L 13 AS 4113/06 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 6 AS 2018/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AS 4113/06 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Den Krankenhäusern in § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SGB II (Fassung ab 01.08.2006) sind die in § 107 Abs. 2 SGB V erfassten Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen gleichgestellt.
2. Die von der Agentur für Arbeit nach § 44a Abs. 1 Satz 1 SGB II zu treffende Feststellung zur Erwerbsfähigkeit kann auch in der Begründung eines Bescheids enthalten sein, mit dem die Agentur für Arbeit gegenüber dem Arbeitsuchenden Leistungen ablehnt.
3. Widerspricht der kommunale Träger, der gleichzeitig Träger der Sozialhilfe ist, der ihm gegenüber keinen Verwaltungsakt darstellenden Feststellung der Agentur für Arbeit zur Erwerbsfähigkeit, ruft er die Einigungsstelle jedoch nicht unverzüglich, also ohne schuldhaftes Zögern (vgl. § 171 Abs. 1 BGB) an, führt die verspätete Anrufung nicht dazu, dass die Einigungsstelle als nicht angerufen gilt mit der Folge, dass nach § 44a Satz 3 SGB II (Fassung bis 31.07.2006) die Agentur für Arbeit und der kommunale Träger bis zur Entscheidung der Einigungsstelle Leistungen der Grundsicherung erbringen müssen.
4. Sofern für die Zeit ab 01.08.2006 bis zur Entscheidung der Einigungsstelle
nicht weiterhin von einer sich aus § 44a Abs. 2 Satz 1 SGB II ergebenden Leistungspflicht
der Agentur für Arbeit und des kommunalen Trägers auszugehen ist,
muss eine solche § 43 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB I entnommen werden.
5. Für die Feststellung der Erwerbsfähigkeit bedarf es einer aktuellen
Beurteilung des derzeitigen Gesundheitszustandes und
Leistungsvermögens des Arbeitsuchenden; eine Verneinung der
Erwerbsfähigkeit setzt voraus, dass das in § 8 Abs. 1 SGB II
umschriebene Mindestleistungsvermögen zukunftsgerichtet für
mindestens sechs volle Monate nicht vorliegt.
Auf die Beschwerde der Beklagten wird der Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 6. Juli 2006 aufgehoben, soweit darin die Beklagte im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet worden ist, dem Kläger für die Zeit vom 1. April 2006 bis 1. Juni 2006 vorläufig Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte dem Kläger vom 2. Juni 2006 bis längstens 31. Dezember 2006 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erbringen muss.

Die Beklagte hat dem Kläger vier Fünftel der außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde der Beklagten konnte nur zum Teil Erfolg haben.

Die Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist zulässig, weil statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt.

Die Beschwerde ist nur zum Teil begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Beklagte im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Kläger vorläufig Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. April 2006 bis 1. Juni 2006 zu gewähren. Soweit es die Beklagte verpflichtet hat, dem Kläger für die Zeit ab 2. Juni 2006, dem Tag der Rechtshängigkeit des Eilrechtsschutzes, vorläufig Leistungen nach dem SGB II zu erbringen, hat die Beschwerde keinen Erfolg. Die Beschwerde war deshalb insoweit zurückzuweisen, wobei der Senat zur Klarstellung tenoriert hat, dass es sich bei den Leistungen nach dem SGB II um die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts handelt und die Verpflichtung der Beklagten längstens bis 31. Dezember 2006 besteht.

