L 5 KA 11/05

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
5
1. Instanz
SG Mainz (RPF)
Aktenzeichen
S 6 KA 55/03
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 5 KA 11/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine durch die Prüfvereinbarung zugelassene Einzelfallprüfung im vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfungsverfahren, bei der die Prüfgremien der Frage nachgehen, ob der Vertragsarzt bei einem bestimmten Patienten den nach den Grundsätzen sachgerechten ärztlichen Handelns gebotenen Arzneimittelverord-nungsumfang überschritten hat, ist statthaft.
1. Auf die Berufung des Beklagten und der Beigeladenen zu 2 wird das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 8.12.2004 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten beider Instanzen. Sie hat der Beigeladenen zu 2 deren außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen zu erstatten. Außergerichtliche Kosten der übrigen Beigeladenen sind nicht zu erstatten.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen einen Arzneimittelregress auf Grund einer Einzelfallprüfung in den Quartalen II bis IV/2000 in Höhe von 1.407,77 EUR.

Der Prüfungsausschuss der Gemeinsamen Prüfungseinrichtungen der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) Pfalz überprüfte auf Antrag der Beigeladenen zu 2) die Wirtschaftlichkeit der Arzneiverordnungen der aus drei Allgemeinärzten bestehenden Klägerin bei dem Patienten J K (geb 1953) in den og Quartalen. Durch Bescheid vom 6.3.2002 ordnete er gegenüber den Klägerin einen Arzneimittelregress in Höhe von 1.719,44 EUR, ua betreffend zuviel verordneten Dosieraerosols, an.

Mit ihrem Widerspruch hiergegen machte die Klägerin geltend: Ursache der Überdosierung des Dosieraerosols sei der Schweregrad der seit 1983 bekannten Emphysemerkrankung des Patienten gewesen. Die Ärzte der Klägerin hätten immer wieder Versuche unternommen, den Medikamentengebrauch zu reduzieren bzw den Einsatz der Medikamente zu optimieren; wiederholt habe sich aber gezeigt, dass lediglich die Höherdosierung eine kurzfristige Erleichterung gebracht habe. Nachfragen bei der Herstellerfirma von Berodual hätten ergeben, dass eine Höherdosierung insbesondere bei schwer- und schwerstkranken Patienten einen zusätzlichen therapeutischen Nutzen bringen könnte. Das Phänomen der Überdosierung, bei der es nicht zu Todesfällen oder anderen schwerwiegenden Nebenwirkungen gekommen sei, sei in mehr als 100 Literaturstellen weltweit beschrieben worden. Als Gründe für die Überdosierung seien hierin vor allem der Schweregrad der Erkrankung (Emphysem), Schwierigkeiten mit der Inhalation, insbesondere im Zustand der akuten Panik, sowie die subjektive und auch objektive Wirksamkeit, auch bei starker Überdosierung, genannt worden. Diese Gesichtspunkte träfen auch bei dem Patienten J K zu. Der Patient hätte ohne die Überdosierungen sicherlich ein Vielfaches mehr an Zeit in stationärer Behandlung verbracht.

Der Beklagte half dem Widerspruch der Klägerin mit Bescheid vom 7.2.2003 (Beschluss vom 11.12.2002) teilweise ab und setzte einen Regress in Höhe von 1.407,77 EUR fest. Zur Begründung hieß es: Die Maximaldosierung von Berodual Dosieraerosol betrage nach der Fachinformation 12 Hübe pro Tag. Wenn man noch eine bestimmte Zahl von Fehlbedienungen seitens des Patienten hinzurechne, könnten höchstens 16 Hübe pro Tag als Maximaldosierung veranschlagt werden. Daraus errechne sich eine Menge von 4.416 Hüben, was 221 ml Berodual für den gesamten Prüfzeitraum (276 Tage) ergebe. Tatsächlich seien von den Ärzten der Gemeinschaftspraxis jedoch 22.800 Hübe = 1.140 ml Berodual verordnet worden. Unter Berücksichtigung der Packungsgröße seien der Klägerin 225 ml zuzugestehen. Hinsichtlich der restlichen 915 ml sei diese in Regress zu nehmen.

Am 13.2.2003 hat die Klägerin Klage erhoben. Durch Urteil vom 8.12.2004 hat das Sozialgericht (SG) den angefochtenen Bescheid aufgehoben und den Beklagten zur Neubescheidung verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Beklagte habe seinen ihm zustehenden Beurteilungsspielraum überschritten, indem er eine eingeschränkte Einzelfallprüfung durchgeführt habe, ohne eine Begründung für die Wahl dieser von der Regelprüfungsmethode abweichende Prüfmethode anzuführen.

