesunden linken Seite.
6. Streckung in allen Langfingern um ca. 1 cm geringer als links.
7. Daumenopposition um ca. 25° und Daumenabduktion um ca. 15° im Vergleich zur gesunden Seite an der linken Seite eingeschränkt.
8. Erhebliche Kraftminderung im Bereich der rechten Hand mit entsprechender Ein-schränkung der Funktionstests.
Anlass für die Einholung des Gutachtens war ein Antrag, den der Kläger bei der Beklagten auf Entschädigung der Unfallfolgen als Arbeitsunfall gestellt hatte. In diesem Gutachten wurde die verletzungsbedingte MdE auf 25 % eingeschätzt.
Mit Bescheid vom 25.07.2000 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sein Unfall vom 18.07.1940 "nicht als Arbeitsunfall gemäß § 220 Abs. 1 Arbeitsgesetzbuch (AGB) der e-hemaligen DDR anerkannt" werde. Es bestünden daher keine Entschädigungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Es sei zu prüfen gewesen, ob nach dem Recht der DDR der Unfall vom 18.07.1940 die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalles erfülle, da der Kläger im Jahre 1946 in das Gebiet der DDR gezogen sei. Nach den Rechtsvorschriften der DDR sei der Unfall jedoch kein Arbeitsunfall gewesen, weil in der DDR ein gesetzliches Verbot von Kinderarbeit bestan-den habe. Im Sudetenland habe im Übrigen auch für in der Landwirtschaft tätige Kinder keine Rentenversicherung bestanden. Die frühere Sudetendeutsche Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft habe daher auch keine Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfall ausgesprochen.
Dem widersprach der Kläger mit Schreiben vom 01.08.2000. Nach seiner Auffassung sei nicht nach DDR-Recht zu entscheiden. Rechtsnachfolger Deutschlands in den Grenzen von 1938 sei die Bundesrepublik Deutschland, und durch diesen Staat, dem er angehöre, möch-te er zu seinem Recht kommen.
Der Widerspruch wurde mit Bescheid vom 31.10.2000 als unbegründet zurückgewiesen.
Auf die dagegen erhobene Klage zum Sozialgericht Dresden, welches die Sächsische Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft gemäß § 75 Abs. 2 SGG beigeladen hat, wurde den Beteiligten mitgeteilt, dass zum Zeitpunkt des Unfalls im Sudetenland deutsches Recht gegolten habe und dort auch angewandt worden sei. Nach § 539 Abs. 1 und 2 RVO hätten auch Kinder in einem Arbeits- oder Dienstverhältnis oder wie ein Versicherter tätig werden können. Vorliegend sei nicht davon auszugehen, dass der Kläger auf dem Bauernhof etwa nur herumspielte oder ohne Erlaubnis des Bauern mitgeholfen hätte. Vielmehr sei er nach Aktenlage tätig gewesen, um etwas zu essen zu bekommen. Der Kläger hatte glaubhaft gemacht, dass die Kinder auf dem besagten Bauernhof nicht nur Futter gehäckselt, sondern auch zusammengetragen und im Übrigen Rüben verzogen, ge-hackt oder abgeladen häten. Es seien ihnen sämtliche Tätigkeiten übertragen worden, die nach ihren körperlichen Fähigkeiten bereits möglich gewesen seien. Als Lohn sei täglich eine so genannte "schöne lange Quarkschnitte" fällig gewesen, zusätzlich 1 Liter Butter-milch, nach Schlachtfesten Wurstbrühe und eventuell ein paar Stücke Wellfleisch. Ab und zu seien außerdem ein paar Pfennige als Geldlohn gezahlt worden.
