L 9 AS 44/06 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 1 AS 40/06 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 44/06 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 25. Januar 2006 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Verfahrensziel ist die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Zahlung von 99,15 EUR wegen gehabter Aufwendungen für eine Familienfeier im Wege der einstweiligen Anordnung.

Der Antragsteller bezieht seit 1. Januar 2005 von der Antragsgegnerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Durch Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. Mai 2005 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 6. September 2005 und des Widerspruchsbescheides vom 14. Oktober 2005 wurden ihm für den Zeitraum 1. Juli 2005 – 30. November 2005 monatlich zustehende Leistungen in Höhe von zuletzt 657,79 EUR bewilligt. Wegen der Leistungshöhe erhob der Antragsteller am 18. November 2005 Klage bei dem Sozialgericht Kassel (S 1 AS 550/05), über die nach Aktenlage noch nicht entschieden ist. Das zeitgleich bemühte einstweilige Rechtsschutzverfahren hatte keinen Erfolg (Sozialgericht Kassel, Beschluss vom 22. Dezember 2005 – S 1 AS 551/05 ER); über die bei dem Hessischen Landessozialgericht dagegen eingelegte Beschwerde ist noch nicht entschieden (L 9 AS 43/06 ER). Durch Bescheid vom 15. November 2005 wurden dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum ab 1. Dezember 2005 in Höhe von 657,79 EUR und durch Änderungsbescheid vom 9. Januar 2006 für den Zeitraum 1. Februar 2006 – 31. Mai 2006 in Höhe von 665,29 EUR weiterbewilligt, - darin: 345,00 EUR Regelleistung für erwerbsfähige Hilfebedürftige und 35,79 EUR Mehrbedarf zum Lebensunterhalt für kostenaufwändige Ernährung und 284,50 EUR anerkannte monatliche Kosten für Unterkunft und Heizung.

Der Kläger beantragte am 8. Januar 2006 bei der Antragsgegnerin Leistungen für Fahrkosten (K. – H. – K.) sowie Kleidungskosten (Hemd, Krawatte, Schuhe) aus Anlass seiner geplanten Teilnahme an der Goldenen Hochzeit seiner Tante und seines Onkels K. und E. G. in U. am 11. Februar 2006. – Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag durch Bescheid vom 13. Januar 2006 ab, weil die beantragten Leistungen durch die gewährte Regelleistung in Höhe von 345,00 EUR abgedeckt sei. Die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 20 Abs. 1 SGB II umfasse insbesondere in vertretbarem Umfang Bedarfe wegen Beziehungen zur Umwelt und Teilnahme am kulturellen Leben. Die beantragten Leistungen seien nach den vorliegenden Unterlagen auch nicht als unabweisbare Bedarfe im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß § 23 Abs. 1 SGB II zu gewähren. - Der Antragsteller erhob gegen den Bescheid vom 13. Januar 2006 am 18. Januar 2006 Widerspruch, den die Antragsgegnerin durch Widerspruchsbescheid vom 5. April 2006 unter Hinweis auf die gewährte Regelleistung als unbegründet zurückwies.

Der Antragsteller hat am 16. Januar 2006 bei dem Sozialgericht Kassel die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz mit dem Ziel beantragt, die Antragsgegnerin zur Zahlung von 22,20 EUR Fahrtkosten sowie ca. 100,- EUR Kleidungskosten für ein Hemd, eine Krawatte und Schuhe zu verpflichten. Zur Eilbedürftigkeit hat er auf die zeitliche Nähe der Feier am 11. Februar 2006 hingewiesen. Zur Begründung eines diesbezüglichen Leistungsanspruchs hat er sein Bedürfnis geltend gemacht, seine seit Jahren nicht mehr gesehene Verwandtschaft zu besuchen. Einem Hilfebedürftigen müsse unter Würdigung der gesamten Lebensumstände, seiner Grundrechte sowie der einschlägigen Normen der Sozialgesetze ermöglicht werden, an einer Familienfeier teilzunehmen. Da seine Regelleistung zur Bedarfsdeckung nicht ausreiche, müsse er konkrete Anträge zur Bedarfsdeckung stellen, was er jetzt verschiedentlich getan habe. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass er seine Regelleistung für den Monat Februar 2006 voraussichtlich am 15. Februar 2006 aufgebraucht haben werde, wenn er die notwendigen Aufwendungen für die Familienfeier aus seiner Regelleistung erbringe. Wenn dann sein Existenzminimum nicht gedeckt sei, müssten sich die Gerichte – nach den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätzen – zur Wahrung der Würde des Menschen schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. – Die Antragsgegnerin hat den Antrag auf Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz als nicht begründet angesehen und die Existenz einer Rechtsgrundlage für die beantragten Leistungen verneint.

