S 1 U 100/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 1 U 100/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 14.10.2003 und 20.10.2004 verurteilt, das Ereignis vom 24.09.2002 als Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Kläger Leistungen nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Der Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergericht- lichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der beklagten Berufsgenossenschaft die Anerkennung und Entschädigung eines Arbeitsunfalles.

Der 1979 geborene Kläger arbeitete um sein Studium zu finanzieren beim Grenzlandtheater B. als Aushilfe, wenn das Theater auf Tournee ging. Er half dann beim Auf- und Abbau der Bühnen. Am 00.00.2002 baute das Grenzlandtheater B. in der städtischen Realschule K. eine Bühne auf. Gegen 16:00 Uhr stand der Kläger auf einem 1,20 m hohen Podest. Eine 1,20 m breite, 2,40 m hohe und und 23 kg schwere Kulissenwand, bestehend aus einer Holzspanplatte, lehnte gegen das Podest. Nach dem Wortlaut der Unfallanzeige des Arbeitgebers und dem ersten Bericht des Klinikums fasste er die Platte rechts und links an den Kanten und wollte sie auf das Podest heben. Bei diesem Heben verspürte er einen messerstichartigen Schmerz im Rücken links oberhalb der Taille. Die folgende Stunde bis Feierabend konnte er nur noch kleinere Arbeiten verrichten. Der Schmerz im Rücken hatte zwar nachgelassen und war erträglich geworden, jedoch verspürte er zuhause ca. dreieinhalb Stunden nach dem Ereignis ein unangenehmes Kribbeln in den Beinen. Die Rückenschmerzen nahmen wieder zu und 30 bis 45 Minuten später konnte er seine Beine nicht mehr bewegen. Beim Eintreffen in der Notaufnahme des Uniklinikums B. lag eine eine komplette Paraphlegie (Querschnittslähmung) auf Höhe TH 10 mit einer Blasen- und Mastdarmstörung vor. Nach konsequenter krankengymnastischer Therapie und einer fünfmonatigen stationären Reha-Behandlung besserte sich der Zustand insoweit, dass eine inkomplette Querschnittslähmung mit einem inkompletten sensiblen Querschnittsyndrom ab TH 10 fortbestand. Die wiedererlangten motorischen Fähigkeiten befähigen den Kläger zu einem eigenständigen Transfer aus dem Rollstuhl mit einer kurzen Stehphase bei der Möglichkeit, sich mit dem Arm abzustützen. Frei stehen oder gehen an Gehhilfen ist jedoch nicht möglich, so dass der Kläger weiterhin vollständig rollstuhlpflichtig blieb. Er hat zwischenzeitlich sein Studium des internationalen Managements in N. wieder aufgenommen und steht kurz vor dem Abschluss. Der Kläger ist im Besitz eines Schwerbehindertenausweises mit einem Grad der Behinderung von 100 mit dem Merkzeichen "B", "G", "AG" und "H".

Der Beklagte holte ein neurochirurgisches Gutachten von Prof. Dr. M. vom B. L.-Krankenhaus in F. ein ein. Der Gutachter kam nach einer klinischen Untersuchung des Klägers unter Berücksichtigung des Entlassungsberichtes der Abteilung Neurologie des Klinikums B. vom 00.00.2002 und des neuroradiologischen Berichtes von Prof. Dr. U. (RWTH B.) vom 00.00.2002 in seinem Gutachten vom 00.00.2003 zum Ergebnis, dass der Kläger einen linksseitigen Infarkt des Wirbelkörpers BWK 10 erlitten habe. Ursächlich hierfür sei entweder eine Embolie, d. h. ein Verschluss des spinalis anterior-Systems oder eine Gefäßdissektion, d. h. ein Einriss eines Gefäßes der sich bis zu einem Gefäßverschluss ausweite. Der zeitliche Ablauf mit einer mehrstündigen Latenz zwischen initialem Schmerzereignis und dem Auftreten der Lähmungserscheinungen spreche mehr für die Diagnose einer Gefäßdissektion. Ein solches Szenario sei aber ohne vorbestehende Schäden nicht vorstellbar. Somit handele es sich bei dem Hebevorgang auf keinen Fall um eine wesentliche Ursache des Rückmarkinfarktes. Im Übrigen liege auch kein Unfallereignis, d. h. ein von außen auf den Körper einwirkendes schädigendes Ereignis vor.

