L 8 AS 4680/06 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
8
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 2 AS 3504/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 AS 4680/06 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Nach § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Klage gegen Erstattungsbescheide, die auf § 50 Abs. 1 SGB X gestützt werden, aufschiebende Wirkung, unabhängig davon, ob die Festsetzung der Erstattung gemäß § 48 Abs. 3 S. 2 SGB X mit der Aufhebung verbunden oder hierüber mit einem gesonderten Bescheid entschieden worden ist (aA LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 14.06.2006 - L 13 AS 1824/06 ER-B). Dem Umstand, dass die Regelung in § 39 SGB II unter Gleichheitsgesichtspunkten problematisch ist, kann durch eine großzügige Anordnung der aufschiebenden Wirkung Rechnung getragen werden.
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 17. August 2006 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage vom 05. Januar 2006 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. Dezember 2005 angeordnet wird.

Die Antragsgegnerin trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren.

Gründe:

I.

Streitig ist die aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage.

Der 1972 geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Er ist seit 1991 verheiratet. Zusammen mit seiner Ehefrau und seinen vier Kindern bewohnt er eine 75 m2 große Wohnung. Auf seinen Antrag vom 19.10.2004 erließ die Antragsgegnerin den Bescheid vom 23.11.2004. Darin bewilligte sie dem Antragsteller, seiner Ehefrau und seinen Kindern (Bedarfsgemeinschaft) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 01.01.2005 bis 31.03.2005 in Höhe von monatlich 1255,79 EUR. Auf seinen weiteren Antrag vom 07.03.2005 erging der Bescheid vom 23.03.2005, mit dem Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.04.2005 bis 30.09.2005 in Höhe von monatlich 719,05 EUR gewährt wurden. Für die Zeit vom 01.02.2005 bis 30.06.2005 wurden an die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft Leistungen (Arbeitslosengeld II, Sozialgeld und Kosten der Unterkunft) in Höhe von 4322,82 EUR gezahlt.

Die Ehefrau des Antragstellers war bis zum 31.12.2004 sozialversicherungspflichtig beschäftigt und ab 01.01.2005 arbeitslos. Sie erhielt von der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 28.01.2005 Arbeitslosengeld ab 01.01.2005 bis 31.12.2005 bewilligt. Der tägliche Leistungssatz belief sich auf 36,09 EUR. Die erste Zahlung erfolgte vermutlich im Februar 2005.

Mit einem an den Antragsteller gerichteten Bescheid vom 12.07.2005 hob die Antragsgegnerin die Bewilligung von Leistungen für die Zeit ab 01.02.2005 auf, weil eine Hilfebedürftigkeit nicht mehr gegeben sei. Mit einem zweiten Bescheid, ebenfalls mit Datum vom 12.07.2005, forderte die Antragsgegnerin Leistungen in Höhe von 4322,82 EUR vom Antragsteller unter Hinweis auf die Aufhebung der Bewilligung ab 01.02.2005 auf der Grundlage von § 50 Abs. 1 SGB X zurück. Dem Widerspruch des Antragstellers gab die Antragsgegnerin im Widerspruchsbescheid vom 05.12.2005 teilweise statt. In Abänderung des Bescheides vom 12.07.2005 wurde festgestellt, dass sich der Rückforderungsbetrag auf 2267,79 EUR mindert. Im Übrigen wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, das der Ehefrau des Antragstellers mit Bescheid vom 28.01.2005 zuerkannte Arbeitslosengeld sei als Einkommen auf die Leistungen nach dem SGB II anzurechnen. Es sei davon auszugehen, dass die erste Zahlung im Februar 2005 zugeflossen sei. Für die Zeit von Januar bis März 2005 sei somit nach § 48 SGB X zu beurteilen, ob die Bewilligung des Arbeitslosengeldes II aufgehoben werden könne. Dies sei der Fall, wenn - wie hier - nach Bewilligung der Leistung Einkommen erzielt worden sei. Für den Monat Februar 2005 sei der gesamte Leistungsbetrag von 1255,79 EUR zurückzuzahlen und für den Monat März 2005 eine Überzahlung von 1012,00 EUR. Die zuviel gezahlten Leistungen seien nach § 50 Abs. 1 SGB X zu erstatten. Für die Zeit ab April 2005 sei die Rücknahme nach § 45 SGB X zu prüfen gewesen. Hier sei ein Rücknahmegrund nicht gegeben.