Das Sozialgericht Kassel hat durch Beschluss vom 25. Januar 2006 den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung abgelehnt und seine Entscheidung im Wesentlichen darauf gestützt, dass die Kosten für die Teilnahme an Feiern naher Familienangehöriger aus den Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gem. § 20 Abs. 1 SGB II zu bestreiten seien, welche die Bedarfe des täglichen Lebens sowie in vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben mit umfassten. Darunter lasse sich ohne weiteres auch die Teilnahme an einer derartigen Familienfeier subsumieren, die dem allgemeinen persönlichen Bedürfnis entspringe, auch über die alltäglichen Kontakte hinaus in gewissen zeitlichen Abständen Formen der Geselligkeit zu pflegen, die der Aufrechterhaltung, Festigung und Vertiefung zwischenmenschlicher, familiärer, freundschaftlicher oder nachbarschaftlicher Beziehungen dienten. Dem Antragsteller müsse zugemutet werden, die Fahrtkosten wie auch möglicherweise notwendige Bekleidungskosten aus den ihm zur Verfügung gestellten Mitteln anzusparen.

Gegen den ihm am 27. Januar 2006 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 25. Januar 2006 hat der Antragsteller am 1. Februar 2006 (Eingang bei dem Sozialgericht Kassel) Beschwerde bei dem Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Mit der Beschwerde begehrt er weiter die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Zahlung von insgesamt 99,15 EUR (22,20 EUR Fahrtkosten und 76,95 EUR Bekleidungskosten) für die stattgefundene Teilnahme an der Familienfeier. Zur Begründung hat er zunächst sein bisheriges Vorbringen wiederholt und bekräftigt, dass die beantragten Leistungen zur Durchführung der Teilnahme an der Familienfeier am 11. Februar 2006 unverzichtbar gewesen seien. Die ihm zur Verfügung gestellten Mittel reichten für ein an der Menschenwürde orientiertes Leben, wozu auch die Teilnahme an einer Familienfeier zähle, nicht aus. Ein Ansparen der dafür benötigten Mittel aus der Regelleistung sei ihm nicht möglich gewesen. Wenn ein Ansparen der benötigten Mittel allerdings für möglich erachtet werde, sei unverständlich, dass weder die Antragsgegnerin noch das Sozialgericht die Darlehensgewährung in Erwägung gezogen hätten. Daraus müsse geschlossen werden, dass die Regelleistung für den geltend gemachten Bedarf nicht ausreiche, weshalb ihm dann eine Regelleistungserhöhung nach § 20 Abs. 2 SGB II oder ein Mehrbedarf gem. § 23 Abs. 1 SGB II zu gewähren sei. Im Übrigen seien ihm jedenfalls die beantragten Bekleidungsbedarfe auch als Bekleidungserstausstattung zu gewähren. Nach stattgefundener Teilnahme an der Familienfeier stützt der Antragsteller sein Begehren nunmehr auf den vollständigen Verbrauch seiner Regelleistung für Februar 2006 infolge der Aufwendungen für die Familienfeier am 11. Februar 2006. Ihm als Hilfebedürftigen müsse ein Spielraum in Eigenverantwortung zugestanden werden, wie er seine Bedürfnisse für sich gewichte und aus den ihm gewährten Leistungen decke. Weder das Sozialgericht Kassel noch die Antragsgegnerin hätten seiner Teilnahme an der Feier widersprochen. Das sei kein unwirtschaftliches Verhalten seinerseits, führe aber zu einer Unterversorgung bei anderen Bedarfen, insbesondere der Versorgung mit Nahrungsmitteln. Zur Nahrungsmittelversorgung könne er auch nicht auf die Möglichkeit der Versorgung durch die X. Tafel verwiesen werden, für deren Hilfeleistungen 2,- EUR zu entrichten seien. Er werde deshalb ab dem morgigen Tag seine Nahrungsaufnahme einstellen müssen. Aufgrund dieser Existenzgefährdung bestehe eine dringliche Notlage, die eine sofortige Entscheidung des Gerichts im einstweiligen Rechtsschutzverfahren erfordere. Die Beschwerde habe darüber hinaus das Ziel, den Verfassungsverstoß durch die in § 20 SGB II definierte Regelleistung zu belegen. Er sehe die zu treffende Entscheidung des Landessozialgerichts als eine Zwischenstation auf dem Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht an und rege einen Vorlagebeschluss an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz an.

