L 10 U 687/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 2 U 1483/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 687/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 18. Oktober 2005 und der Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Juni 2003 abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger eine Verletztenrente nach einer MdE um 10 v. H. über den 27. September 2002 hinaus bis 31. März 2003 zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte hat ein Viertel der außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung einer Verletztenrente wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls.

Bei dem 1944 geborenen Kläger bestehen wegen der Folgen eines in die Zuständigkeit der Beigeladenen fallenden Arbeitsunfalls vom 23. November 1972 (Verletzung des linken Ellenbogengelenks) Unfallfolgen, die fortlaufend eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 10 v. H. bedingen.

Am 12. Dezember 2001 stürzte der Kläger bei seiner Beschäftigung als Bauwerker eine Gartenmauer etwa 80 cm tief hinab und zog sich dabei eine Knieverletzung (Ausriss der Eminenta intercondylaris, Teilruptur des hinteren Kreuzbandes) rechts zu. Arbeitsunfähigkeit bestand zuletzt bis 27. September 2002. Prof. Dr. W., Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik T., sah in seinem Gutachten für die Beklagte (Untersuchungstag 24. Oktober 2002) die Verletzungen als konsolidiert an, stellte als Unfallfolgen vor allem eine Bewegungseinschränkung des rechten Kniegelenkes sowie subjektive Beschwerden fest und schätzte die MdE auf 20 v. H. ab 16. September 2002 für die Dauer von sechs Monaten, anschließend auf 10 v. H. bis zur Dauerrente. Der Unfallchirurg Dr. B. , Beratungsarzt der Beklagten, schätzte die MdE zum Untersuchungszeitpunkt in einer Stellungnahme nach Aktenlage mit unter 10 v. H. ein.

Mit Bescheid vom 24. Januar 2003 und Widerspruchsbescheid vom 4. Juni 2003 gewährte die Beklagte eine Verletztenrente als vorläufige Entschädigung für die Zeit vom 11. März bis 27. September 2002 nach einer MdE um 20 v. H. und lehnte für die Zeit danach die Gewährung einer Verletztenrente ab.

Der Kläger hat am 13. Juni 2003 vor dem Sozialgericht Heilbronn Klage mit dem Ziele der Gewährung der Verletztenrente auch über den 27. September 2002 hinaus erhoben. Das Sozialgericht hat ein Gutachten bei Prof. Dr. R. , Orthopädische Universitätsklinik H. , eingeholt (Untersuchungstag 8. September 2003), der die MdE mit "maximal" 10 v. H. eingeschätzt hat. Nach Einwendungen der Beklagten hat er klargestellt, dass die MdE 10 v. H. betrage und hat ergänzend auf die Angabe von belastungsabhängigen Schmerzen und eine durchgehende Muskelminderung des rechten Beines verwiesen.

Mit Urteil vom 18. Oktober 2005 hat das Sozialgericht, im Wesentlichen gestützt auf das Gutachten von Prof. Dr. R. , den angefochtenen Bescheid abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 28. September 2002 Verletztenrente auf unbestimmte Zeit in Höhe von 10 v. H. der Vollrente zu gewähren.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 1. Februar 2006 zugestellte Urteil am 13. Februar 2006 Berufung eingelegt und ihre Ansicht wiederholt, dass die geringfügigen Unfallfolgen keine MdE um 10 v. H. begründen würden.

Die Beklagte beantragt (sinngemäß),

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 18. Oktober 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag. Sie vertritt die Auffassung, dass die Voraussetzungen für eine notwendige Beiladung nicht vorliegen, so dass der Beiladungsbeschluss aufzuheben ist.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, der Beigeladenen, des Sozialgerichts und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist gemäß den §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig.

Der Senat hat keinen Anlass gesehen, den Beiladungsbeschluss aufzuheben. Die von der Beigeladenen zitierte Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 27. Juni 1984, 9b RU 76/83, Breithaupt 1985, 546) ist Grundlage des Beiladungsbeschlusses. Entgegen der Auffassung der Beigeladenen hat das BSG die erforderliche notwendige Beiladung - anders als der insoweit missverständliche Leitsatz vermuten lässt - nicht auf die Fälle beschränkt, in denen im gerichtlichen Verfahren erstmals die Anerkennung eines weiteren Arbeitsunfalles begehrt wird. Dies ergibt sich zum einen aus den Entscheidungsgründen des Urteils selbst, wo diese im Leitsatz formulierte Einschränkung gerade nicht gemacht, sondern allein auf die Wechselwirkung des Stützrententatbestandes bei verschiedenen Unfallversicherungsträger abgestellt wird und zum anderen aus dem Urteil des BSG vom 29. April 1982 (2 RU 19/82), auf das die von der Beklagten zitierte Entscheidung Bezug nimmt und wo ein früheres Anerkennungsverfahren - wie im vorliegenden Fall - von der beizuladenden Berufsgenossenschaft bereits durchgeführt war.

Die Berufung ist im ausgesprochenen Umfang auch begründet. Dem Kläger steht Rente bis 31. März 2003 zu, nicht aber darüber hinaus.

Versicherungsfälle sind nach § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, haben nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern. Hier liegt ein solcher sogenannter "Stützrententatbestand" vor, denn die Folgen des in der Zuständigkeit der Beigeladenen liegenden Arbeitsunfalls bedingen dauerhaft eine MdE um 10 v. H.

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22. Juni 2004, B 2 U 14/03 R in SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.

Hiervon ausgehend bestanden bei dem Kläger nach dem 27. September 2002 auch Unfallfolgen, die eine MdE um zumindest 10 v. H. bedingten.

