L 15 B 212/06 SO ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
15
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 20 SO 95/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 15 B 212/06 SO ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 3. August 2006 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller seit dem 21. August 2006 Einzelfallhilfe für den Schulbesuch der Grundschule T im Umfang von höchstens 20 Stunden je Schulwoche zu gewähren und die Kosten der Einzelfallhilfe bis zu höchstens 6,00 EUR brutto je Stunde zu übernehmen. Die Verpflichtung besteht für die Dauer des Widerspruchsverfahrens und eines etwa daran anschließenden erstinstanzlichen Klageverfahrens betreffend den Bescheid des Antragsgegners vom 19. Juli 2006, längstens jedoch bis zum 22. Dezember 2006. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen außergerichtliche Kosten für beide Rechtszüge zur Hälfte zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde ist teilweise begründet. Da der Antragsteller eine Veränderung des bisher "leistungslosen" Zustands erstrebt, müsste bei summarischer Prüfung mit ausreichender Wahrscheinlichkeit erkennbar sein, dass ein Anspruch nach materiellem Recht besteht (§ 86b Abs. 2 Satz 4 Sozialgerichtsgesetz [SGG] in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 916 Zivilprozessordnung [ZPO]; Anordnungsanspruch) und eine besondere Eilbedürftigkeit vorliegt (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 917, 918 ZPO; Anordnungsgrund). Im Ergebnis zu Recht hat das Sozialgericht angenommen, dass ein Anordnungsanspruch dem Grunde nach glaubhaft gemacht worden ist. Dass der Antragsteller ungeachtet des grundsätzlichen Nachrangs der Sozialhilfe Ansprüche der begehrten Art dem Grunde nach gegen den Antragsgegner haben kann, ist bereits im Beschluss des 23. Senats vom 11. November 2005 – L 23 B 1023/05 SO ER – ausführlich dargelegt worden und muss deswegen nicht nochmals erörtert werden. Anders als der Antragsgegner offenbar meint, ist der Antragsteller von Rechts wegen auch nicht verpflichtet, sich vorrangig an die Schulbehörde oder den Schulträger zu wenden, um Hilfen der begehrten Art (wenigstens teilweise) von dort zu erhalten. Wie dem Beschluss des 23. Senats zutreffend und deutlich zu entnehmen ist, kann "der betroffene Bürger auf dem Gebiet des Sozialhilferechts und des Sozialrechts allgemein nicht gezwungen werden ..., den Streit über die Zuständigkeit zwischen den Behörden auf sein Risiko und seine Kosten zu klären" (Seite 9 des Beschlusses, erster Absatz). Im übrigen ist es zwar richtig, dass die Berichte der Sozialpädagogin, der Klassenlehrerin und der Hilfskraft in dem angefochtenen Beschluss einen erheblich breiteren Raum einnehmen als die Einschätzung des Antragsgegners, die letztlich nur in einem Satz (letzter Satz des ersten Absatzes auf Seite 7 des angefochtenen Beschlusses) erwähnt wird. Nichts anderes ergäbe sich aber, wenn die Berichte des Antragsgegners über die durchgeführte Hospitation "ausführlicher" berücksichtigt würden: Zur Prüfung des Begehrens des Antragstellers ist, wie das Sozialgericht richtig erkannt hat, eine Folgenabwägung vorzunehmen und nicht zu prüfen, ob der Antragsteller in der Hauptsache voraussichtlich erfolgreich sein würde. Denn eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage ist im Eilverfahren nicht möglich (s. neben den im angefochtenen Beschluss bereits benannten Entscheidungen Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 12. Mai 2005 -1 BvR 569/05 -, u. a. in Breithaupt 2005, 803). Anders als es in dem angefochtenen Beschluss anklingt, kann die Abwägung aber nicht allein auf Grund der Berichte der Sonderpädagogin, der Klassenlehrerin und der Einzelfallhelferin zu Gunsten des Antragstellers ausfallen. Angesichts der vorliegenden Berichte der Mitarbeiterin des Antragsgegners, die keinen Bedarf (mehr) für eine Einzelfallhilfe sieht, bedeutete dies sonst, sich doch an der Erfolgsaussicht der Hauptsache zu orientieren, was weitere Ermittlungen erforderlich gemacht hätte, die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht geleistet werden können. Es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass den einen Berichten größere Aussagekraft beigemessen werden könnte als den anderen. Abzuwägen sind dagegen die Folgen, die einträten, wenn einstweiliger Rechtsschutz nicht gewährt würde mit denjenigen, die sich auf Grund der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ergäben. Diese Abwägung fällt zu Gunsten des Antragstellers aus. Wie eben erwähnt besitzt keine der gegensätzlichen Einschätzungen zum Hilfebedarf von vornherein eine nennenswert größere Überzeugungskraft als andere. Vor diesem Hintergrund fällt zu Gunsten des Antragstellers ins Gewicht, dass seine grundrechtlichen Belange als behinderter Mensch beeinträchtigt werden könnten, wenn nicht von einem Anordnungsanspruch ausgegangen und als Folge einstweiliger Rechtsschutz (auch) aus diesem Grund verweigert würde: Denn Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) stellt ein striktes Benachteiligungsverbot für Behinderte auf, mit dem ein Auftrag an den Staat verbunden ist, auf gleichberechtigte Teilhabe hinzuwirken (s. dazu etwa Heu in Dreier, GG, 2. Auflage, Band I, 2004, Art. 3 Randnr. 