Der Antragsteller beantragt (sinngemäß),
den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 25. Januar 2006 aufzuheben und die Antragsgegnerin durch einstweilige Anordnung zu verpflichten, ihm als zusätzliche Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch II Kosten für die Teilnahme an der Familienfeier am 11. Februar 2006 in Höhe von 99,15 EUR zu gewähren,
hilfsweise,
ihm die begehrten 99,15 EUR als Darlehen zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Antragsgegnerin erachtet die Beschwerde als nicht begründet; sie sieht keine Rechtsgrundlage für die begehrte Leistung. Insbesondere sei § 23 SGB II nicht dahingehend auszulegen, dass Aufwendungen für eine Familienfeier umfasst seien. Es sei nicht ersichtlich, dass es sich hier um einen unabweisbaren Bedarf handele. Zum eigenverantwortlichen Mitteleinsatz seitens des Antragstellers könne es nicht gehören, Bekleidung in Kostenhöhe von 76,95 EUR ohne ein Ansparen der dafür nötigen Mittel oder eine Kostenübernahmezusage des Leistungsträgers zu erwerben. Auch sei nicht glaubhaft gemacht, dass der Antragsteller seinen Bedarf nicht anderweitig decken könne, z.B. durch Inanspruchnahme seines Sparkontos, auf das er monatlich 34,50 EUR habe einzahlen wollen. Die Gewährung von Leistungen zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes ab dem 17. Februar 2006 sei nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens. Eine tatsächliche Einstellung der Nahrungszufuhr werde allerdings auch angezweifelt; höchst vorsorglich werde auf die Möglichkeit einer Versorgung mit Nahrungsmitteln bei der X. Tafel verwiesen. Im Übrigen liege es in der Verantwortung des Hilfebedürftigen, die ihm zur Verfügung stehenden Mittel so einzusetzen, dass seine Ernährung sichergestellt sei. Auch seien 250,00 EUR Bekleidungskosten für ein Vorstellungsgespräch im Verfahren S 1 AS 56/06 ER bei dem Sozialgericht Kassel anhängig. Weiter seien 150,00 EUR zum Bestreiten des Lebensunterhalts im Februar 2006 Gegenstand des Verfahrens S 1 AS 90/06 ER.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der Beiakte L 9 AS 43/06 ER verwiesen.

II.

Die Beschwerde des Antragstellers ist statthaft (§ 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz SGG ) und insbesondere form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegt; das Sozialgericht hat der Beschwerde am 2. Februar 2006 nicht abgeholfen (§ 174 SGG).

Im Zeitpunkt der Entscheidung des erkennenden Gerichts besteht auch weiterhin ein Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers. Die Inanspruchnahme von einstweiligem Rechtsschutz kommt zur Beseitigung einer in der Vergangenheit entstandenen und bis in die Gegenwart fortwirkenden Notlage in Betracht (Oberverwaltungsgericht Schleswig vom 13. Januar 1993 – 5 M 112/92; Hessisches Landessozialgericht - HLSG - vom 20. Juni 2005 – L 7 AL 100/05 ER). Für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die gegenwärtigen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich (HLSG vom 29. Juni 2005 – L 7 AS 1/05 ER; LSG Baden-Württemberg vom 17. August 2005 – L 7 SO 2117/05 ER – B). Das Fortwirken des Bedarfs mit dem Ziel einer Teilnahme an der Familienfeier ist auch nach zwischenzeitlich stattgefundener Teilnahme am 11. Februar 2006 zu bejahen, weil der Kläger den geltend gemachten Sonderregelleistungsbedarf aus dem Geldbetrag seiner Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gedeckt hat. Auf eine Beschwerdeänderung (vgl. § 99 Absatz 1 und 2 SGG) vom ursprünglichen Bedarf "Familienfeier am 11. Februar 2006" in den Folgebedarf "Sicherung des Lebensunterhalts ab 17. Februar 2006" hat sich die Antragsgegnerin nicht eingelassen (Schriftsatz vom 23. Februar 2006). Insoweit befindet sich der Antragsteller auf seinen Antrag vom 5. Februar 2006 im Verwaltungsverfahren mit der Antragsgegnerin gewandt.