Gegen dieses ihnen am 18.1.2005 zugestellte Urteil haben die Beigeladene zu 2) am 10.2.2005 und der Beklagte am 15.2.2005 Berufung eingelegt. Auf Anfrage des Senats haben Dr med G /W von der Firma B (I ) im Oktober 2005 mitgeteilt: Zu keinem Zeitpunkt sei ein Gespräch zwischen Mitarbeitern der Firma B und dem Arzt Dr V geführt worden, ob eine Höherdosierung bei schwer- und schwerstkranken Patienten einen zusätzlichen therapeutischen Nutzen bringen könne. Mit Dr V habe aber eine Korrespondenz stattgefunden, bei der diesem der Firma bekannte Publikationen zu dem Thema "Berodual und Überdosierung" unkommentiert weitergeleitet worden seien. Die in der Fachinformation angegebene Dosis von 12 Hüben/Tag solle nicht überschritten werden, da entsprechend der Datenlage kein weiterer therapeutischer Nutzen zu erwarten sei; gleichzeitig erhöhe sich bei einer Überdosierung die Wahrscheinlichkeit auch schwerwiegender Nebenwirkungen.

Der Beklagte und die Beigeladene zu 2) tragen vor: Die Regelprüfmethode, dh eine Vergleichsprüfung nach Durchschnittswerten, sei vorliegend von vornherein nicht in Betracht gekommen, sodass es nicht erforderlich gewesen sei, im angefochtenen Bescheid zwingende Gründe für die Wahl der Prüfmethode zu benennen. Aus dem Schreiben der Firma B werde deutlich, dass eine Überdosierung des Arzneimittels Berodual weder sinnvoll noch geboten gewesen sei.

Der Beklagte und die Beigeladene zu 2) beantragen,
das Urteil des SG Mainz vom 8.12.2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält an ihrem Klagebegehren fest.

Die Beigeladenen zu 1) und 3) -7) haben sich nicht geäußert und keinen Berufungsantrag gestellt.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die nach §§ 143 f, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG – zulässige Berufung ist begründet. Das Urteil des SG ist aufzuheben, weil der angefochtene Bescheid rechtmäßig ist.

Gemäß § 106 Abs 2 SGB V in der hier noch maßgebenden Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21.12.1992 (BGBl I 2266) haben die Prüfgremien die Wirtschaftlichkeit ua ärztlich verordneter Leistungen zu prüfen. Die Beklagte hat vorliegend eine Einzelfallprüfung durchgeführt. Diese war durch die für den streitigen Zeitraum maßgebende Prüfvereinbarung gedeckt. Nach deren § 8 Abs 3 konnte die Wirtschaftlichkeit, soweit durch Gesetz und Rechtsprechung zugelassen, auch durch arztbezogene Prüfung im Einzelfall für ärztliche Leistungen und Verordnungen von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln geprüft werden. Diese Prüfung umfasste nach Satz 2 2. Halbsatz dieser Vorschrift auch die Zulässigkeit der einzelnen Verordnungen nach den gesetzlichen und vertraglichen Regelungen.

Bei der Einzelfallprüfung sind die strenge und die eingeschränkte Einzelfallprüfung zu unterscheiden. Die strenge Einzelfallprüfung setzt im Gegensatz zur eingeschränkten Einzelfallprüfung bei der behandelten Erkrankung des Patienten an und versucht, dessen im Zeitpunkt der jeweiligen Behandlung bestehenden Gesundheitszustand nachträglich aufzuklären; die entsprechende Ermittlung hat in erster Linie durch ein Heranziehen des Patienten und/oder ihn betreffender Unterlagen oÄ zu geschehen (BSG 8.4.1992 – 6 RKA 27/90, juris Rz 33). Bei der eingeschränkten Einzelfallprüfung untersuchen die Prüfgremien Behandlungsfälle eines Arztes aufgrund von dessen Behandlungsangaben und Behandlungsunterlagen. Diese Prüfungsart unterscheidet sich von der strengen Einzelfallprüfung dadurch, dass bei der eingeschränkten Einzelfallprüfung der Behandlungsweise die Indikationsbeurteilung des geprüften Arztes zugrunde gelegt wird; es handelt sich damit nicht um eine "wirkliche" Einzelfallprüfung, sondern um eine Schlüssigkeitsprüfung (BSG 8.4.1992 aaO, juris Rz 38). Die repräsentative Einzelfallprüfung mit anschließender Hochrechnung ist eine auf einen Teil der Behandlungsfälle des Arztes in einem Quartal bezogene beschränkte Einzelfallprüfung, bei der eine Hochrechnung auf den gesamten Behandlungsumfang stattfindet (vgl BSG 8.4.1992 aaO, juris Rz 39).