Mit Urteil vom 17.04.2003 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, den Unfall vom 18.07.1940 als Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Kläger am dem 01.10.1996 (Antragstellung) eine Verletztenrente nach einer MdE von 25 Prozent zu gewähren. Der Anspruch richte sich nach dem FRG. Nach § 5 Abs. 1 Ziff. 1 FRG werde nach den für die gesetzliche Unfallver-sicherung maßgebenden bundesrechtlichen Vorschriften auch ein außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland eingetretener Arbeitsunfall entschädigt, wenn der Ver-letzte im Zeitpunkt des Unfalls bei einem deutschen Träger der gesetzlichen Rentenversi-cherung versichert war. Das Sudetenland sei zum damaligen Zeitpunkt zum Bestandteil des Deutschen Reiches erklärt worden, die RVO sei mit Wirkung vom 01.10.1938 auf die sudetendeutschen Ge-biete übergeleitet worden. Für die Feststellung und Gewährung von Leistungen sei daher nach § 9 Abs. 2 FRG die Beklagte zuständig. Der Unfall sei auch ein Arbeitsunfall. Der Kläger habe zum Zeitpunkt des Unfalls eine versicherte Tätigkeit im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO ausgeübt, er sei nämlich auf Grund eines Arbeitsunfalles auf dem Bauernhof beschäftigt gewesen. Er habe nicht aus bloßem Spieltrieb gehandelt, sondern den Auftrag gehabt, Stroh und Klee zu häckseln. Die Verletztenrente sei nach einer MdE von 25 Prozent zu zahlen, dies ergebe sich aus dem Gutachten von Prof. Z1 ..., der Befund entspreche vom Funktionsverlust her etwa dem Verlust des Mittel- und Ringfingers, wofür auch eine MdE von 25 Prozent vorgesehen sei.
Gegen das der Beklagten am 12.05.2003 zugestellte Urteil richtet sich die am 10. Juni 2003 beim Sächsischen LSG eingegangene Berufung. Sie wird damit begründet, dass sich der Anspruch des Klägers nicht nach dem Fremdrentengesetz richte. Das FRG sei in dem Beitrittsgebiet erst am 01.01.1992 in Kraft getreten, der Kläger sei in dieses Gebiet jedoch schon im Jahre 1946 zugezogen. Ansprüche auf Entschädigungsleistungen seien somit im vorliegenden Fall ausschließlich nach dem Rentenüberleitungsgesetz (§ 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO in Verbindung mit dem Recht der DDR) möglich.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 17.04.2003 aufzuheben und die Klage ab-zuweisen, hilfsweise festzustellen, dass die Beigeladene entschädigungspflichtig ist.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 17.04.2003 zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen, die Beklag-tenakte und die beigezogene Akte des Sozialgerichts Oldenburg – S 7 U 319/00 – Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht den Unfall vom 18.07.1940 als Arbeitsunfall angesehen und Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zugesprochen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist ein Fall des Fremdrentengesetzes gegeben. Die Auffassung der Beklagten, dass das Fremdrentengesetz nur Anwendung findet für Perso-nen, die ihren Wohnsitz in den alten Bundesländern haben und den Antrag bis zum 19.05.1990 gestellt haben oder nach dem 01.01.1992 in die Bundesrepublik zugezogen sind, findet im Gesetz keine Stütze. Der Stichtag "18.05.1990" stammt aus Artikel 2 § 1 des Rentenüberleitungsgesetzes (RÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl. I, 1606, 1664) und hat keine Bedeutung für das mit dem gleichen Gesetz (Artikel 35 RÜG, BGBl. 1991 I, 1705) auf das Beitrittsgebiet übergeleitete Fremdrentengesetz (FRG) in der Fassung der Ände-rung aus Artikel 14 RÜG (BGBl. 1991, I, 1692). Im Einigungsvertrag war vorgesehen, dass das FRG wie auch das Fremdrenten- und Aus-landsrentenneuregelungsgesetz (FANG) von dem Inkrafttreten des Bundesrechts im Bei-trittsgebiet gemäß Artikel 8 des Vertrages zunächst ausgenommen waren (EinigVertr An-lage I Kapitel VIII Sachgebiet H Abschnitt 1 Nr. 17 und 19). Dies war erforderlich, weil als "Fremdrenten" bis dahin auch DDR-Renten gegolten hatten und insofern erst die ent-sprechende Anpassung durch das Rentenüberleitungsgesetz erfolgen musste. Eine der we-sentlichen Änderungen in diesem Zusammenhang ist die Ersetzung der Worte "Geltungs-bereich des Gesetzes" (gemeint war damit die alte Bundesrepublik) durch "Bundesrepublik Deutschland (vgl. Artikel 14 RÜG). Hierdurch wurde das Beitrittsgebiet vom faktischen Ausland zum faktischen Inland. Aus dem Inkrafttreten zum 01.01.1992 (Artikel 42 RÜG, BGBl. 1991, I, 1707) darf nun aber nicht geschlossen werden, dass nur Neuzuzüge aus dem Ausland ab dem 01.01.1992 überhaupt nach dem FRG berücksichtigt werden (so aber die Berufungsbegründung der Beklagten). Diese Auffassung beruht offenbar aus einem Missverständnis des § 2 des Fremdrenten- und Auslandsrentenneuregelungsgesetzes (FANG) in der Fassung des RÜG (BGBl. 1991, I, 1696), wonach die Anwendbarkeit der Regel über die Berechnung des Jahresarbeitsverdienstes (§ 8 FRG alt oder neu) von diesem Stichtag abhängt.