Die Beschwerde ist nicht begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 25. Januar 2006 ist nicht aufzuheben oder abzuändern; das Sozialgericht hat die Voraussetzungen für den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung zutreffend verneint. Die begehrte Anordnung hat auch im Beschwerdeverfahren nicht zu ergehen.

Das Gericht kann auf Antrag nach § 86b Abs. 2 SGG eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1); es kann eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Satz 2). Neben dem Anordnungsgrund, das ist: der Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, setzt die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz nach herrschender Meinung (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 8. Auflage, Rdnr. 26c zu § 86b) einen Anordnungsanspruch, das ist: ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die Leistung, voraus, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System gegenseitiger Wechselbeziehung: Ist etwa die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund (wie vor, Rdnr. 29). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, wenn die grundrechtlichen Belange des Antragstellers berührt sind, weil sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen müssen (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05).

Alle Voraussetzungen des Einstweiligen Rechtsschutzes sind – unter Beachtung der Grundsätze der objektiven Beweislast – glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO -); die richterliche Überzeugungsgewissheit in Bezug auf die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes erfordert insoweit eine lediglich überwiegende Wahrscheinlichkeit (Meyer-Ladewig, a. a. O., Rdnr. 16b). Sind Grundrechte tangiert, ist die Sach- und Rechtslage allerdings nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (Bundesverfassungsgericht, a. a. O.).

In dem anhängigen Verfahren spricht nach dem derzeitigen Sach- und Rechtsstand keine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes sowie eines Anordnungsanspruchs zugunsten des Antragstellers. Eine Notwendigkeit zur Regelung des zwischen den Beteiligten streitigen Rechtsverhältnisses durch einstweilige Anordnung ist nach Würdigung aller Umstände nicht zu bejahen.

Ein Anordnungsgrund ist nicht glaubhaft gemacht. Es ist nicht glaubhaft gemacht worden, dass der Antragsteller an der Familienfeier nur angemessen teilnehmen konnte, wenn er über die begehrten neuen Kleidungsstücke verfügte. Insbesondere ist nicht erkennbar, warum er hierfür ein Hemd im Wert von fast 50,- Euro tragen musste. – Die Anforderungen an den Anordnungsgrund sind auch nicht wegen offensichtlicher Begründetheit des Anordnungsanspruchs gemindert.

Ein Anordnungsanspruch in Bezug auf die begehrte Leistung ist nicht glaubhaft gemacht. Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende werden gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 2 SGB II in Form von Geldleistungen, insbesondere zur Eingliederung der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in Arbeit und zur Sicherung des Lebensunterhaltes der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen erbracht. Erwerbsfähige erhalten gemäß § 19 Abs. 2 Nr. 1 SGB II als Arbeitslosengeld II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Dazu zählen die Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 20 SGB II), die Leistungen für Mehrbedarfe beim Lebensunterhalt (§ 21 SGB II), die Leistungen für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II) sowie abweichend von der Regelleistung zu erbringende Leistungen (§ 23 SGB II). Die Aufwendungen für die Familienfeier kann der Antragsteller nach keiner der genannten Regelungen zusätzlich beanspruchen.

Die Regelleistung nach § 20 Abs. 2 SGB II in Höhe von 345 EUR monatlich wurde dem Antragsteller durch Bescheid vom 15. November 2005 und Änderungsbescheid vom 9. Januar 2006 gewährt. - Soweit der Antragsteller die pauschale Erhöhung der Regelleistung um mindestens 19 % begehrt, ist dies Gegenstand des Beschwerdeverfahrens L 9 AS 43/06 ER zu dem Einstweiligen Rechtsschutzverfahren S 1 AS 551/05 ER, welches zeitlich früher (am 18. November 2005) als das dem anhängigen Beschwerdeverfahren vorausgehende Einstweilige Rechtsschutzverfahren S 1 AS 40/06 ER (am 16. Januar 2006) bei dem Sozialgericht Kassel anhängig gemacht wurde.

Erstausstattungsleistungen für Bekleidung nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II, die nicht von der Regelleistung umfasst und gesondert zu erbringen sind, kann der Antragsteller gleichfalls nicht verlangen. Voraussetzung für die Gewährung einer Erstausstattung sind – neben den im Gesetz genannten Ereignissen (Schwangerschaft, Geburt) – außergewöhnliche Umstände (Bundestags-Drucksache 15/1514, 60). Daran fehlt es hier; denn der Antragsteller hatte seine im Besitz befindliche Bekleidung nicht durch außergewöhnliche Umstände verloren etc. Die Teilnahme an einer Familienfeier ist ihrer Art nach kein so außergewöhnlicher Umstand, dass dadurch ein Erstausstattungsbedarf an Bekleidung ausgelöst würde.