Ausgangspunkt der MdE-Einschätzung ist stets die funktionelle Einschränkung. Soweit eine Bewegungseinschränkung des rechten Kniegelenkes verblieben ist, ist diese nur geringgradig. Prof. Dr. W. konnte lediglich eine Einschränkung um 5° für die Beugung feststellen, bei Prof. Dr. R. ist die Kniebeweglichkeit dann seitengleich und frei (0-0-140) gewesen. In der sozialmedizinischen Literatur (Schönberger/Mertens/Valentin, Arbeitsunfall um Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003, S. 724; Mehrhoff/Meindl/Mohr, Unfallbegutachtung, 11. Aufl. 1992, S. 169) wird für eine MdE um 10 v. H. eine Bewegungseinschränkung des Kniegelenks im Maß 0-0-120 verlangt. Derartige Unfallfolgen erreicht der Kläger bei Weitem nicht.

Eine Erhöhung der MdE ist allerdings - vorübergehend - durch die vom Kläger angegebenen und auch glaubhaften Schmerzen und Beschwerden begründet.

Die üblicherweise mit einer Funktionseinschränkung verbundenen Schmerzen sind zwar bereits in den Richtwerten der sozialmedizinischen Literatur berücksichtigt. Die Annahme einer höheren MdE allein auf Grund von Schmerzen kann deshalb regelmäßig nur bei einer über das übliche Maß hinausgehenden Schmerzempfindlichkeit mit Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit gerechtfertigt werden (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O, S. 312 f). Dies ist aber dann anders, wenn außer Schmerzen (und der darauf beruhenden Funktionseinschränkungen wie beschränkte Einsatzfähigkeit einer Gliedmaße etc.) keine sogenannten objektiven Funktionsstörungen (wie z.B. Bewegungseinschränkungen) vorliegen. Denn mangels MdE auf Grund objektiver Funktionsstörungen, wie sie regelmäßig Grundlage der Richtwerte sind, können Schmerzen auch nicht in eine solche MdE-Bewertung eingeflossen sein.

Auf der Grundlage der Beurteilung von Prof. Dr. W. und dessen Zusammenschau der funktionellen Beeinträchtigungen mit den vom Kläger glaubhaft vorgetragenen Schmerzen und Beschwerden geht der Senat von einer MdE zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Prof. Dr. W. von (jedenfalls) 10 v.H. aus. Die Zweifel des Senats an der von Prof. Dr. W. für weitere sechs Monate angenommenen MdE um 20 v.H. brauchen hier nicht vertieft zu werden. Denn das Sozialgericht hat die Beklagte entsprechend dem Antrag des Klägers (§§ 123, 157 Satz 1 SGG) nur zu einer Rentengewährung nach einer MdE um 10 v. H. verurteilt. Hierauf beschränkt sich die Überprüfung des angefochtenen Urteils. Im Übrigen ist der angefochtene Bescheid bestandskräftig und damit bindend (§ 77 SGG) geworden.

Diese Beurteilung durch Prof. Dr. W. entsprach aber nicht mehr dem Gesundheitszustand zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Prof. Dr. R ... Der Kläger hat dort nur noch geringfügige Schmerzen angegeben, nämlich lediglich solche nach längerem Laufen und nach dem Aufstehen. Eine Medikamenteneinnahme ist ebenso verneint worden wie das Vorhandensein nächtlicher Schmerzen. Ein Oberschenkelkompressionsstrumpf, den der Kläger bei der Untersuchung durch Prof. Dr. W. noch trug, wird in dem Gutachten von Prof. Dr. R. nicht erwähnt. Gleichfalls sind die bei Prof. Dr. W. noch vorgebrachten Angaben zu Anschwellungen des rechten Beins und einem Instabilitätsgefühl bei Prof. Dr. R. nicht wiederholt worden. Damit haben im Zeitpunkt der Untersuchung durch Prof. Dr. R. keine erheblichen Schmerzzustände oder sonstigen Beschwerden mehr vorgelegen. Auch eine erhebliche Umfangdifferenz, welche auf eine Schonung des rechten Knies hindeuten könnte, hat im Zeitpunkt der Untersuchung durch Prof. Dr. R. nicht bestanden. Die Messungen von Prof. Dr. R. weisen auf nur geringgradige (1 bis 1,5 cm; wegen der Einzelheiten wird auf AS 29 der Akte des Sozialgerichts verwiesen) Umfangverminderungen rechts gegenüber links hin. Im Text des Gutachtens wird sogar "eine geringgradige Umfangvermehrung der rechten Oberschenkelmuskulatur" erwähnt. Derartige geringfügige Muskelminderungen rechtfertigen mangels funktioneller Auswirkungen keine MdE. Angesichts der Beschwerdeangaben des Klägers können sie auch nicht zur Begründung erheblicher Schmerzzustände dienen. Der Senat hält daher die Beurteilung von Prof. Dr. R. für nicht überzeugend. Eine MdE von 10 v. H. lässt sich nicht begründen.

Im Zeitraum zwischen den beiden gutachtlichen Untersuchungen hat sich der Gesundheitszustand des Klägers somit verbessert. Wann dies genau der Fall war - es kann kaum plötzlich gewesen sein - ist schwer einzuschätzen. Weil kein konkretes Ereignis für die Verbesserung festgemacht werden kann, hält der Senat für die Festlegung des Zeitpunkts dieser Veränderung die ungefähre Mitte zwischen den Zeitpunkten der gutachtlichen Untersuchungen für sachgerecht, womit sich eine MdE um 10 v. H. bis 31. März 2003 ergibt.

Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts und der angefochtene Bescheid daher abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE um 10 v. H. über den 27. September 2002 hinaus bis 31. März 2003 zu gewähren.

Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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