Die Begründetheit der Beschwerde, soweit sie die vom Kläger sinngemäß begehrte vorläufige Verpflichtung zur Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 1. April bis 1. Juni 2006 betrifft, ergibt sich daraus, dass für diesen Zeitraum der Anordnungsgrund zu verneinen ist. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. z.B. Beschluss vom 23. Mai 2006 - L 13 AS 510/06 ER-B), dass die Dringlichkeit einer die Hauptsache vorwegnehmenden Eilentscheidung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bei Leistungen nach dem SGB II in aller Regel nur bejaht werden kann, wenn wegen einer Notlage über existenzsichernde Leistungen für die Gegenwart und die nahe Zukunft gestritten wird und dem Antragsteller schwere schlechthin unzumutbare Nachteile entstünden, wenn er auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens verwiesen würde; einen finanziellen Ausgleich für die Vergangenheit herbeizuführen, ist, von einer in die Gegenwart fortwirkenden Notlage abgesehen, nicht Aufgabe des vorläufigen Rechtsschutzes, sondern des Hauptsacheverfahrens. Da der Kläger das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erst am 2. Juni 2006 beim Sozialgericht rechtshängig gemacht hat, hätte der Anordnungsgrund für die vor diesem Zeitpunkt begehrten Leistungen nur bejaht werden können, wenn der Kläger einen Nachholbedarf behauptet und glaubhaft gemacht hätte. Der Kläger hat indes weder einen Nachholbedarf behauptet, geschweige denn einen solchen glaubhaft gemacht.

Für die Zeit ab 2. Juni 2006 hat das Sozialgericht indes zutreffend einen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bejaht; daran hat sich auch nach den für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen maßgebenden Verhältnissen im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde nichts geändert.

Der Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ergibt sich daraus, dass der Kläger bis auf die Erwerbsfähigkeit sämtliche Voraussetzungen für den Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (vgl. § 19 Satz 1 Nr. 1 SGB II in der bis 31. Juli 2006 geltenden Fassung; § 19 Satz 1 SGB II in der seit 1. August 2006 geltenden Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006, BGBl. I S. 1706) erfüllt. Denn (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II) er hat das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet, ist hilfebedürftig und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Ausschlusstatbestände greifen nicht ein, insbesondere steht die ihm bewilligte Leistung für eine stationäre medizinische Rehabilitation für voraussichtlich 20 Wochen der Leistungsberechtigung nach dem SGB II nicht entgegen. Denn er ist damit nicht für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht (vgl. § 7 Abs. 4 SGB II in der Fassung bis 31. Juli 2006). Nach dem ab 1. August 2006 geltenden § 7 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 SGB II (vgl. aber die Übergangsregelung für vor dem 1. Juli 2006 beginnende Bewilligungszeiträume in § 68 Abs. 1 SGB II) findet der sonst bei Unterbringung in stationären Einrichtungen geltende Anspruchsausschluss keine Anwendung, wenn die Unterbringung voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V)) erfolgt. Da nach dem Willen des Gesetzgebers auch die in § 107 Abs. 2 SGB V erfassten Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen den Krankenhäusern gleichgestellt sein sollen (vgl. Begründung im Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende BT-Drs 16/1410 Seite 20), was in der generellen Verweisung auf § 107 SGB V seinen Ausdruck findet, ist der Kläger auch nicht nach neuem Recht von Leistungen ausgeschlossen.

Soweit die Beklagte den Antrag des Klägers auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts wegen fehlender Erwerbsfähigkeit abgelehnt hat, steht dies einem Anordnungsanspruch nicht entgegen. Zutreffend ist, dass die Beklagte solche Leistungen erst erbringen muss, wenn der Hilfebedürftige erwerbsfähig ist (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II). Nach der Legaldefinition der Erwerbsfähigkeit in § 8 Abs. 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 44 a Satz 1 SGB II (Fassung bis 31. Juli 2006; ab 1. August 2006 § 44 a Abs. 1 Satz 1 SGB II) stellt die Agentur für Arbeit fest, ob der Arbeitsuchende erwerbsfähig und hilfebedürftig ist. Eine solche Feststellung ist hier dadurch erfolgt, dass die Agentur für Arbeit R. im Bescheid vom 26. April 2006 an den Kläger die Ablehnung des Antrags auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts damit begründet hat, dass der Kläger nicht erwerbsfähig sei; sie verband dies mit dem Hinweis, der Kläger solle sich unverzüglich an den Sozialhilfeträger wenden und sich bei der Krankenkasse wegen der Rechte und Möglichkeiten zur Versicherung für den Fall der Krankheit erkundigen. Eine Mehrfertigung dieses Bescheides sandte die Agentur für Arbeit an den Landkreis R. (Träger der Sozialhilfe und kommunaler Träger der Leistungen für Unterkunft und Heizung), wobei sie diesem nachfolgend mit Schreiben vom 27. April 2006 nochmals kurz erläuterte, dass sie auf der Grundlage eines am 8. Juni 2005 von ihrem ärztlichen Dienst erstatteten Gutachtens sowie des Umstandes, dass dem Kläger vom Rentenversicherungsträger zwischenzeitlich mit Bescheid vom 6. April 2006 eine Entwöhnungsbehandlung als medizinische Leistung zur Rehabilitation für die Dauer von voraussichtlich 20 Wochen bewilligt worden war, zum Ergebnis gelangt sei, dass beim Kläger keine Erwerbsfähigkeit mehr gegeben sei. Mit Schreiben vom 4. Mai und 26. Mai 2006 hat der Landkreis R. als Sozialhilfeträger der Auffassung der Agentur für Arbeit zur fehlenden Erwerbsfähigkeit widersprochen, wobei von diesem die Einigungsstelle aber erst am 23. August 2006 angerufen worden ist.