Mit Bescheid vom 00.00.2003 lehnte der Beklagte die Anerkennung eines Arbeitsunfalles ab, weil kein Unfallereignis vorgelegen habe und darüber hinaus ein wesentlicher Zusammenhang zwischen dem Anheben der Kulissenwand und der später eingetretenen Querschnittslähmung nicht gegeben sei.

Im Widerspruchsverfahren holte der Beklagte ein Gutachten des Unfallchirurgen Dr. F. I. aus L. vom 00.00.2004 ein. Der Gutachter meinte, der Geschehensablauf enthalte kein einziges Merkmal eines Unfallgeschehens im Sinne des Gesetzes. Das Anheben einer größeren ca. 23 kg schweren Kulissenwand aus der Hockposition sei ein willentlich gesteuerter Vorgang. Auch die nunmehr im Widerspruchsverfahren abgegebene Version des Klägers zum Geschehenssablauf mit der Angabe, dass die Kulissenwand nach vorne zu kippen drohte und er zur Verhinderung dessen diese ruckartig hochgehoben habe, verändere immer noch nicht den entscheidenden Faktor, dass nämlich auch dieser Ablauf ein willentlich gesteuerter sei. Das Gewicht einer Kulissenwand von 23 kg stelle eine für das Alter und die muskelkräftige Ausbildung des untersuchten jungen Mannes eine gewöhnliche Belastung dar. Im Übrigen sei auch die haftungsausfüllende Kausalität nicht gegeben. Sowohl eine Embolie als auch eine Dissektion hätten mit einer von außen schädigend einwirkenden Gewalt überhaupt nichts zu tun.

Mit Bescheid vom 00.00.2004 wies der Beklagte den Widerspruch zurück mit der Begründung, es liege kein Arbeitsunfall vor, weil eine von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis erkennbar nicht stattgefunden habe. Auch sei ein Zusammenhang zwischen dem Anheben der Kulissenwand und der später eingetretenen Querschnittslähmung nach ärztlicher Einschätzung nicht gegeben.

Mit seiner am 00.00.2004 erhobenen Klage legt der Kläger eine schriftliche Stellungnahme des Arbeitsmediziners Dr. E. vom 00.00.2005 vor. In Ergänzung zu der Beschreibung des Unfallherganges in der Unfallanzeige des Grenzlandtheaters, des Berichtes der neurologischen Klinik vom 00.00.2002, des Gutachtens von Prof. Dr. M. vom 00.00.2003, der schriftlichen Unfallschilderung des Klägers vom 00.00.2003 und des Gutachtens von Dr. I. vom 00.00.2004 rekonstruierte Dr. E. nach Befragung des Klägers den Unfallhergang wie folgt: "Das zu hebende Requisit war eine Holzspanplatte mit der Abmessung 1,20 m breit und 2,40 m hoch, d. h. eine Gesamtfläche von 2,88 qm. Auf der Vorderseite war die Platte für das Publikum entsprechend bemalt und dekoriert. Die Platte lehnte schräg an der Bühne. Der Kläger packte die Platte beidseitig, ging mit den Knien in eine leichte Beuge und beugte sich mit dem Oberkörper zur Überbrückung der 120 cm Höhendifferenz tief herunter. Er versuchte die Platte auf dem Zuschauerboden gerade zu stellen, d. h. körperfern, dabei drohte die Platte zur anderen Seite umzufallen. Sie wäre dann mit der bemalten Frontseite hingefallen und hätte Schaden genommen. Aus diesem Grunde habe er dann die Platte ruckartig hochgerissen und in die Endposition mit nach hinten gebeugtem Oberkörper die Platte auf dem Podest abgestellt. Der Hebevorgang erfolgte körperfern im Wesentlichen aus dem Rücken heraus, da die Beine nur leicht angewinkelt waren und somit zum Hebevorgang nicht viel beitragen konnten." Dieses Ereignis sei geprägt von einer mehr als deutlich erhöhten Kraftanstrengung.