Zutreffend ist aber, dass für das Beitrittsgebiet der § 3 FANG, welcher ebenfalls zum 01.01.1992 in Kraft getreten ist, Bedeutung hat. § 3 FANG lautet: "§§ 1 bis 13 des Fremd-rentengesetzes finden auf Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der in § 5 des Fremdren-tengesetzes genannten Art auch dann Anwendung, wenn auf diese Fälle das Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz nicht angewendet worden ist. Das FAG vom 07.08.1953 (BGBl. I Seite 848) wäre auf den Fall des Klägers nämlich schon deswegen nicht anwend-bar gewesen, da er aus dem Sudetenland nicht in das Bundesgebiet oder das Land Berlin übergesiedelt ist (vgl. § 1 Abs. 2 d, cc FAG). Auch der offizielle Titel jenes Gesetzes macht deutlich, dass dieses Vorläufergesetz zum FRG Leistungen an Bewohner des Bei-trittsgebietes ausschließt ("Gesetz über Fremdrenten der Sozialversicherung an Berechtigte im Bundesgebiet und im Land Berlin, über Leistungen der Sozialversicherung an Berech-tigte im Ausland sowie über freiwillige Sozialversicherung").
Der Senat teilt nicht die Auffassung der Beklagten, wonach bei Verletzten mit Wohnsitz im Beitrittsgebiet, deren noch in den ehemaligen deutschen Ostgebieten vor Kriegsende erlittenen Arbeitsunfälle von der Sozialversicherung der DDR nicht entschädigt worden sind (vgl. HVBG Rdschr Ausland 29/92, Bekl.-Akte Bl. 94), § 1156 Abs. 3 RVO entspre-chend anzuwenden ist. § 1156 Abs. 3 RVO spricht ausdrücklich von der "Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet", der Anwendungsbereich betrifft also Fälle von Ü-bersiedlern aus der BRD (alt) in die DDR. Nach keiner Diktion gehören Schlesien, Ost-preußen und das Sudetenland zu der "Bundesrepublik ohne das Beitrittsgebiet", auch wenn sie Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches geworden ist. Eine entsprechende Anwen-dung ist gleichfalls nicht indiziert, da von Wortlaut und ratio legis her in solchen Fällen das Fremdrentengesetz einschlägig ist.
Zu Recht hat das Sozialgericht die Vorschrift des § 5 Nr. 1 FRG auf den Kläger angewen-det. Danach wird nach den für die gesetzliche Unfallversicherung maßgebenden bundes-rechtlichen Vorschriften auch entschädigt, wer außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland einen Arbeitsunfall erlitten hat, wenn er im Zeitpunkt des Unfalls bei einem deutschen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung versichert war.
Das Dritte Buch der Reichsversicherungsordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 09.01.1926 (RGBl. I Seite 9) und der Änderung vom 21.03.1931 (RGBl. 1933, II, Seite 1016) war in sudetendeutschen Gebieten mit Verordnung vom 12. Oktober 1938 (RGBl. I, 1437), vorläufig und mit der Zweiten Verordnung über die Durchführung der Reichsversicherung in den sudetendeutschen Gebieten vom 9. Februar 1939 (RGBl. 39, I, Seite 181) dort endgültig in Kraft gesetzt worden. Zuständig war für die Landwirtschaftli-che Unfallversicherung die Sächsische Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft in Dres-den (§ 2 Abs. 1 Ziff. 2 der Verordnung vom 12. Oktober 1938). Tatsächlich wäre es also theoretisch möglich gewesen, nach dem Krieg bei diesem noch bestehenden Unfallversicherungsträger die Ansprüche gewissermaßen originär geltend zu machen (vgl. hierzu: Jahn, Die Sozialversicherungsansprüche der Flüchtlinge aus dem Su-detenland, SozVers 1951, 136, 137).