Für die Zeit bis 31. Juli 2006 ergibt sich der Anordnungsanspruch aus § 44 a Satz 3 SGB II in der bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung. Im Anschluss an die Regelung des § 44 a Satz 1 SGB II, wonach die Agentur für Arbeit feststellt, ob der Arbeitsuchende erwerbsfähig und hilfebedürftig ist, ordnet § 44 a Satz 2 SGB II in der Fassung bis 31. Juli 2006 an, dass die Einigungsstelle entscheidet, wenn der kommunale Träger oder ein anderer Leistungsträger, der bei voller Erwerbsminderung zuständig wäre, die Auffassung der Agentur für Arbeit nicht teilt. § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der Fassung bis 31. Juli 2006 bestimmt ergänzend, dass bei Streitigkeiten über die Erwerbsfähigkeit oder die Hilfebedürftigkeit eines Arbeitsuchenden zwischen den Trägern der Leistungen nach dem SGB II sowie bei Streitigkeiten über die Erwerbsfähigkeit mit einem Leistungsträger, der bei voller Erwerbsminderung zuständig wäre, eine gemeinsame Einigungsstelle entscheidet. Bis zur Entscheidung der Einigungsstelle erbringt die Agentur für Arbeit und der kommunale Träger Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (§ 44 a Satz 3 SGB II in der Fassung bis 31. Juli 2006). Das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit hat aufgrund der Ermächtigung in § 45 Abs. 3 SGB II am 23. November 2004 mit Wirkung ab 1. Januar 2005 die Verordnung zur Regelung der Grundsätze des Verfahrens für die Arbeit der Einigungsstellen nach dem SGB II (Einigungsstellen-Verfahrensverordnung - EinigungsStVV) erlassen. § 4 Abs. 1 Satz 1 EinigungsStVV regelt, dass die Einigungsstelle von dem Träger angerufen wird, der eine von der Entscheidung des anderen Trägers abweichende Entscheidung über die Erwerbsfähigkeit oder Hilfebedürftigkeit treffen will. Die Anrufung, so § 4 Abs. 1 Satz 2 EinigungsStVV, hat unverzüglich nach der Feststellung zu erfolgen, dass der anrufende Träger eine abweichende Entscheidung treffen will. Haben beide Träger bereits eine Entscheidung getroffen, kann die Einigungsstelle von beiden Trägern angerufen werden (§ 4 Abs. 1 Satz 3 EinigungsStVV). Der Senat vermag die Auffassung der Beklagten nicht zu teilen, dass es einer Entscheidung durch die Einigungsstelle nicht bedürfe, weil der Landkreis R. die Einigungsstelle nicht unverzüglich angerufen habe mit der Folge, dass auch keine Leistungspflicht für sie bis zur Entscheidung der Einigungsstelle bestehe. Wegen der Zuweisung der die Erwerbsfähigkeit betreffenden Entscheidungszuständigkeit an die Beklagte hat der Gesetzgeber bei Differenzen mit dem kommunalen Träger oder einem bei voller Erwerbsminderung zuständigen Leistungsträger ein Konfliktregulierungsinstrument geschaffen, mit dem zwischen den Trägern bestehende Differenzen bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit für diese verbindlich gelöst werden sollen und gleichzeitig vermieden werden soll, dass diese Differenzen zu Lasten des Hilfebedürftigen gehen; ihm wird bis zur Entscheidung der Einigungsstelle ein Anspruch gegen die Beklagte und gegen den kommunalen Träger auf die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende eingeräumt. Weder erfordert die hier in der Bescheidbegründung gegenüber dem Kläger enthaltene Feststellung einen Verwaltungsakt noch stellt sie selbst einen solchen dar. Verwaltungsakt ist allein die Ablehnung des Leistungsantrags und nicht auch die Begründung, denn für eine Verselbständigung der Begründung zu einem anfechtbaren Verfügungssatz besteht kein Bedürfnis und, wie die Fassung des Bescheids erkennen lässt, auch kein Verfügungswille der Behörde (vgl. BSG SozR 4100 § 112 Nr. 23; BSG SozR 1300 § 44 Nr. 38). Diese Feststellung der Beklagten zur fehlenden Erwerbsfähigkeit hat der Landkreis R. als kommunaler und bei voller Erwerbsminderung zuständiger Träger der Sozialhilfe im Sinn von § 44 a Satz 2 SGB II (Fassung bis 31. Juli 2006) nicht geteilt, sodass es im Sinn von § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB II (Fassung bis 31. Juli 2006) zu einer Streitigkeit über die Erwerbsfähigkeit