Der Kläger beanragt,

den Bescheid des Beklagten vom 14.10.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2004 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, das Ereignis vom 24.09.2002 als Arbeitsunfall anzuerkennen und Entschädigungsleistungen im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines neuro-radiologischen Gutachtens von Prof. Dr. U. (Medizinische Fakultät der RWTH B.) vom 00.00.2006 mit neurologischem Zusatzgutachten von Prof. Dr. O. (Neurologische Klinik der Medizinischen Fakultät der RWTH B.) vom 00.00.2006. In Übereinstimmung mit den vorhergehenden Gutachten nimmt Prof. Dr. U. als Ursache der Querschnittsymptomatik eine akute Durchblutungsstörung des Rückenmarks an. Nach Auswertung der bildtechnischen Befunde und des in den Akten dokumentierten klinischen Verlaufs der Erkrankung hält er eine fibrokartilaginäre Embolie für deutlich wahrscheinlicher als eine von Prof. Dr. M. in seinem Gutachten vom 00.00.2003 diskutierte spontane Gefäßdissektion. Die wesentliche Ursache der Embolie sieht er in der durch das Anheben der Kulissenwand hervorgerufenen axialen Belastung der Wirbelsäule. Zweifelsfrei handele es sich um eine akute Rückenmarksischämie in engem zeitlichen Zusammenhang zu der Arbeit als Bühnenarbeiter. Als häufig anzutreffende innere Ursachen hätten bei dem Kläger ein Bauchaortenaneurysma oder eine Gefäßfehlbildung ausgeschlossen werden können. Dieser Ausschluss sei durch eine Computertomographie und insbesondere durch die spinale Angiographie möglich gewesen. Klinisch sei eine fibrokartilaginäre Embolie durch initiale heftige Schmerzen (im Nacken oder Rücken abhängig vom Ort der Embolie), ein freies Intervall von 15 Minuten bis 48 Stunden zwischen Schmerzen und maximalen neurologischen Ausfällen sowie eine häufig nur schlechte Rückbildung der klinischen Symptome charakterisiert. In den meisten Fällen ließen sich in der Vorgeschichte in enger zeitlicher Beziehung axiale Belastungen der Wirbelsäule eruieren. In knapp 50 % der über 30 publizierten Fälle zwischen 1961 und 1993 seien selbst kleinere Traumen oder körperliche Anstrengungen mögliche Auslösefaktoren gewesen. Typische Anlässe seien axiale Belastungen verbunden mit einem Pressmanöver (sogenannte Valsala-Manöver, z. B. Handstand, Anheben eines Schrankes, Basketball, Ballettübung) gewesen. Favorisiert werde als Pathomechanismus der Übertritt von Knorpermaterial in die venösen Sinusiode des Wirbelkörpers. Durch den erhöhten intraossären Druck werde das Bandscheibenmaterial im epiduralen Venenplexus weitertransportiert, der über arterielle Kurzschlüsse mit dem arteriellen System des Rückenmarks kommuniziere. Eine rückenmarkversorgende Arterie sei allerdings nicht in jeder Wirbelkörperhöhe vorhanden. Erst beim Zusammentreffen all dieser seltenen Bedingungen könne ein Rückenmarksinfarkt entstehen. Das geschilderte Bedingungsgefüge erkläre aber gut die berichteten zeitlichen Latenzen zwischen initialem Schmerzereignis und der eigentlichen Embolie. Betroffen seien überwiegend jüngere Menschen mit einem mittleren Alter von 37 Jahren. Die Schwierigkeit des intravitalen Beweises eines solchen Unfallmechanismusses sei evident. Die in der Literatur mitgeteilten Fallbeispiele ließen aber keinen Zweifel daran zu, dass es unter speziellen Bedingungen zu einer Verschleppung von Bandscheibenmaterial in die Rückenmarkgefäße komme. Für den speziellen Fall des Klägers bedeute dies, dass die Latenz zwischen Schmerzen und Auftreten der Lähmung kein Argument gegen eine fibrokartilaginäre Embolie sei. Vielmehr stütze diese Latenz ebenso wie der weitere klinische Verlauf mit der nur schlechten Rückbildung der klinischen Symptome diese Kausalitätsbewertung. Dass mit dem Anheben der Kulissenwand axiale Belastungen der Wirbelsäule hervorgerufen würden, sei in der arbeitsmedizinischen Stellungnahme von Dr. E. hervorgehoben worden. Wichtig für diese Kausalitätsbewertung sei auch, dass sich spinal-angiographisch kein Hinweis auf eine anlagebedingte Gefäßfehlbildung, eine anlagebedingt stattgehabte Gefäßdissektion oder eine andere Pathologie der Aorta und deren nachgeschalteter Äste ergeben habe. Dies treffe in besonderer Weise für die 10. linksseitige thorakale Segmentarterie zu, die keinerlei Besonderheiten in der selektiven Kontrastmitteldarstellung aufweise. Dies sei insbesondere hervorzuheben, da der Wirbelkörperinfarkt eine Affektion der Segmentarterie annehmen lasse, d. h. des Gefäßes, das bei der spinalen Angiographie selektiv dargestellt wurde. Eine fibrokartilaginäre Embolie erscheine somit deutlich wahrscheinlicher als eine spontane Gefäßdissektion, die sich dann innerhalb von 8 Tagen ohne Gefäßwandveränderungen zurückgebildet haben müsste. Den vorbestehenden Veränderungen der Boden- und Deckplatten der Wirbelkörper komme keine Bedeutung für die Verursachung des Rückenmarkinfarktes zu.