Der Anspruch ist seinerzeit auch wirksam entstanden. Der Kläger war gemäß §§ 922, 915, § 544 RVO in der Fassung vom 09.01.1926 "wie" ein Arbeiter versichert. Hiergegen kann von der Beklagten nicht wirksam eingewandt werden, in der DDR sei Kinderarbeit verboten gewesen. Ein gesetzliches Verbot der Kinderarbeit bestand auch zum Unfallzeitpunkt (Gesetz über Kinderarbeit und den Arbeitsschutz des Jugendlichen – Jugendschutzgesetz – vom 30. April 1938, RGBl. I Seite 437, auf die sudetendeutschen Gebiete übergeleitet durch Verordnung vom 15. April 1939, RGBl. I Seite 914), wobei gewisse Ausnahmen in der Landwirtschaft galten (§ 2 Jugendschutzgesetz vom 30.04.1938), aber der Grundsatz, dass verbotswidriges Handeln die Annahme eines Betriebsunfalles nicht ausschließt (§ 544 Abs. 2 RVO a.F.), beinhaltete auch damals schon, dass Kinderarbeit nicht zur Versagung des Versicherungsschutzes führt (vgl. Schu-lin/Schlegel, Handbuch des Sozialversicherungsrechts Band II Unfallversicherungsrecht, München 1996, § 14 Rd.-Nr. 12, Seite 291 m.w.N.). In diesem Zusammenhang darf die vom Kläger ursprünglich gemachte Angabe, er habe versucht, mit der rechten Hand die Zahnräder in der Maschine aufzuhalten, nicht zu dem Missverständnis führen, hier liege lediglich eine "spielerische Betätigung" (vgl. Schu-lin/Schlegel a.a.O.) vor, die den Versicherungsschutz ausschließt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die gesamte Tätigkeit spielerisch, also unversichert gewesen wäre; eine Versa-gung des Versicherungsschutzes wegen "spielerischer Handlungstendenz" findet daher nicht statt. Die Handlungstendenz spielt dann eine Rolle, wenn beispielsweise in Arbeits-pausen Handlungen vorgenommen werden, die wesentlich allein privaten Interessen dienen (vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 15). Auch spielerisches, fahrlässiges oder verbotswidriges Handeln in Pausen schließt den Versicherungsschutz nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1953, Breith. 1954, 124). Selbst wenn man also den Versuch, die Räder der Maschi-ne anzuhalten, auf Grund der hierbei sicher vorhandenen spielerischen Komponente bei einem sechsjährigen Kind, als "eigenwirtschaftlich" bezeichnen wollte (wobei dies sehr fern liegend erscheint), wäre gleichwohl Versicherungsschutz gegeben, da es sich insoweit bei der Häckselmaschine um eine "besonders gefährliche Betriebseinrichtung" (vgl. BSG, Urteil vom 22.02.1973 – 2 RU 48/72 -) gehandelt hat.
Der Kläger war also im Sinne des § 5 Abs. 1 Ziff. 1 FRG seinerzeit mit der Tätigkeit und auch während des Hineingreifens in die Maschine bei einem deutschen Träger der gesetzli-chen Unfallversicherung versichert, der Unfall hat sich auch außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen vom 3. Oktober 1990 ereignet.
Der seinerzeit gegebene Anspruch ist nicht zwischenzeitlich untergegangen. Zwar war gemäß § 1546 Abs. 1 RVO in der Fassung der 2. Bekanntmachung der RVO vom 6. Januar 1926 (RGBl. I, Seite 9) ein Anspruch zur Vermeidung des Ausschlusses spätestens 2 Jahre nach dem Unfall anzumelden. Diese Frist lief nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlass des Krieges vom 15.01.1941 (RGBl. I Seite 34) frühestens mit dem auf das Kriegsende folgenden Kalenderjahr ab. Als Kriegsen-de wurde mit dem Gesetz über den Ablauf der durch Kriegsvorschriften gehemmten Fris-ten in der Sozial- und Arbeitslosenversicherung vom 13.11.1952 (BGBl. I Seite 737) in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 26.07.1955 (BGBl. I Seite 457) der 31.12.1950 fest-gelegt. Dies führt zu einem Ende der Anmeldungsfrist frühestens am 31.12.1951 und zeigt zugleich, dass "Kriegsende" nicht zwingend gleichzusetzen ist mit dem Tag der Kapitula-tion der Deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 (vom Gesetzgeber des Jahres 1941 war ein derartiges Ereignis wohl am allerwenigstens ins Auge gefasst worden.) Abgesehen davon, dass sich der Anspruch des Klägers ein Jahr nach dem wie auch immer zu bestimmenden Kriegsende nicht mehr nach den Vorschriften der RVO richtete (dazu unten) ist die in § 1546 RVO a.F. genannte Frist schon