zwischen der Beklagten und diesem gekommen ist. Weil der Landkreis der Feststellung der Erwerbsfähigkeit widersprochen und ersichtlich die Erwerbsfähigkeit anders beurteilt hat, war grundsätzlich er verpflichtet, die Einigungsstelle anzurufen. Eine - hier auch nicht nach § 65 c SGB II zu fingierende - Anrufung der Einigungsstelle ist Voraussetzung dafür, dass bis zu deren Entscheidung Leistungen durch die Beklagte und den kommunalen Träger nach § 44 a Satz 3 SGB II in der bis 31. Juli 2006 geltenden Fassung zu erbringen sind. Zutreffend ist, dass der Landkreis R. ausgehend von den der Einschätzung der Beklagten widersprechenden Schreiben vom 4. und 26. Mai 2006 entgegen seiner Verpflichtung nach § 4 Satz 2 EinigungsStVV die Einigungsstelle am 25. August 2006 nicht mehr unverzüglich, also ohne schuldhaftes Zögern (vgl. § 121 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs; Begründung der EinigungsStVV BR-Drs 759/04 S. 8 zu § 4) angerufen hat. Dies ist jedoch im Ergebnis unschädlich. Denn die Anrufung ist, wenn auch verspätet, erfolgt. Die Verpflichtung zur unverzüglichen Anrufung der Einigungsstelle ist Ausfluss des sich aus § 86 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) ergebenden Gebotes zur engen Zusammenarbeit und des auf umfassende und zügige Gewährung der Sozialleistungen gerichteten Gebotes in § 17 Abs. 1 Nr. 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I). Indes führt eine verspätete Anrufung der Einigungsstelle nicht dazu, dass die Einigungsstelle als nicht angerufen gilt und deshalb auch keine Leistungen bis zur Entscheidung der Einigungsstelle zu erbringen wären. Nach dem Willen des Gesetz- und Verordnungsgebers soll allein die Einigungsstelle verwaltungsinterne Differenzen über die Erwerbsfähigkeit verbindlich klären. Nur deren Entscheidung ist nach § 8 Abs. 1 Satz 5 EinigungsStVV für die an der Entscheidung beteiligten Träger verbindlich. Letztendlich würde die Auffassung der Beklagten dazu führen, dass der Streit zwischen den Trägern über die Erwerbsfähigkeit auf dem Rücken des Hilfebedürftigen ausgetragen wird, wenn bei von der Beklagten verneinter Erwerbsfähigkeit der kommunale Träger oder der bei voller Erwerbsminderung zuständige Träger dem Hilfebedürftigen ebenfalls Leistungen ablehnt, weil er diesen für erwerbsfähig hält und es zum Streit darüber kommt, ob die Einigungsstelle verspätet angerufen worden ist oder nicht. Damit würde die Absicht des Gesetzes in ihr Gegenteil verkehrt. Im Übrigen ist zu erwägen, ob bei fehlender unverzüglicher Anrufung der Einigungsstelle durch den die Feststellung der Beklagten nicht teilenden kommunalen Träger oder den bei voller Erwerbsminderung zuständigen Träger auch die Beklagte zur Anrufung befugt und ggfs. sogar verpflichtet ist. Ebenso müsste überlegt werden, ob bei verständiger Würdigung in dem Widerspruch gegen die Beurteilung der Beklagten die Anrufung der Einigungsstelle enthalten ist. Die die Voraussetzungen der Anrufung der Einigungsstelle regelnde Bestimmung des § 4 Abs. 1 EinigungsStVV, ihre Ermächtigungskonformität unterstellt, hat lediglich den Normalfall im Auge, schließt aber eine Anrufung durch die Beklagte in einem Fall wie dem vorliegenden nicht aus, in dem von einem dazu befugten Träger der Beurteilung zur Erwerbsfähigkeit zwar widersprochen, die Einigungsstelle von ihm aber nicht ausdrücklich angerufen wird. Ebensowenig würde es Bedenken begegnen, in einem solchen Fall im Widerspruch die gleichzeitige Anrufung der Einigungsstelle zu erblicken. Dies gilt insbesondere dann, wenn der widersprechende Träger von der Anrufung der Einigungsstelle deshalb Abstand nimmt, weil Meinungsverschiedenheiten zur Erwerbsfähigkeit in der Vergangenheit ohne Anrufung der Einigungsstelle auf dem "kleine Dienstweg" einvernehmlich gelöst worden sind. Die Anrufung der Einigungsstelle erfasst den Leistungsanspruch von Anfang an mit der Folge, dass Beklagte und kommunaler Träger auf der Grundlage des bis 31. Juli 2006 geltenden § 44 a Satz 3 SGB II Leistungen der Grundsicherung erbringen müssen.