Prof. Dr. O. hat als Folge der Ischämie eine inkomplette Querschnittssymptomatik mit einem sensiblen Niveau ab Th10, eine Paraparese der Beine sowie einer Blasen- und Mastdarmstörung festgestellt. Die MdE hat er mit 80 v. H. bewertet.

Der Beklagte verbleibt bei seiner Auffassung, das Anheben der Kulissenwand stelle eine, wenn auch erhebliche, so doch willentliche Kraftanstrengung dar und erfülle somit nicht den Begriff eines Unfalles als eines von außen auf den Körper wirkendes zeitlich begrenzten Ereignissses. Hierzu bezieht sich der Beklagte auf einen Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Augsburg vom 08.02.2006. Das Sozialgericht Augsburg sei mit zutreffender Begründung dem Urteil des BSG vom 12.04.2005 - B 2 U 27/04 R - nicht gefolgt. Dem Sozialgericht Augsburg lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger, Inhaber eines Kleintransportunternehmens verspürte Schmerzen in der Lendenwirbelsäule, als er einen Schrank von 120 kg zur Seite schob und versuchte, ihn wieder abzulassen. Welche Befunde und Diagnosen bei ihm im Einzelnen erhoben worden sind, ergibt sich aus dem Sachverhalt nicht. Das Sozialgericht hat dies auch nicht ermittelt, weil es in dem willentlichen Verschieben des Schrankes keinen Arbeitsunfall sah. Das Sozialgericht Augsburg meint, das BSG vermische den Unfallbegriff mit der haftungsausfüllenden Kausalität. Lasse sich ein hinreichend wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen Ereignis und dem Schaden herstellen, so gehe das BSG auch davon aus, dass das Ereignis, von dessen Existenz man zunächst nicht überzeugt war, als gegeben anzunehmen sei. Über einen hinreichend wahrscheinlichen Zusammenhang mit einem nicht nachgewiesenen aber fiktiv als gegeben angenommenen Ereignis würde man damit zum Vollbeweis eines zunächst nur fiktiv angenommenen, also gerade nicht nachgewiesenen, Ereignisses kommen. Abgesehen von der denklogischen Fraglichkeit dieser Argumentation würde dies letztlich auch dazu führen, dass die Beweisanforderungen an das Unfallereignis herabgesetzt würden und damit in derartigen Fällen die allgemeingültigen Beweisgrundsätze aufgeweicht würden. Das BSG unterscheide nicht zwischen dem Begriff des Arbeitsunfalles einerseits und der Kausalität andererseits.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide des Beklagten beschwert. Der Beklagte hat zu Unrecht die Anerkennung und Entschädigung des Ereignisses vom 24.09.2002 als Arbeitsunfall abgelehnt. Der Kläger hat Anspruch auf die Gewährung von Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung, denn als Folge eines Arbeitsunfalles besteht eine inkomplette Querschnittssymptomatik mit einem sensiblen Niveau ab Höhe Th10, einer Lähmung der Beine sowie einer Blasen- und Mastdarmstörung.

Nach § 8 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches Siebtes Buch (SGB VII) sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Die heutige Legaldefinition in § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII geht auf die jahrzehntealte Definition des Unfallbegriffs in Rechtsprechung und Literatur zurück (vgl. schon RGZ 21, 77, 78; Reichsversicherungsamt, Amtliche Nachrichten 1914, 617, 620 sowie BSGE 23, 139, 141 = SozR Nr. 1 zu § 555 RVO; BSGE 46, 283 = SozR 2200 § 539 Nr. 47; Bundestagdrucksache 13/2204 S. 77; Krasney in: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand: Januar 2005, § 8 Rn. 7). Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalles ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zurzeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass die Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat und letzteres einen Gesundheits(erst)schaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität). Das Entstehen von längerandauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheits(erst)schadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist nicht Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalles. Von diesen rechtlichen Voraussetzungen ausgehend hat am 24.09.2002 ein Arbeitsunfall stattgefunden.