Eine Sonderregelleistung nach § 23 Abs. 1 SGB II in Form eines Darlehens kann der Antragsteller schließlich auch nicht verlangen; denn die Leistungsvoraussetzungen sind nicht glaubhaft gemacht. Kann im Einzelfall ein von den Regelleistungen umfasster und nach den Umständen unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts weder durch das Vermögen nach § 12 Abs. 2 Nr. 4 SGB II noch auf andere Weise gedeckt werden, erbringt die Agentur für Arbeit bei entsprechendem Nachweis den Bedarf als Sachleistung oder als Geldleistung und gewährt dem Hilfebedürftigen ein entsprechendes Darlehen (§ 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Die Teilnahme an einer Familienfeier ist von der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes umfasst (§ 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II: "Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben"); der diesbezügliche Bedarf ist jedoch nicht unabweisbar. Der unbestimmte Rechtsbegriff der Unabweisbarkeit ist gesetzlich nicht definiert und auch den Gesetzgebungsmotiven (Bundestags-Drucksache 15/1516, 57) nicht zu entnehmen. Nach Gesetzessystematik und –wortlaut ist der "unabweisbare" Bedarf jedenfalls enger zu fassen als der "notwendige" Bedarf; er wird in der Kommentierung an der Grenze des zum Leben Unerlässlichen und bei einer 20%-igen Bedarfsunterdeckung gesehen (Eicher/Spellbrink, SGB II, Kommentar, § 23 Rdnr. 23 – 32 m.w.N.). Als Notlagen, die keinen weiteren Aufschub der Hilfeleistung dulden, werden Situationen nach Wohnungsbrand oder sonstigem Verlust von Gebrauchsgegenständen vorgestellt (Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe, SGB II, Loseblatt, 4. Lieferung, § 23 Rdnr. 5). In der Rechtsprechung wurden Sonderregelleistungsbedarfe in Einzelfällen anerkannt: aufgrund der Pflege und Betreuung eines kranken Kindes (Sozialgericht Berlin vom 23. November 2005 – S 37 AS 8519/05 ER), aufgrund der Wahrnehmung des Umgangsrechts mit dem getrennt lebenden Kind (SG Dresden vom 5. November 2005 - S 23 AS 982/05 ER) sowie aufgrund krankheitsbedingter Kosten für Heil- und Körperpflegemittel (SG Lüneburg vom 11. August 2005 – S 30 AS 328/05 ER).

Der hier streitbefangene Bedarf "Aufwendungen für eine Familienfeier" erfüllt die engen Voraussetzungen einer Unabweisbarkeit nicht: Die Teilnahme an einer Familienfeier (z. B. Silberhochzeit, Geburtstagsfeier, Kindergeburtstag) dient dem allgemeinen persönlichen Bedürfnis der Aufrechterhaltung, Festigung und Vertiefung zwischenmenschlicher Beziehungen, hat jedoch nicht die herausragende - religiöse oder gesellschaftliche - Bedeutung, wie sie für die Taufe, die Erstkommunion oder die Eheschließung anerkannt ist, was nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) einmalige Leistungen für die Ausrichtung entsprechender Feiern begründen konnte (Hamburgisches Oberverwaltungsgericht vom 30. Dezember 1993, BS IV 241/93; Lehr- und Praxiskommentar, BSHG, 4. Auflage, § 21 Rdnr. 45 – 48 m.w.N.). Wäre die Teilnahme an der Goldenen Hochzeit von Tante und Onkel des Antragstellers nicht einmal ein besonderer Leistungsanlass nach dem BSHG, fehlt für die Annahme eines unabweisbaren Bedarfs umso mehr eine überzeugende Begründung.

Danach muss zur Begründung der Entscheidung nicht darauf zurückgegriffen werden, dass der Antragsteller wegen Anschaffungen zunächst auf seine Ansparungen verwiesen ist (Brühl/Hofmann, SGB II, Grundsicherung für Arbeitsuchende, Seite 127), über die der Antragsteller nach eigenem Vorbringen in Höhe von 30,00 EUR verfügte (Schriftsatz vom 4. März 2006) und die er immerhin für den Erwerb eines Hemdes, einer Krawatte sowie von einem Paar Socken sparsam hätte einsetzen können.

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nach § 177 SGG nicht anfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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