Für die Zeit ab 1. August 2006 besteht ebenfalls ein Anordnungsanspruch. Zwar ist im Zuge des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende mit Wirkung ab 1. August 2006 § 44 a SGB II neu gefasst worden. Im Anschluss an die übernommene Bestimmung, dass die Agentur für Arbeit für die Feststellung, ob der Arbeitsuchende erwerbsfähig ist, zuständig ist, bestimmt § 44 a Abs. 1 Satz 2 1. Halbsatz Nr. 1 und Nr. 2 SGB II, dass die gemeinsame Einigungsstelle entscheidet, sofern der kommunaler Träger oder ein anderer Leistungsträger, der bei voller Erwerbsminderung zuständig wäre, der Feststellung widerspricht, wobei nach § 44 a Abs. 1 Satz 2 2. Halbsatz der Widerspruch zu begründen ist. Die bisherige Regelung, wonach bis zur Entscheidung der gemeinsamen Einigungsstelle die Agentur für Arbeit und der kommunale Träger Leistungen der Grundsicherung erbringt, ist ersatzlos gestrichen worden, ohne dass diese Streichung im Gesetzentwurf besonders begründet worden ist. § 44 a Abs. 2 SGB II begründet nunmehr ausdrücklich lediglich einen Erstattungsanspruch der Agentur für Arbeit und des kommunalen Trägers entsprechend § 103 SGB X für den Fall, dass die gemeinsame Einigungsstelle entscheidet, dass der Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht besteht und dem Hilfebedürftigen eine andere Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts zu erkannt wird. Dieser Erstattungsregelung hätte es nicht bedurft, wenn eine Leistungspflicht der Beklagten bis zur Entscheidung der Einigungsstelle nicht bestehen würde, sodass alles dafür spricht, dass die Streichung der Leistungspflicht auf einem Versehen des Gesetzgebers beruht, tatsächlich aber nicht beabsichtigt war. Die Voraussetzungen für eine Entscheidung der gemeinsamen Einigungsstelle sind erfüllt, denn der Landkreis R. hat im Sinne des § 44 a Abs. 1 Satz 2 SGB II n.F. der Feststellung der fehlenden Erwerbsfähigkeit widersprochen und diesen Widerspruch auch begründet. Sofern nicht weiterhin bis zur Entscheidung der Einigungsstelle von einer sich aus § 44 a Abs. 2 Satz 1 SGB II ergebenden Leistungspflicht der Beklagten und des kommunalen Trägers auszugehen wäre, müsste eine solche § 43 Abs. 1 Sätze 1 und 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) entnommen werden, der bei einem negativen Kompetenzkonflikt wie vorliegend eine Leistungspflicht der hier zuerst angegangenen Beklagten und damit auch des kommunalen Trägers begründet, wenn der Leistungsberechtigte vorläufige Leistungen beantragt. Das Begehren des Klägers ist auch als auf vorläufige Leistungen gerichtet anzusehen.