Dass der als Kulissenschieber tätige Kläger bei dem Aufbau der Kulissen eine Tätigkeit ausgeübt hat, die in sachlichem Zusammenhang mit seiner versicherten Tätigkeit stand, ist unstrittig. Diese Verrichtung - das Anheben der Kulissenwand von dem Fußboden der Realschule auf das 1,20 m hohe Podest - hat bei dem Kläger zu einer zeitlich begrenzten Einwirkung von außen - dem Unfallereignis - geführt. Ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis dient der Abgrenzung zu Gesundheitsschäden aufgrund von inneren Ursachen, wie Herzinfarkt, Kreislaufkollaps usw., wenn diese während der versicherten Tätigkeit auftreten, sowie zu vorsätzlichen Selbstschädigungen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes zum Dienstunfallrecht erfüllt das Merkmal äußere Einwirkung ebenfalls lediglich den Zweck, äußere Vorgänge von krankhaften Vorgängen in dem inneren des menschlichen Körpers abzugrenzen (BSG SozR 2200 § 550 Nr. 35, Urteil vom 29.02.1984 - 2 RU 24/83 - sowie zum Dienstunfall: BVerwGE 17, 59, 61 f). Die Unfreiwilligkeit der Einwirkung bei dem, den das Geschehen betrifft, gehört ebenfalls zum Begriff des Unfalles, weil ein geplantes willentliches Herbeiführen einer Einwirkung dem Begriff des Unfalls widerspricht (BSGE 61, 113, 115 = SozR 2200 § 1252 Nr. 6 S. 20). Hiervon zu unterscheiden sind jedoch die Fälle eines gewollten Handelns mit einer ungewollten Einwirkung, bei dieser liegt eine äußere Einwirkung vor (Keller in: Hauck, Sozialgesetzbuch, SGB VII, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand: Januar 2000, § 8 Rn. 14; und zu dem gesamten Vorstehenden: BSG Urteil vom 12.04.2005 - B 2 U 27/04 R -). Wenn das BSG in der zuletzt genannten Entscheidung die Fälle eines gewollten Handelns mit einer ungewollten Einwirkung als Unfälle ansieht, stellt es hierbei auf die ungewollte Einwirkung auf den Körper bzw. seiner einzelnen Organe ab. Auf den vorliegenden Fall bezogen bedeutet dies, dass die durch das Heben der schweren Kulissenwand bedingte axiale Belastung auf die Wirbelsäule Bandscheibenmaterial in das spinale Gefäßsystem presst. Diese Einwirkung ist selbstverständlich ungewollt, ebenso wie es unbestritten ungewollt ist, dass ein Sägewerker, der nicht nur ein Stück Holz absägt, sondern auch unbeabsichtigt seinen Daumen, die Abtrennung seines Daumens nicht gewollt hat. Gleiches gilt für äußere Einwirkungen, deren Folgen wie im vorliegenden Fall nicht äußerlich sichtbar sind, sondern sich als Druck z. B. auf Gefäße auswirken.