von der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes nicht als strickte Ausschlussfrist angesehen worden, dieses hat vielmehr die Ansicht vertreten, an ihrer Beachtung bestehe kein öffentliches Interesse, ihre Einhaltung sei deshalb nicht von Amts wegen zu prüfen und ein Träger der Unfallversiche-rung dürfte darauf verzichten, einen Entschädigungsanspruch unter Hinweis auf den Frist-ablauf abzulehnen (vgl. die Nachweise bei BSGE 14, 246, 248). Das Bundessozialgericht hat diese Rechtsprechung nicht nur bestätigt (BSGE 10, 88), es ist insofern noch darüber hinausgegangen, als es entschied, dass selbst dann, wenn – wie in § 58 Abs. 1 BVG a.F. – der Ablauf der Frist von Amts wegen zu beachten ist, diese Frist dann nicht gilt, wenn die Voraussetzungen des verspätet angemeldeten Anspruchs zweifelsfrei gegeben sind (BSGE 14, 246, 251). Da Riesa in der sowjetischen Besatzungszone lag, war alsbald nicht mehr Reichs- oder Bundesrecht maßgebend, sondern zunächst die auf Befehl 28 des Obersten Chefs der sow-jetischen Militärverwaltung erlassene Verordnung über die Sozialpflichtversicherung vom 28.01.1947 (Zentralverordnungsblatt, Gesetze etc., veröffentlicht durch die Landesregie-rung Sachsen, 3. Jahrgang 1947 Seite 89). Diese jedoch kannte ebenso wenig eine solche Ausschlussfrist wie die danach erlassene Verfahrensordnung für die Sozialversicherung vom 11.05.1953 (GBl. DDR Seite 698). Einzig der Anspruch auf Hinterbliebenenrente war spätestens 2 Jahre nach dem Eintritt des Versicherungsfalles bei der Sozialversicherung geltend zu machen (§ 2 Abs. 1 der Verordnung), doch wurde auch diese singuläre Rege-lung bereits mit § 1 der Anordnung zur Änderung der Verfahrensordnung für die Sozial-versicherung vom 22.05.1956 (GBl. DDR I Seite 522) wieder aufgehoben. In der folgen-den Verordnung über die Gewährung und Berechnung von Renten der Sozialversicherung vom 15.03.1968 (GBl. DDR II Seite 135) war in § 65 Abs. 1 geregelt, dass die Zahlung der Unfallrente mit dem Ersten des Kalendermonats beginnt, in dem die Voraussetzungen er-füllt werden. Wurde der Antrag nach Ablauf dieser Frist gestellt, so war die Unfallrente unter bestimmten Voraussetzungen längstens für zwei Jahre nachzuzahlen, regelmäßig aber begann die Rentenzahlung mit dem Antragsmonat (Abs. 2). Die Rentenverordnung vom 23.11.1979 (GBl. DDR I Seite 401) hat in § 67 diese Regelung im Wesentlichen un-verändert übernommen. Bei diesem Rechtszustand ist es dann bis zum Beitritt geblieben. Der Anspruch des Klägers dem Grunde nach war damit nach der für ihn gültigen Rechts-ordnung zu keinem Zeitpunkt nach dem Unfalltag endgültig untergegangen. Rechtsinstitute wie Verwirkung oder Rechtsmissbrauch waren keine Kategorien des Rechts der DDR. Ab dem 01.01.1992 wurde durch die Überleitung des Fremdrentengesetzes diese kompli-zierte Rechtslage gewissermaßen "bereinigt". Der Anspruch des Klägers richtet sich somit nunmehr nach der Reichsversicherungsordnung in der am 01.01.1992 geltenden Fassung (§ 7 FRG). Zuständiger Unfallversicherungsträger ist gemäß § 9 Abs. 2 FRG in der bis zum 31.12.2001 geltenden Fassung die Beklagte. Entgegen der Auffassung der Beklagten findet § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO keine Anwen-dung, da die §§ 1150 ff. RVO nur für im Beitrittsgebiet auch vor Gründung der DDR ein-getretene Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten gelten (vgl. § 1159 RVO). Außerhalb des Beitrittsgebietes eingetretene Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sind auf nach dem FRG zuständige Unfallversicherungsträger zu verteilen. Ein Fall des § 1150 Abs. 2 Ziff. 2 RVO liegt nicht vor. Hinsichtlich der Verletztenrente folgt der Senat den Ausführungen des Sozialgerichts, welche sich auf das Gutachten der Prof. Z1 .../E1 ... berufen. Die Höhe der MdE wurde auch von keinem der Beteiligten angegriffen.
Gegen den ausgeurteilten Rentenbeginn wurden Einwendungen nicht erhoben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, der Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zugelassen.
Rechtskraft
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