Obwohl es mithin nicht darauf ankommt, ob die Beurteilung der Beklagten zur Erwerbsfähigkeit zutreffend ist, was nunmehr die Einigungsstelle für die beiden Träger, nicht jedoch mit Wirkung gegenüber dem Kläger verbindlich zu entscheiden hat, weist der Senat darauf hin, dass es für die Feststellung zur Erwerbsfähigkeit einer aktuellen Beurteilung des derzeitigen Gesundheitszustandes und des Leistungsvermögens des Arbeitsuchenden bedarf und Gutachten, die wie vorliegend, fast ein Jahr alt sind, nicht in jedem Fall zum Nachweis der aktuellen körperlichen und geistigen Verfassung und des sich hieraus ergebenden Leistungsprofils herangezogen werden können. Das in § 8 Abs. 1 SGB II erwähnte Mindestleistungsvermögen muss ferner zukunftsgerichtet auf absehbare Zeit nicht vorliegen; dabei handelt es sich um einen Zeitraum von mindestens sechs vollen Monaten, was sich aus §§ 43 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2, 101 Abs. 1 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) ergibt. Wenn der Arbeitsuchende also voraussichtlich vor Beginn des siebten Monats wieder über ein Leistungsvermögen für Erwerbstätigkeiten von mindestens drei Stunden täglich verfügt, kann Erwerbsfähigkeit nicht verneint werden. Angesichts dessen, dass der Rentenversicherungsträger davon ausgegangen ist, das Ziel der medizinischen Rehabilitation lasse sich in voraussichtlich 20 Wochen erreichen, hätte es weiterer den Akten nicht zu entnehmender Gründe für die Annahme eines auf absehbare Zeit herabgesunkenen Leistungsvermögens bedurft.

Der Anordnungsanspruch für die Zeit ab 2. Juni 2006 ist zu bejahen; das bedarf keiner weiteren Darlegungen, da es um existenzsichernde Leistungen geht, die andernfalls dem Kläger vorenthalten werden. Der Senat hat von einer nach seiner Auffassung zulässigen notwendigen Beiladung (vgl. Senatsbeschluss vom 15. Mai 2006 - L 13 AS 1708/06 ER-B, abgedruckt in Juris zur Beiladung des Sozialhilfeträgers) des Landkreises R. als für die Leistungen der Unterkunft und Heizung zuständigem kommunalen Träger abgesehen, weil dieser dem Senat gegenüber verbindlich erklärt hat, er fühle sich an eine Verpflichtung der Beklagten auch für die von ihm zu erbringenden Leistungen gebunden.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 SGG.

Diese Entscheidung kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (vgl. § 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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