Die Kritik des Sozialgerichts Augsburg an dem Urteil des BSG vom 12.04.2005 (a. a. O.), das BSG vermische das schädigende Ereignis mit der haftungsausfüllenden Kausalität, vermag die erkennende Kammer nicht nachzuvollziehen. Im vom BSG entschiedenen Fall versuchte ein Steinmetz beim Abräumen einer Grabstätte einen etwa 70 kg schweren festgefrorenen Stein hochzuheben; während dieser Kraftanstrengung verspürte er einen stechenden Kopfschmerz und erlitt eine Subarachnoidalblutung des Gehirns. Seit dem Ereignis leidet er an einer arteriellen Hypertonie sowie weiteren Folgeerkrankungen. Das BSG hat in der mit dem Anheben des Steines verbundenden Kraftanstrengung den Begriff des Unfalles als erfüllt angesehen. Das versuchte Anheben des Steines habe bei dem Kläger zu einer zeitliche begrenzten Einwirkung von außen - dem Unfallereignis - geführt. Das BSG bezeichnet die Kausalität zwischen dem von außen auf den Körper einwirkenden Ereignisses und dem Gesundheitserstschaden als haftungsbegründende Kausalität. Erst das Entstehen von längerandauernden Unfallfolgen aufgrund dieses Gesundheitserstschadens wird als haftungsausfüllende Kausalität bezeichnet. Die haftungsausfüllende Kausalität ist nicht Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalles und das BSG schließt auch nicht von der haftungsausfüllenden Kausalität auf das Vorliegen eines Arbeitsunfalles. Demgegenüber setzt die haftungsbegründende Kausalität drei Komponenten , nämlich die Feststellung eines von außen auf den Körper einwirkenden Ereignisses - des Unfallereignisses - ,die Feststellung des Gesundheitserstschadens (beide Tatbestandsvoraussetzungen müssen mit Vollbeweis bewiesen sein) und die Kausalität zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitserstschaden ( haftungsbegründende Kausalität) voraus. Diese drei Begriffsmerkmale (Unfallereignis, Gesundheitserstschaden und Kausalität zwischen beidem) gehören zum Begriff des Arbeitsunfalles, so wie ihn das BSG definiert ...Die erkennende Kammer vermag nicht zu erkennen, inwieweit man diese einzelnen Begriffe miteinander vermischen kann, wenn sie doch sämtlich vorliegen müssen, damit der Begriff des Arbeitsunfalles erfüllt ist. Hat ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis gar keinen Gesundheitserstschaden verursacht oder liegt keine Einwirkung von außen vor oder ist kein Erstschaden feststellbar, kann ein Arbeitsunfall nicht vorliegen. Da in Fällen, wie dem vorliegenden, eine von außen nicht sichtbare Einwirkung auf den Körper zu beurteilen ist, kann in den (unklaren) Fällen einer solchen nur von innen sichtbaren Einwirkung (jedenfalls bei noch lebenden Personen) nicht ohne die eigentlich erst in einem weiteren Schritt zu prüfende Ursachenbeurteilung festgestellt werden, ob eine und welche äußere Einwirkung vorliegt. Die äußere Einwirkung liegt - im vorliegenden Fall ebenso wie in dem von dem BSG am 12.04.2005 entschiedenen Fall - in der (unsichtbaren) Kraft, die dazu führt, dass Knorpelmaterial aus der Bandscheibe in die venösen Sinusiode des Wirbelkörpers übertritt.

Prof. Dr. U. hat in seinem Gutachten einleuchtend und nachvollziehbar dargelegt, dass axiale Belastungen verbunden mit einem Pressmanöver (z. B. Anheben eines Schrankes) typische äußere Einwirkungen sind, die den Pathomechanismus des Übertritts von Knorpelmaterial in das venöse System des Wirbelkörpers in Gang setzt. Dementsprechend führt das beabsichtigte Anheben der Kulissenwand mit dem damit einhergehenden Pressmanöver und der axialen Belastung der Wirbelsäule zu einer zeitlich begrenzten äußeren Einwirkung auf bestimmte Teile bzw. Organe des Körpers des Klägers, nämlich auf das Bandscheibenmaterial von Th10.