134 ff.). Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass unmittelbar aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz im Regelfall keine Leistungsrechte abgeleitet werden können (Heu a.a.O. Randnr. 138), so wirkt die Norm doch auf die Anwendung des einfachen Rechts ein. Die Gerichte wiederum "müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen" (BVerfG a.a.O.). Den grundrechtlichen Belangen des Antragstellers können auf seiten des Antragsgegners lediglich fiskalische Interessen gegenüber stehen. Auch wenn diese keineswegs unbedeutend sind, weil der Antragsgegner eine Leistungsverpflichtung aus dem Steueraufkommen und damit aus den Mitteln bestreiten muss, welche die steuerpflichtigen natürlichen und juristischen Personen aufzubringen haben, so können sie die zu Gunsten des Antragstellers wirkenden Belange doch nicht aufwiegen. Den fiskalischen Interessen kann – wie noch ausgeführt wird - ausreichend durch die Art und Weise Rechnung getragen werden, in der einstweiliger Rechtsschutz gewährt wird. Ein Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass anderenfalls eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung droht. Unerheblich ist, dass die gesetzlichen Vertreter des Antragstellers über lange Zeit die Kosten der Einzelfallhelferin vorgeschossen haben. Vielmehr ergibt sich daraus gerade, dass ihnen dies nun jedenfalls nicht mehr in vollem Umfang zugemutet werden kann. Insoweit wird auf die Ausführungen des 23. Senats auf Seite 10 des Beschlusses vom 11. November 2005 Bezug genommen. Aus dem Charakter des einstweiligen Rechtsschutzes, und dem grundsätzlichen Verbot einer Vorwegnahme der Hauptsache (durch das wiederum auch die fiskalischen Interessen des Antragsgegners berücksichtigt werden) folgt allerdings, dass der Antragsgegner zu Leistungen nur in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang zu verpflichten ist (s. auch dazu BVerfG a.a.O.): Es besteht kein Anlass, zeitlich eine Verpflichtung für ein ganzes Schuljahr auszusprechen. Da sie eine gerichtliche Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen und die Bindungswirkung des § 77 SGG nicht umgehen soll, ist sie zum einen "relativ" auf die Dauer des bereits anhängigen Widerspruchs- und eines etwaig nachfolgenden Klageverfahrens zu begrenzen. Angesichts der nach Aktenlage kontinuierlich positiven Entwicklung des Antragstellers ist es zum anderen geboten, (in Gestalt der Zeit vom Schuljahresbeginn bis zum letzten Schultag vor den Weihnachtsferien) einen überschaubaren absoluten Zeitrahmen für die vorläufige Verpflichtung zu setzen. Dies gibt Gelegenheit, die weitere Entwicklung des Antragstellers zu beobachten und für den Hilfebedarf in der zweiten Hälfte des Schuljahres neue tatsächliche Erkenntnisse zu gewinnen. Eine Entscheidung über die Höhe der zu übernehmenden Kosten war jedenfalls deshalb zu treffen, weil der Antragsteller dies ausdrücklich beantragt hatte. Selbst wenn Kosten in Höhe des von der Einzelfallhelferin Hoffmann beanspruchten Stundensatzes von 15,- EUR entstanden sind bzw. noch entstehen werden, kann es dem Antragsteller angesichts der Einkommensverhältnisse seiner ihm unterhaltsverpflichteten gesetzlichen Vertreter zugemutet werden, einen Teil – wenn auch, wie oben ausgeführt, nicht mehr - hiervon einstweilen selbst zu tragen. Der Antragsgegner hat im Rahmen seiner bisherigen einstweiligen Verpflichtung von sich aus einen Betrag von 6,- EUR je Stunde Einzelfallhilfe übernommen. Der Antragsteller hat einen höheren Satz nicht geltend gemacht, was dafür spricht, dass auch er die einstweilige Übernahme der Restkosten nicht als unzumutbar ansieht. Der Senat hatte folglich keine

Bedenken, eine Leistungsverpflichtung in dieser Höhe auszusprechen. Dies gilt noch umso mehr, als das Kostenrisiko damit – ausgehend vom Stundensatz der Einzelfallhelferin H - annähernd gleich (40:60) zwischen den Beteiligten aufgeteilt ist. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens beruht auf § 193 SGG. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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