Am 05.01.2006 hat der Antragsteller Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben, über die noch nicht entschieden worden ist (S 2 AS 87/06). Den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (S 2 AS 3504/04 ER) hat er am 25.07.2006 gestellt. Diesem Antrag hat das SG mit Beschluss vom 17.08.2006 insofern stattgegeben, als es festgestellt hat, dass die Anfechtungsklage vom 05.01.2006 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 12.07.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2005 aufschiebende Wirkung hat. Der Beschluss ist der Antragsgegnerin am 24.08.2006 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden.

Am 15.09.2006 hat die Antragsgegnerin Beschwerde gegen den Beschluss des SG eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat. Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, dass die Klage des Antragsteller gemäß § 39 SGB II keine aufschiebende Wirkung hat.

II.

Die gemäß den §§ 172ff Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Soweit der Senat die Beschwerde mit einer Maßgabe zurückgewiesen hat, beruht dies lediglich auf dem Umstand, dass er anders als das SG nicht der Ansicht ist, dass die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage bereits kraft Gesetzes eintritt. Ein Erfolg der Beschwerde ist darin aber nicht zu sehen.

Das Gericht der Hauptsache kann gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Entgegen der vom SG vertretenen Auffassung haben nach der Rechtsprechung des Senats allerdings Widerspruch und Klage gegen einen Bescheid, mit eine Leistungsbewilligung nach dem SGB II gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 SGB II iVm § 48 SGB X aufgehoben und Leistungen gemäß § 50 Abs. 1 SGB X zurückgefordert werden, nicht bereits kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung. Zwar haben nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG Widerspruch und Klage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung entfällt jedoch in den durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG). Ein solcher Fall ist hier gegeben. Nach § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Klage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung. Da Widerspruch und Klage nur aufschiebende Wirkung besitzen können, wenn Entscheidungen der Leistungsträger mit einem bloßen Anfechtungsbegehren angegangen werden, kommen lediglich Aufhebungsentscheidungen nach den §§ 45ff SGB X i.V.m. § 40 SGB II und Entscheidungen über die Absenkung und den Wegfall von bereits bewilligtem Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld gemäß den §§ 31, 32 SGB II in Betracht (Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 39 RdNr. 12).

Nichts anderes gilt nach Auffassung des Senats für Erstattungsbescheide, unabhängig davon, ob die Festsetzung der Erstattung gemäß § 48 Abs. 3 S. 2 SGB X mit der Aufhebung verbunden oder hierüber mit einem gesonderten Bescheid entschieden worden ist. Eine auf § 50 Abs. 1 SGB X gestützt Erstattungspflicht setzt voraus, dass insoweit zuvor ein die Leistung bewilligender Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Die Aufhebung einer Entscheidung, mit der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende zuerkannt worden waren, ist aber ohne Zweifel auch eine Entscheidung über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Somit stellt sich die Erstattung (auch) als Vollziehung des Aufhebungsbescheides dar. Hat aber der Aufhebungsbescheid keine aufschiebende Wirkung, darf er also vollzogen werden, kann auch der Erstattungsentscheidung keine aufschiebende Wirkung zukommen, weil damit die gesetzliche Regelung in ihr Gegenteil verkehrt würde. Soweit die Gegenmeinung (LSG Baden-Württemberg 13. Senat Beschluss vom 14.06.2006 - L 13 AS 1824/06 ER-B mit weiteren Nachweisen) eine einschränkende Interpretation des § 39 Nr. 1 SGB II vornimmt und Erstattungsbescheide nach § 50 SGB X nicht als Entscheidungen über Leistungen der Grundsicherung iSd § 39 Nr. 1 SGB X ansieht, vermag dies nicht zu überzeugen. Gerade der Hinweis auf die Rechtslage in anderen Bereichen (z.B. § 336a SGB III), in denen Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Entziehungsbescheide aufschiebende Wirkung zukommt, macht deutlich, dass der Gesetzgeber hiervon bewusst abgewichen ist. Denn es kann schwerlich unterstellt werden, dass die Regelung in § 39 SGB II nur auf einem redaktionellen Versehen beruht. Zwar mag es durchaus nur bedingt einleuchten (so die Formulierung von Eicher in Eicher/Spellbrink SGB II § 39 RdNr. 3), dass mit § 39 SGB II von der für den Einzelnen günstigeren Regelung des § 336a SGB III abgewichen wird, daraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass der Gesetzgeber nicht das, was er geregelt hat, auch regeln wollte. Dem Umstand, dass die Regelung des § 39 SGB II unter Gleichheitsgesichtpunkten problematisch ist, kann durch eine großzügige Anordnung der aufschiebenden Wirkung Rechnung getragen werden (Eicher aaO).

Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs aufgrund von § 86b Abs. 1 Nr.2 SGG ist anhand einer Interessenabwägung zu beurteilen. Die öffentlichen Interessen am sofortigen Vollzug des Verwaltungsakts und die privaten Interessen an der Aussetzung der Vollziehung sind gegeneinander abzuwägen (Krodel, Der sozialgerichtliche Rechtsschutz in Anfechtungssachen, NZS 2001, 449, 453). Dabei ist zu beachten, dass das Gesetz mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung in § 39 SGB II dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheides Vorrang vor dem Interesse des Betroffenen an einem Aufschub der Vollziehung einräumt (kritisch hierzu Eicher a.a.O. § 39 RdNr. 3). Diese typisierend zu Lasten des Einzelnen ausgestaltete Interessenabwägung (Eicher a.a.O. RdNr. 2) kann aber im Einzelfall auch zu Gunsten des Betroffenen ausfallen. Die konkreten gegeneinander abzuwägenden Interessen ergeben sich in der Regel aus den konkreten Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens, dem konkreten Vollziehungsinteresse und der für die Dauer einer möglichen aufschiebenden Wirkung drohenden Rechtsbeeinträchtigung (Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 1. Aufl. 2005, RdNr. 195).

Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur einstweiligen Anordnung entwickelten Grundsätze anzuwenden (Krodel aaO RdNr. 205). Danach sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung zu Gunsten des Antragstellers nicht erginge, die Klage später aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erlassen würde, der Klage aber der Erfolg zu versagen wäre (st. Rspr des BVerfG; vgl. BVerfG NJW 2003, 2598, 2599 m.w.N.).

Die aufschiebende Wirkung der gegen den Bescheid vom 12.07.2005 gerichteten Klage ist anzuordnen, weil Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung bestehen. Rechtsgrundlage des Bescheides vom 12.07.2005 ist § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 48 Abs. 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt muss nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X i.V.m. mit dem über § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II anwendbaren § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit nach Erlass des Verwaltungsakts Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde. Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum auf Grund der besonderen Teile des Sozialgesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraums (§ 48 Abs. 1 Satz 3 SGB X). Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 der auf der Grundlage von § 13 SGB II ergangenen Verordnung zur Berechung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung - Alg II-V) vom 20.10.2004 (BGBl I S. 2622) in der hier noch anzuwendenden bis 30.09.2005 geltenden Fassung sind laufende Einnahmen für den Monat zu berücksichtigen, in dem sie zufließen. Die Regelung in § 2 Abs. 2 Satz 1 Alg II-V wird von der Ermächtigungsgrundlage des §13 SGB II gedeckt und steht mit höherrangigem Recht im Einklang; sie entspricht im Übrigen auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgericht (BSG) zur Einkommensanrechnung bei der Arbeitslosenhilfe (Alhi) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zur Einkommensanrechnung bei der Sozialhilfe (LSG Baden-Württemberg Urteil vom 17.03.2006 - L 8 AS 4314/05 -).

Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass es darauf ankommt, ab wann der Ehefrau des Antragstellers das Arbeitslosengeld ausbezahlt worden ist. Hierfür reicht die Feststellung im Widerspruchsbescheid vom 06.12.2005, es sei davon auszugehen, dass die erste Zahlung im Februar 2005 zugeflossen ist, nicht aus. Es bedarf daher einer weiteren Sachverhaltsaufklärung zu der Frage, ab wann und in welcher Höhe Zahlungen an die Ehefrau des Antragstellers erfolgt sind. Weiterhin ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin die Regelung in § 40 Abs. 2 Satz 1 SGB II in der bis zum 31.03.2006 geltenden Fassung berücksichtigt hat. Danach sind abweichend von § 50 SGB X 56 v. H. der Kosten für Unterkunft, mit Ausnahme der Kosten für Heizungs- und Warmwasserversorgung, nicht zu erstatten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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