Im Fall des Patienten J K handelte es sich hinsichtlich der Prüfung des Verordnungsumfangs des Medikaments Berodual nicht um eine eingeschränkte Einzelfallprüfung mit Hochrechnung, da ein Regress nur hinsichtlich der geprüften Einzelfälle vorgenommen wurde. Die Einzelfallprüfung war dadurch gekennzeichnet, dass die konkrete Behandlungssituation lediglich anhand der vorliegenden Rezepte überprüft wurde. Es kann offen bleiben, ob eine solche Prüfung, wie sie die Beklagte durchführte, eine strenge oder eine eingeschränkte Einzelfallprüfung darstellte. Bei einer strengen Einzelfallprüfung wäre eine Untersuchung nach statistischen Durchschnittswerten nicht vorrangig gewesen (vgl BSG 15.11.1995 – B 6 RKa 43/94, SozR 3-2500 § 106 Nr 33). Aber auch wenn man die vorliegend erfolgte Prüfung wegen der Beschränkung auf die Durchsicht der Rezepte als eingeschränkte Einzelfallprüfung qualifizieren würde, obwohl hinsichtlich der Diagnosen bei dem Patienten J K keine Zweifel bestanden, käme man zu keinem anderen Ergebnis. Die eingeschränkte Einzelfallprüfung ist nämlich zulässig, wenn es plausible Gründe gibt, um von einer Vergleichsprüfung nach Durchschnittswerten abzusehen (BSG 23.2.2005 – B 6 KA 72/03 R, juris Rz 21). Dies ist vorliegend der Fall. Der Arzt ist in jedem Teilbereich und auch in jedem Einzelfall zu einer wirtschaftlichen Behandlungs- und Verordnungsweise verpflichtet (BSG 5.11.1997 – B 6 RKa 1/97, juris Rz 23). Für die von dem Beklagten gewählte Prüfmethode, beschränkt auf den Patienten J K , gab es deshalb einen besonderen Grund, weil bei diesem Patienten in großem Umfang Berodual verordnet wurde. Bei dieser Fallgestaltung war die Einzelfallprüfung die sachgerechte Prüfmethode, zumal es darum ging, ob die Grenze des medizinisch Vertretbaren überschritten war, die gerade zur Vermeidung einer Gefährdung des einzelnen Patienten zu ziehen war. In einem solchen Fall kann nämlich aus der Feststellung der Überschreitung des zulässigen Verordnungsumfangs ohne weiteres der Schluss auf eine Unwirtschaftlichkeit gezogen werden, ohne dass es des Vergleichs mit der Verordnungsweise anderer Ärzte bedarf. Bei dieser Sachlage bedurfte es im angefochtenen Bescheid keiner Begründung, warum keine Vergleichsprüfung nach Durchschnittswerten durchgeführt wurde.

Der Beklagte ist zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass im Umfang des festgelegten Regressbetrages Unwirtschaftlichkeit vorlag. In der Praxis der Klägerin wurde dem Patienten J K Berodual in extremer Überdosierung verschrieben. Entsprechend den Fachinformationen betrug die Maximaldosierung von Berodual 12 Hübe pro Tag. Daher ist die Einschätzung des Beklagten, auch unter Mitberücksichtigung einer gewissen Zahl von Fehlbedienungen seitens des Patienten seien höchstens 16 Hübe pro Tag vertretbar gewesen, zutreffend. Anhaltspunkte für Fehlbedienungen in noch größerem Umfang hat die Klägerin nicht vorgebracht und sind auch sonst nicht ersichtlich. Die Richtigkeit der Beurteilung des Beklagten wurde durch die vom Senat eingeholte Auskunft der Firma B bestätigt. Einen Vertrauensschutz im Hinblick auf Äußerungen dieser Firma kann die Klägerin schon deshalb nicht geltend machen, weil seinerzeit kein Gespräch mit Mitarbeitern der Firma B stattfand und diese der Klägerin lediglich Publikationen zur Verfügung gestellt hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG.

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Streitsache zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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