Dass der Kläger beim Anheben der 23 kg schweren sperrigen Kulissenwand aus einer Position, die 1,20 m unter ihm lag, eine erhebliche Kraftanstrengung unternommen hat, wird auch von dem Beklagten nicht bestritten. Welche Kraft der Kläger aufgewandt hat, ist in der arbeitsmedizinischen Stellungnahme von Dr. E. beschrieben. Dabei ist es aus Sicht der Kammer unerheblich, ob der Kläger in der von Dr. E. beschriebenen Position, nämlich mit den Knien in einer leichten Beugung und mit vorgebeugtem Oberkörper zur Überbrückung der 1,20 m Höhendifferenz die Kulissenwand von 1,20 Breite rechts und links fassend hochgehoben oder ruckartig hochgerissen hat und in die Endposition mit nach hinten gebeugtem Oberkörper auf dem Podest abgestellt hat. Der Hebevorgang körperfern im Wesentlichen aus dem Rücken heraus war in beiden Fällen geprägt von einer mehr als deutlich erhöhten Kraftanstrengung, was von dem Beklagten auch nicht bestritten wird. Auf die Unterscheidung zwischen willentlich oder nicht willentlicher Kraftanstrengung beim Heben oder ruckartigen Hochreißen der Kulissenwand kommt es aus den oben dargestellten Gründen schon rein rechtlich nicht an, da auch der willentliche Hebevorgang den Unfallbegriff erfüllt. Doch selbst wenn es auf die Abgrenzung zwischen willentlicher oder unwillentlicher Kraftanstrengung ankäme, vermag die Kammer der Ansicht des Beklagten, das ruckartige Hochreißen der Last stelle anders als das Heben derselben Last keine willentliche Kraftanstrengung dar mit der Folge, dass der Unfallbegriff zu bejahen sei, nicht beizupflichten. Insofern hat bereits Dr. I. ausgehend von seiner rechtlichen (und daher unerheblichen) Argumentation richtig darauf hingewiesen, dass das ruckartige Hochheben immer noch nicht den entscheidenden Faktor verändere, nämlich dass auch diese Variante eine willentlich gesteuerte sei. Die Kammer könnte dem Beklagten höchstens darin beipflichten, dass, wäre die Kulissenwand abgekippt und in die ausgestreckten Arme des Klägers gefallen, man hier von einer nicht willentlichen Kraftanstrengung ausgehen kann. Einen solchen Hergang hat der Kläger jedoch zu keiner Zeit geschildert. Auch hat er immer angegeben, dass er bei dem Vorgang des (ruckartigen) Hochhebens den messerstichartigen Schmerz im Rücken verspürt hat. Das Heben eines Gegenstandes, unabhängig davon, ob es langsam oder schnell oder ruckartig oder in Intervallen geschieht, ist immer ein willentlicher Vorgang. Auch wenn sich jemand an einem Reck hochzieht, ist dies immer eine willentliche Kraftanstrengung, unabhängig davon, ob er sich langsam oder schnell oder mit einem Ruck hochzieht.

Das Heben der Last war auch wesentliche Ursache für die Rückenmarksischämie des Klägers , welche wiederum wesentliche Ursache für die spätere Querschnittssymptomatik war. Prof. Dr. U. hat in seinem Gutachten vom 00.00.2006 nachvollziehbar erläutert, wie es durch die axiale Belastung verbunden mit einem Pressmanöver zu einer Wanderung von Bandscheibenmaterial in das spinale Gefäßsystem kommt. Auch wenn der genaue Mechanismus noch nicht definitiv aufgeklärt und komplizierter als eine einfache direkte Embolie in die das Rückenmark versorgenden Arterien ist, sind genügend Fälle bekannt, die es zulassen, die Pathogenese schlüssig zu erklären. Das Gericht hält die diesbezüglichen Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. U. für nachvollziehbar und überzeugend und auch der Beklagte bestreitet weder die haftungsausfüllende Kausalität (Verursachung der Querschnittssymptomatik durch akute Durchblutungsstörungen des Rückenmarks) noch die haftungsbegründende Kausalität (Embolie durch Heben der Kulissenwand). Da Prof. Dr. U. im Übrigen auch keinerlei Hinweise für anlagebedingte Veränderungen krankhafter Art wie Gefäßfehlbildungen, stattgehabte Gefäßdissektion oder Bauchaortenaneurysma sichern konnte, sondern im Gegenteil alle diese anlagebedingten Veränderungen, die ebenfalls ein derartiges Geschehen in Gang setzen könnten, ausgeschlossen hat, bestehen an der alleinigen Ursache in Form des Hebens der Kulissenwand keine Zweifel. Andere konkurrierende Ursachen liegen nicht vor, so dass es auf ein Abwägen verschiedener Ursachenbeiträge nach der Theorie der wesentlichen Bedingung gar nicht ankommt.

Da nach alledem die angefochtenen Bescheide rechtswidrig sind und die bei dem Kläger bestehende Querschnittssymptomatik mit den entsprechenden Folgeerscheinungen Folge des Arbeitsunfalles vom 24.09.2002 ist, war der Beklagte - entsprechend dem zuletzt gestellten Antrag - durch Grundurteil (§ 130 SGG) zu verurteilen, wegen der vorgenannten Unfallfolgen Entschädigungsleistungen zu gewähren. Über die Leistungen im Einzelnen, insbesondere den Beginn und die Höhe der Verletztenrente wird der Beklagte noch befinden haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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